Quanteneffekte in der Stabilität der Materie experimentell beobachtet: Forscher des Stefan-Meyer-Instituts
für subatomare Physik der ÖAW an Untersuchungen beteiligt
Wien (öaw) - Seit der Entdeckung der Radioaktivität haben Wissenschaftler versucht die
Zerfallswahrscheinlichkeit der Kerne und somit die Stabilität der Materie zu ändern. Ziele waren grundsätzliche
Untersuchungen des Kernzerfalls sowie astrophysikalischer Prozesse bei hohen Temperaturen in Sternen, aber auch
Anwendungen wie die Umwandlung von radioaktivem Abfall in stabile Kerne. Kleine Änderungen, bis zu einigen
Prozent, wurden durch Änderungen von Druck Temperatur und chemischer Bindung erreicht, größere
erfolgten bei starker Ionisation der Atome infolge der Modifizierung der Elektronendichte im Kern.
Einen faszinierenden Effekt bei der Zerfallswahrscheinlichkeit von Praseodym-Kernen, Kernen eines Seltenerdmetalls,
konnte ein internationales Physikerteam unter Beteiligung einer Gruppe des Stefan-Meyer-Instituts für subatomare
Physik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Technischen Universität München
unter Leitung von Paul Kienle erzielen. Das überraschende an dem Experiment war, dass Praseodym-Ionen mit
einem Elektron eineinhalb mal schneller zerfielen als Praseodym-Ionen mit zwei Elektronen in der K-Schale (innerste
Schale im Atom rund um den Atomkern). Kerne mit einem Elektron in der K-Schale zerfallen also schneller als solche
mit zwei Elektronen oder ein neutrales Praseodym-Atom mit 59 Elektronen. Ein Paradoxon: "Weniger ist mehr"
bei radioaktiven Zerfällen. Publiziert wurden die Ergebnisse kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift
*Physical Review Letters" (Phys. Rev. Lett. 99, 262501 (2007).
Neuer Zerfallsprozess erstmals in den 1990er Jahren entdeckt
Ein Durchbruch in der Erforschung der Zerfallsprozesse von Atomen gelang in den 1990er Jahren an der Gesellschaft
für Schwerionenforschung in Darmstadt (GSI), als Ionen, elektrisch geladene Atome, nahezu auf Lichtgeschwindigkeit
beschleunigt wurden. Beim Durchschuss einer Metallfolie gingen alle Elektronen dieser Ionen verloren. Bei der Aufsammlung
dieser Ionen in einem magnetischen Speicherring und der Untersuchung ihrer Eigenschaften wurde ein neuer Zerfallsprozess
entdeckt, der so genannte ß-Zerfall zu gebundenen, ursprünglich unbesetzten, Elektronenzuständen
des Tochterkerns.
Neutrale Dysprosium-Atome mit der Massenzahl 163 kommen als "Seltene Erde" in der Natur vor und sind
nicht radioaktiv. Streift man alle Elektronen ab, so zerfallen sie unter Umwandlung eines Neutrons in ein Proton.
Das dabei entstehende Elektron wird in der leeren K-Schale des Holmium-Ions gebunden. Holmium ist ebenfalls ein
Metall, das den "Seltenen Erden" zugerechnet wird. Ein Antineutrino trägt die dabei freiwerdende
Energie weg. Das neutrale Dysprosium-Atom wird also nach Entfernung aller Elektronen radioaktiv und zerfällt
mit einer Halbwertszeit von 43 Tagen in Holmium. Ein solcher Zerfallsprozess findet tatsächlich im hoch ionisierten
Plasma von Sternen statt. "Die neuen Erkenntnisse erlauben es, Vorgänge, die normalerweise in Sternen
ablaufen, im Labor nachzuvollziehen", erklärt Paul Kienle, Stefan-Meyer-Institut für subatomare
Physik der ÖAW.
Astrophysikalische Vorgänge im Labor nachstellen
Das internationale Forscherteam um Paul Kienle untersuchte im Speicherring der GSI den zum ß-Zerfall
zur K-Schale zeitumgekehrten Zerfall mit neutronenarmen Praseodym-Kernen der Masse 140 (140Pr), die ein oder zwei
Elektronen in der K-Schale besitzen. Dabei wird ein Elektron aus der K-Schale vom 140Pr Kern eingefangen, ein Proton
wandelt sich um in ein Neutron, es entsteht ein vollkommen ionisierter Cerium Kern der Masse 140 (140Ce) und ein
Neutrino trägt die Zerfallsenergie weg. Bei dem Experiment kam es zu dem unerwarteten Ergebnis, dass Praseodym-Ionen
mit einem Elektron eineinhalb mal schneller zerfielen als Praseodym-Ionen mit zwei Elektronen in der K-Schale.
Erklärt kann das Paradoxon mithilfe der Regeln der Quantenstatistik werden. Solche quantenphysikalische Anomalitäten
in radioaktiven Zerfällen kommen auf Grund der Spinstatistik, die auf den Physiker Enrico Fermi zurückgeht
(Fermistatistik), dem "Pauliverbot" ("Ausschließungsprinzip", entdeckt vom österreichischen
Nobelpreisträger Wolfgang Pauli) und der Drehimpulserhaltung in der Natur in den heißen Plasmen von
Sternen vor. Erstmals können sie jetzt mit hochionisierten Kernen in Speicherringen im Labor untersucht werden. |