Gusenbauer: Scheitern des Vertrags würde niemandem helfen
Wien (pk) - Der Verfassungsausschuss des Nationalrats setzte am 27.02. seine Beratungen über
den EU-Reformvertrag fort. Nach den umfangreichen Expertenhearings Anfang Februar diskutierten die Abgeordneten
nunmehr mit Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und Außenministerin Ursula Plassnik. Sowohl Gusenbauer als auch
Plassnik hoben dabei die Vorteile des Vertrags für die europäische Integration hervor und widersprachen
der Befürchtung der FPÖ, dass dieser die österreichische Neutralität gefährde. Auch in
den Expertenhearings sei der Reformvertrag positiv beurteilt worden, betonte der Kanzler, er wisse nicht, wem geholfen
wäre, wenn der Reformvertrag scheitern würde. Ein neuerlicher Anlauf würde seiner Einschätzung
nach mit Sicherheit zu einem schlechteren Ergebnis führen.
Seitens der Abgeordneten sahen SPÖ, ÖVP und Grüne ihre Position zum Reformvertrag durch die Expertenhearings
bestätigt, die FPÖ beharrte auf der Durchführung einer Volksabstimmung. Aufgrund des verlängerten
Ministerrats hatte die Ausschusssitzung verspätet begonnen, eine Fortsetzung der Beratungen ist für den
25. März in Aussicht genommen.
Eingeleitet wurde die Diskussion im Ausschuss durch Stellungnahmen von Bundeskanzler Gusenbauer und Außenministerin
Plassnik. Gusenbauer zeigte sich dabei über die intensiven parlamentarischen Beratungen zum Reformvertrag
erfreut und machte darauf aufmerksam, dass auch das Interesse der Bevölkerung am Vertrag hoch sei. Deshalb
habe die Regierung auch eine Informationsoffensive gestartet, skizzierte er und berichtete unter anderem, dass
rund 3.000 umfassende Informationspakete versandt worden seien.
Gusenbauer zufolge haben in der Zwischenzeit fünf Mitgliedsstaaten der EU den Vertrag ratifiziert, in den
meisten Staaten sei die Ratifikation noch vor dem Sommer vorgesehen. Auch das Europäische Parlament habe sich
in einer Resolution mit 525 zu 115 Stimmen für den Vertrag ausgesprochen.
Der Vertrag sei nicht zu hundert Prozent ideal, räumte Gusenbauer ein, alle Kernanliegen seien aber verwirklicht
worden. Der Kanzler verwies etwa auf die Stärkung der sozialen Dimension der EU, die Rechtsverbindlichkeit
der Grundrechts-Charta, die Stärkung der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments sowie
auf die Verbesserung der Vertragsgrundlage im Kampf gegen den Klimawandel. Ebenso bleibe der besondere Charakter
der österreichischen Neutralität im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gewahrt,
versicherte er. Die "EU der 27" werde, so Gusenbauer, in demokratischer Weise funktionsfähiger gemacht.
Außenministerin Plassnik machte geltend, dass mit dem Reformvertrag das Ergebnis eines insgesamt sechsjährigen
Arbeitsprozesses vorliege. Ihrer Ansicht nach bringt der Vertrag ein Mehr an Demokratie, ein Mehr an Klarheit und
ein Mehr an Sicherheit. So führe etwa das System der doppelten Mehrheit zu einer besseren Balance zwischen
kleinen und großen EU-Staaten, meinte sie. Zudem sei die EU in Zukunft "keine Sackgasse mehr",
es könnten nicht nur wie bisher Kompetenzen an Brüssel abgegeben, sondern von Brüssel auch wieder
an die Nationalstaaten zurückverlagert werden. Gleichzeitig bleibe in Fragen der Sicherheitspolitik, der Steuerpolitik
und der Bewirtschaftung der Wasserressourcen das Einstimmigkeitsprinzip erhalten.
Als "rot-weiß-rote Handschrift" im Vertrag nannte Plassnik u.a. die Stärkung der parlamentarischen
Komponente in der EU, zu der auch der neue Frühwarnmechanismus zur Subsidiaritätskontrolle zählt,
die Einführung des Europäischen Volksbegehrens, die neuen Rechtsgrundlagen für die europäische
Energiepolitik und der neue Klimaschutz-Passus. Für diese Punkte habe sich Österreich besonders eingesetzt,
umriss sie.
Zur Informationsoffensive der Regierung merkte Plassnik an, es gehe nicht nur darum, die Bevölkerung über
den Reformvertrag zu informieren, sondern die Menschen auch generell dafür zu sensibilisieren, "wo überall
EU drinnen ist".
Im Rahmen der anschließenden Diskussion bekräftigte Abgeordneter Reinhard Eugen Bösch (F) die Forderung
der FPÖ nach Abhaltung einer Volksabstimmung über den Reformvertrag. Seiner Ansicht nach müsste
eine solche zwingend durchgeführt werden, weil die österreichische Verfassungsrealität durch den
Vertrag "grundsätzlich und gravierend verändert wird". Einige Experten hätten dieses Argument
in den Hearings untermauert, betonte er. Als bedenklich wertete Bösch in diesem Zusammenhang etwa den vorgesehenen
Vorrang des Unionsrechtes vor nationalem Recht und die Solidaritätsklausel.
Bösch zeigte sich davon überzeugt, dass die immerwährende Neutralität Österreichs, wie
sie in der Verfassung steht, nicht mehr existent ist. Durch die Teilnahmemöglichkeit jedes EU-Landes an internationalen
Einsätzen der Europäischen Union wird sie seiner Auffassung nach weiter ausgehöhlt. Es wäre
ehrlicher, der österreichischen Bevölkerung zu sagen, dass die immerwährende Neutralität durch
eine selektive Neutralität abgelöst werde, konstatierte er.
Besonders kritisch äußerte sich Bösch überdies darüber, dass im Reformvertrag, wie er
meinte, viele Elemente verschleiert würden. Der Vertrag sei viel weniger klar als die ursprüngliche EU-Verfassung,
bemängelte er. So werde etwa der Vorrang des Unionsrechts nicht mehr explizit erwähnt, jedoch durch eine
Anmerkung zum Vertrag dennoch bestätigt. Dieses Vorrangsprinzip wirkt sich Bösch zufolge vor allem auf
kleinere EU-Länder wie Österreich "dramatisch" aus, wobei er als ein Beispiel den Bereich Gentechnik
erwähnte.
Abgeordnete Elisabeth Grossmann (S) wandte ein, dass die Probleme der Gegenwart und der Zukunft immer weniger vor
Landesgrenzen halt machten. Sie sieht die europäischen Länder mit gemeinsamen Problemen wie dem Klimawandel
oder der wirtschaftlichen Globalisierung konfrontiert, welche eine gemeinsame Lösung brauchten. Die Bevölkerung
sei zurecht damit unzufrieden, dass sich die EU in der Vergangenheit auf die wirtschaftliche Integration konzentriert
habe, sagte Grossmann, jetzt erhalte die EU aber zusätzlich eine soziale und eine ökologische Dimension
und werde gleichzeitig demokratischer. Dem könne man, so Grossmann, nur zustimmen.
Abgeordneten Bösch verwies Grossmann auf die Expertise des Verfassungsexperten Theo Öhlinger, der darauf
aufmerksam gemacht habe, dass durch die so genannte "Irische Klausel" die österreichische Neutralität
künftig direkt in den EU-Verträgen abgesichert sei und damit besonders respektiert werde. Überdies
hätten alle namhaften Verfassungsjuristen Österreichs bestätigt, dass durch den Reformvertrag keine
Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung erfolge, unterstrich sie. Der EU-Reformvertrag biete
weder Anlass für überzogene Erwartungen, noch Anlass für übertriebene Befürchtungen, fasste
Grossmann zusammen.
Zweiter Nationalratspräsident Michael Spindelegger (V) verwies darauf, dass der Ratifizierungsprozess in allen
EU-Ländern rasch voranschreite. Das habe sich auch bei einem Treffen von Vertretern der nationalen Parlamente
in Laibach gezeigt. Er habe dort auch beobachtet, dass in den nationalen Parlamenten ein neues Selbstbewusstsein
im europäischen Prozess im Entstehen sei, skizzierte er. Spindelegger hob darüber hinaus die besondere
Bedeutung von Informationsarbeit hervor und kündigte in diesem Zusammenhang eine weitere Informationsveranstaltung
des Parlaments zum EU-Reformvertrag am 2. April an. Das Thema wird "Sicherheit und Neutralität"
sein.
Grünen-Chef Alexander Van der Bellen erklärte, die positive Haltung der Grünen zum EU-Reformvertrag
habe sich durch die Expertenhearings Anfang Februar noch "deutlich verstärkt". Bei den Hearings
sei klar herausgekommen, dass der Reformvertrag deutliche Fortschritte zum Status quo bringe und keine verfassungsrechtlichen
Bedenken gegen den Vertrag bestünden, unterstrich er.
Verwundert zeigte sich Van der Bellen darüber, dass Europaabgeordnete der SPÖ und der ÖVP vor kurzem
in Brüssel gegen die Einführung einer Europäischen Volksabstimmung votiert hätten, obwohl die
Bundesregierung ein solches Instrument immer befürwortet habe. Als dringend notwendig wertete er überdies
eine Reform des Euratom-Vertrags.
Abgeordneter Andreas Schieder (S) führte aus, er sei "sehr, sehr froh", dass es gelungen sei, die
Vertragsgrundlagen der EU zu reformieren und die Handlungsfähigkeit der Union zu stärken. Damit könne
sich die Union in Zukunft wieder stärker politischen Aufgaben zuwenden, sagte er.
Die österreichische Neutralität wird Schieder zufolge durch den EU-Reformvertrag doppelt abgesichert.
Zum einen werde ausdrücklich festgehalten, dass Missionen und Einsätze der EU im Einklang mit den Grundsätzen
der Vereinten Nationen stehen müssten, zum anderen stelle die "Irische Klausel" sicher, dass der
besondere Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzelner Mitgliedsstaaten unberührt bleibe.
Bedauern äußerte Schieder darüber, dass Informationen über Europa meist nur anlassbezogen
erfolgten und die EU nicht permanent Thema in der Öffentlichkeit sei.
Abgeordneter Franz Morak (V) sieht die Notwendigkeit, die Grundstimmung in Österreich in Bezug auf die EU
zu verbessern. Das Thema Europa müsse so abgehandelt werden, dass es von den Menschen nachvollziehbar sei,
betonte er. Man müsse "die Herzen und den Bauch" der Bürger erreichen. Besonders gefordert
ist nach Ansicht Moraks in diesem Zusammenhang der ORF.
Abgeordneter Robert Aspöck (F) wollte sich der positiven Beurteilung des EU-Reformvertrags nicht anschließen.
Je blumiger und euphorischer die Ausführungen würden, desto unschärfer würden die Argumente,
formulierte er. Aspöck erinnerte zudem an eine Aussage des Sozialrechtsexperten Wolfgang Mazal im Hearing,
wonach das bestehende Sozialniveau in Österreich gefährdet sei.
Abgeordnete Ulrike Lunacek (G) hielt den Ausführungen Aspöcks entgegen, die von ihm zitierten Ausführungen
Mazals hätten sich nicht auf den Reformvertrag bezogen. Gleichzeitig verwies sie die FPÖ darauf, dass
die nationalen Parlamente durch den Reformvertrag stärker in den europäischen Prozess eingebunden würden.
In Zukunft werde es nicht mehr so leicht möglich sein, alle Schuld an die EU abzuschieben, konstatierte sie.
Von den Regierungsmitgliedern wollte Lunacek wissen, wie hoch sie die Wahrscheinlichkeit eines militärischen
Kerneuropas beurteilten und ob eine Teilnahme Österreichs an einem solchen militärischen Kerneuropa auszuschließen
sei.
Abgeordneter Martin Graf (F) zeigte sich in Bezug auf die dargestellten Vorteile des EU-Reformvertrags wie sein
Fraktionskollege Aspöck skeptisch. Auch in der Vergangenheit habe es immer wieder Ankündigungen und Versprechungen
gegeben, die dann nicht eingetreten seien, machte er geltend und nannte als ein Beispiel die Frage der Abschaffung
der Benes-Dekrete.
Abgeordneter Karl Donabauer (V) ortet ein "enormes Wahrnehmungsdefizit" in der Bevölkerung. Die
EU werde nicht so wahrgenommen, wie es angemessen wäre, unterstrich er. Donabauer urgierte eine bessere Information
der Bürgerinnen und Bürger über die Vorteile der EU, eine Ansicht, die auch Abgeordnete Marianne
Hagenhofer (S) vertrat.
Abgeordnete Sonja Ablinger (S) machte geltend, dass die Experten in den Hearings die einhellige Meinung vertreten
hätten, dass der EU-Reformvertrag Fortschritte in Bezug auf das demokratische Prinzip und in Bezug auf Transparenz
bringe. Natürlich könne man sich immer mehr wünschen, meinte sie, es sei jedoch eindeutig, dass
es zu Verbesserungen gegenüber dem Status quo komme. Den Reformvertrag abzulehnen, würde, so Ablinger,
heißen, für weniger Mitbestimmung und weniger Kontrolle einzutreten. In Richtung FPÖ stellte Ablinger
wie Abgeordnete Lunacek klar, dass sich die von Mazal geortete Gefahr des Sozialdumpings nicht auf den Reformvertrag
bezogen habe.
ÖVP-Klubobmann Wolfgang Schüssel begründete die Ablehnung einer Initiative der Grünen im Europäischen
Parlament zur Einführung des Instruments einer europaweiten Volksabstimmung damit, dass sich der Antrag auf
die bestehenden EU-Verträge bezogen habe. "Wir sind alle für eine Europäische Volksabstimmung",
sagte Schüssel, es sei aber nicht sinnvoll, den Ratifizierungsprozess des EU-Reformvertrags dadurch zu konterkarieren.
Zu den Expertenhearings hielt Schüssel fest, es habe keinen einzigen Experten gegeben, der gesagt habe, der
EU-Vertrag bringe einen Rückschritt gegenüber dem Status quo. Die FPÖ solle sich die Frage stellen,
ob ein einziges Thema ohne den Reformvertrag besser gelöst wäre, forderte er. In Bezug auf die Weiterentwicklung
der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sprach sich Schüssel für eine aktive Beteiligung
Österreichs aus. Ein "Opting out" wäre seiner Meinung nach nicht sinnvoll, wobei der Klubobmann
ausdrücklich betonte, dass es sich bei der EU um kein Militärbündnis handle.
Außenministerin Plassnik machte geltend, dass sich allmählich so etwas wie ein europäisches Bewusstsein
und ein europäisches Gefühl entwickle. Die EU sei eine Wertegemeinschaft und keine wertefreie oder wertelose
Gemeinschaft, bekräftigte sie. Österreich ist ihrer Meinung nach aufgefordert, aktiv an der Entwicklung
eines europäischen Lebensmodells mitzuwirken.
Was die Außenpolitik anlangt, arbeiten die EU-Länder Plassnik zufolge bereits in zahlreichen Bereichen
vernetzt miteinander. Sie hofft, dass die Kohärenz und Wirksamkeit der GASP durch die Einsetzung des so genannten
"Hohen Vertreters" weiter steigen wird.
Zum Euratom-Vertrag merkte die Ministerin an, Österreich sei "in einer relativ kleinen Gruppe von Staaten",
die auf eine Revisionskonferenz zum Euratom-Vertrag dränge. Sie sicherte aber zu, dass die Regierung dieses
Thema weiter verfolgen werde.
Bundeskanzler Gusenbauer führte aus, es habe beim Expertenhearing darüber Einigkeit gegeben, dass die
österreichische Neutralität in ihrer jetzigen Dimension vom EU-Reformvertrag unberührt bleibe. Den
Vorschlag, eine europaweite Volksabstimmung einzuführen, habe Österreich sowohl im EU-Konvent als auch
bei der Regierungskonferenz eingebracht, schilderte er, dafür aber keine Mehrheit bekommen.
Generell hielt Gusenbauer fest, der Reformvertrag sei keine Garantie, dass künftig gute Politik gemacht werde.
Er verbessere jedoch die Funktionsmechanismen innerhalb der EU und biete daher bessere Chancen und Möglichkeiten.
In Richtung FPÖ stellte Gusenbauer klar, Mazal habe keinen Zusammenhang zwischen einer möglichen Senkung
des sozialen Schutzniveaus und dem Reformvertrag hergestellt.
Sollte Irland beim Referendum den Reformvertrag ablehnen, werde der Vertrag nicht in Kraft treten, sagte Gusenbauer
auf eine entsprechende Frage von Abgeordnetem Graf. In diesem Fall bleibe der Vertrag von Nizza gültig, "mit
all den bestehenden Problemen". Er wisse nicht, so Gusenbauer, wem in Europa damit geholfen wäre.
Der ursprüngliche Verfassungsvertrag sei klarer als der EU-Reformvertrag gewesen, räumte Gusenbauer ein,
er habe jedoch keine europaweite Zustimmung gefunden. Mit dem EU-Reformvertrag liegt seiner Auffassung nach allerdings
ein Kompromiss vor, der alle wesentlichen Grundsätze des Verfassungsvertrags enthält. Sollte es einen
erneuten Anlauf für eine EU-Reform geben müssen, würde das mit Sicherheit zu einem schlechteren
Ergebnis führen, zeigte sich Gusenbauer überzeugt.
Zur Forderung nach Abhaltung einer Volksabstimmung in Österreich merkte der Kanzler an, eine Volksabstimmung
sei nicht die einzige Möglichkeit, um einen Dialog mit der Bevölkerung zu führen. Ein "militärisches
Kerneuropa" sehe er nicht "ante portas", betonte Gusenbauer, Österreich sei generell aber angehalten,
sich an der Diskussion um eine weitere europäische Integration zu beteiligen.
Am Ende der Debatte wurden die Beratungen einstimmig vertagt. Das BZÖ nahm aus Protest gegen den Ratifizierungsfahrplan
auch an der heutigen Diskussion nicht teil.
Gemeinsam mit dem EU-Reformvertrag werden ein Antrag und zwei Entschließungsanträge der FPÖ sowie
ein Entschließungsantrag der Grünen verhandelt, in denen es u.a. um die Abhaltung einer Volksabstimmung
sowie um die Beibehaltung der österreichischen Neutralität geht. |