Bekannter Wirkstoff gegen Vergiftungen stoppt Entzündung bei Sepsis / Heidelberger Wissenschaftler
veröffentlichten in Critical Care Medicine
Heidelberg (idw) - Pro Jahr entwickeln rund 200.000 Patienten in Deutschland eine Sepsis - ein Drittel
stirbt an den Folgen der außer Kontrolle geratenen Infektion. Eine neue Methode, die tödliche Entzündung
bei Blutvergiftung (Sepsis) einzudämmen, haben Wissenschaftler des Universitätsklinikums Heidelberg mit
Erfolg erprobt: Der Wirkstoff, der klinisch bereits bei Vergiftungen zum Einsatz kommt, unterbricht die Entzündungsreaktion
effektiv, verursacht dabei aber weniger Nebenwirkungen und ist kostengünstiger als die bekannten Therapien.
Die Ergebnisse wurden im Februar 2008 in der Fachzeitschrift Critical Care Medicine veröffentlicht.
Die Sepsis - in Deutschland die dritthäufigste Todesursache, auf den Intensivstationen die Nummer eins - entwickelt
sich infolge schwerer Erkrankungen, einer infizierten Verletzung oder nach großen Operationen. Ausgehend
vom Krankheitsherd verteilen sich Erreger im ganzen Körper. Es kommt zu einer fatalen Kettenreaktion mit hohem
Tempo: Entzündungen breiten sich im ganzen Körper aus, der Kreislauf kollabiert und der Organismus gerät
in einen Schockzustand, die Blutgerinnung wird überaktiv und die Adern verstopfen. Schließlich versagen
Nieren, Lunge, Leber und Herz.
"Seit einigen Jahren weiß man, dass Entzündungen vom vegetativen Nervensystem beeinflusst werden",
erklärt Privatdozent Dr. Markus Weigand, Geschäftsführender Oberarzt der Anästhesiologischen
Universitätsklinik Heidelberg und Leiter der interdisziplinären Arbeitsgruppe. Der Teil des vegetativen
Systems, das den Körper in den Ruhezustand versetzt (Parasympathikus), kontrolliert über einen Regelmechanismus
auch die Ausschüttung entzündungsfördernder Stoffe, der Zytokine. Der Regler ist der neuronale Botenstoff
Acetylcholin: Je mehr Acetylcholin freigesetzt wird, desto weniger Zytokine gelangen in die Blutbahn - die Entzündung
bleibt unter Kontrolle.
Körpereigener Regelmechanismus muss in Gang gesetzt werden
"Bisher verabreichen wir bei einer Sepsis z.B. Nikotin", so Dr. Weigand. Es verhält sich
ähnlich wie Acetylcholin und verhindert das weitere Voranschreiten der Entzündung. Gleichzeitig müssen
die Mediziner den Erreger identifizieren, der die Entzündung verursacht. Das ist die Voraussetzung für
die lebensrettende Antibiotika-Therapie. Doch Nikotin hat Nachteile: Das Gift der Tabakpflanze kann in den erforderlichen
Mengen schwere Nebenwirkungen - wie Herzrasen bis hin zu Herzrhythmusstörungen - auslösen. Auch alternative
Therapien bei septischem Schock beeinträchtigen stark Stoffwechselfunktionen oder Blutgerinnung.
Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe suchte Alternativen, den entzündungshemmenden Mechanismus in Gang
zu setzen, und wurde bei bereits bekannten Wirkstoffen fündig: Physostigmin - bekannt als "Anticholium"
- und Neostigmin lindern Vergiftungserscheinungen u.a. durch überdosierte Beruhigungsmittel oder Antidepressiva
sowie durch den Verzehr giftiger Pflanzen aus der Familie der Nachtschattengewächse. "Physostigmin und
Neostigmin verhindern, dass Acetylcholin durch das Enzym Cholinesterase abgebaut wird", erklärt Dr. Stefan
Hofer, Oberarzt der Anästhesiologischen Klinik und Erstautor der Studie. "So steht mehr Acetylcholin
zur Verfügung."
In der aktuellen Studie an Mäusen drosselten die beiden Cholinesterase-Hemmer die Ausschüttung von Zytokinen
und damit die Entzündungsreaktion ebenso effektiv wie Nikotin: Im Vergleich zu unbehandelten Mäusen hatten
Tiere, die mit Physostigmin, Neostigmin oder Nikotin behandelt wurden, mehr als doppelt so hohe Überlebenschancen.
Neue Wirkstoffe verursachen weniger Nebenwirkungen und sind kostengünstiger
"Die Cholinesterase-Hemmer haben ein überschaubares Nebenwirkungsprofil und wir wissen genau,
in welchen Fällen wir es ohne Risiko für den Patienten einsetzen können", erklären Dr.
Stefan Hofer und Mitautor Dr. Christoph Eisenbach, Abteilung für Gastroenterologie, Infektionskrankheiten
und Vergiftungen der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg. Das Medikament kann problemlos über
eine Infusion verabreicht werden. Außerdem ist die Behandlung mit dem Hemmstoff deutlich kostengünstiger:
"Bisher kostet die Behandlung der Sepsis mehrere Tausend Euro; eine 24-stündige Behandlung mit einem
Cholinesterase-Hemmer läge bei klinischer Anwendbarkeit der Therapie bei ca. 200 Euro", so der Anästhesist.
Im nächsten Schritt wird der neue Therapieansatz klinisch geprüft, eine entsprechende Studie durch das
interdisziplinäre Studienzentrum der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg ist für Ende 2008
geplant. Hält die Therapie mit Anticholium, was sie verspricht, kann sie in den "Heidelberg Sepsis Pathway"
integriert werden - eine Therapieempfehlung mit Checklisten, die Privatdozent Dr. Markus Weigand mit seiner Arbeitsgruppe
entwickelt hat. Sie setzt internationale Behandlungsleitlinien um und wurde bereits in zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen
Intensivmedizinern vermittelt. |