Wien (hofburg) - Am Abend des 1.Jänner hielt Bundespräsident Heinz Fischer die traditionelle
Neujahrsansprache im ORF-Fernsehen, die wir Ihnen nachfolgend im Wortlaut vermitteln wollen:
Guten Abend,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Vor knapp 20 Stunden hat das Jahr 2008 begonnen.
Ich setze viele Hoffnungen in dieses Neue Jahr und wünsche mir, dass es für jeden Einzelnen von Ihnen
und für unser ganzes Land ein gutes und friedliches Jahr wird; ein Jahr, in dem Sie Zeit für Ihre Familie,
für Ihre Mitmenschen und für sich selbst haben.
Einer meiner Wünsche ist aber ein ganz spezieller:
Ich wünsche mir, dass wir der Tendenz, bei wichtigen Themen immer mehr schwarz/weiss zu malen und immer weniger
zu einer differenzierten Betrachtung bereit zu sein, gemeinsam entgegenwirken.
Der frühere österreichische Bundeskanzler Dr. Fred Sinowatz hat einmal im Parlament von der Regierungsbank
aus gesagt: es ist alles sehr kompliziert.
Er wurde für diesen Satz oft gescholten und sogar ausgelacht.
In Wahrheit hat er meiner Meinung nach etwas sehr Richtiges gesagt:
Die meisten Themen und Probleme auf unserer politischen und gesellschaftlichen Tagesordnung sind tatsächlich
sehr komplex und nicht nach einem simplen Schwarz-Weiss- Schema zu beantworten. Darauf sollten wir Bedacht nehmen.
Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
Ich denke, wir können außer Streit stellen, dass sich unser Land auch im Jahr 2007 insgesamt gut entwickelt
hat.
Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, unsere Wirtschaft und vor allem die Exporte sind dank gemeinsamer Anstrengungen
eindrucksvoll gewachsen, und auf dieser Basis konnten auch im Bereich der sozialen Sicherheit wichtige Maßnahmen
in Angriff genommen werden.
Allerdings kann ich auch kritische Stimmen nicht überhören, wenn ich mit den Menschen in unserem Land
spreche.
So findet es zum Beispiel wenig Verständnis, wenn sich die Regierungsparteien bei manchen Themen gegenseitig
öffentlich Vorhaltungen machen, anstatt an einem Strang zu ziehen;
oder wenn zwei Fünftel aller Gesetze, die im Jahr 2007 beschlossen wurden, erst in den letzten drei Sitzungstagen
im Dezember auf der Tagesordnung des Nationalrates standen und daher unter großem Zeitdruck verhandelt wurden.
Das kann der Qualität der Gesetze nicht förderlich sein.
Es wäre wichtig, daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Und vor allem sollten wir versuchen, verstärkt
das Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen und über das, was uns trennt, in sachlicher Weise zu diskutieren.
Das gilt auch für das Thema Europa:
Für manche in unserem Land ist der neue europäische Reformvertrag, der von allen 27 Mitgliedstaaten der
EU gemeinsam ausgearbeitet wurde, eine Bedrohung für unsere Souveränität und die Wurzel zahlreicher
Übel.
Andere wieder sehen in diesem Vertrag fast so etwas wie eine Wunderdroge zur Lösung der europäischen
Probleme.
Also auch hier die Gefahr einer schwarz/weiss Betrachtung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Dieser Reformvertrag enthält durchaus vernünftige Zielsetzungen. Er hat insbesondere das Ziel, die Union
weniger schwerfällig zu machen, die Position Europas im weltweiten Wettbewerb zu stärken, und einen gemeinsamen
Grundrechtskatalog in Kraft zu setzen.
Er wird die Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten der EU nicht beseitigen, und unsere Neutralität
wird im Jahr 2010 die gleiche sein, wie sie es z.B. im Jahr 2005 war.
Wir sollten diesen EU-Vertrag aber auch nicht als Patentrezept zur Lösung aller europäischen Probleme
betrachten.
Er ist ein Kompromiss zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in den Erfahrungen Eingang gefunden
haben, die auf dem Gebiet der Europäischen Zusammenarbeit in den letzten Jahren gemacht wurden, und der die
künftige Zusammenarbeit erleichtern soll.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wo unser Land in einigen Jahren stehen wird, hängt letzten Endes davon ab, was wir im Neuen Jahr und in
den nachfolgenden Jahren zustande bringen, und wie wir unsere gemeinsamen Aufgaben bewältigen.
- Wir haben z.B. die Aufgabe, Rückenwind für Wissenschaft und Forschung zu schaffen, bzw. zu verstärken
und für unsere Jugend das beste Bildungssystem zu organisieren.
- Wir müssen das Potential der weiblichen Hälfte unserer Bevölkerung im Sinne realer Gleichberechtigung
voll zur Geltung bringen.
- Wir müssen bemüht sein, die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft weiter zu steigern, aber gleichzeitig
den wirtschaftlichen Ertrag gerecht zu verteilen, denn die Bedachtnahme auf soziale Gerechtigkeit ist eine entscheidende
Vorraussetzung für die Qualität und Stabilität unserer Gesellschaft.
- Und auch unsere ökologische Verantwortung darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Bemühen um Fairness und um eine entsprechende politische Kultur wird uns bei der Erfüllung dieser
und anderer Aufgaben helfen.
Apropos Fairness: Ich wünsche uns auch eine spannende Fußballeuropameisterschaft, die gut für den
Sport und gut für Österreich ist.
Ihnen und Ihren Angehörigen darf ich nochmals ein gutes und friedliches Jahr 2008 wünschen und bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit.
|