Prammer: Allen Versuchen eines Schlussstrichs entgegentreten!
Wien (pk) – Im Folgenden können Sie die Ansprache von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer
bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 5. Mai
im Parlament im Wortlaut lesen:
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Sehr geehrter Herr Vizekanzler!
Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Jahr 2008 ist durch die Erinnerung an Ereignisse gekennzeichnet, die Staat und Verfassung, die die Politik
und die Gesellschaft Österreichs geprägt haben und bis heute prägen.
Der Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus fordert uns heraus, konkret
zu werden. Er fordert uns heraus, nach den Menschen zu fragen, denen Gewalt und Leid zugefügt wurde, deren
Leben dadurch geprägt wurde und noch heute geprägt wird.
Die Namen, die eben zu sehen waren, sind die Namen von Kindern, die nicht vergessen werden wollen. Am heutigen
Gedenktag wollen wir versuchen, uns mit den Verbrechen des Nationalsozialismus aus der Perspektive der jüngsten
Opfer zu befassen.
Die Ausschnitte aus den Lebensgeschichten, die wir heute hören, eröffnen uns einen unmittelbaren Blick
auf das, was geschehen ist. Sie zeigen, was Kind sein unter nationalsozialistischer Herrschaft bedeuten konnte,
bis hin zu tödlicher Verfolgung.
Die Verfolgung hatte viele Gesichter und jedes Schicksal war einzigartig. Die Auswahl der Texte ist ein Versuch,
diese Vielfalt widerzuspiegeln. Obwohl vielen dieser Menschen das Erzählen schwer fiel – zu oft wurden böse
Erinnerungen wachgerufen, wurde das Erlittene noch einmal durchlebt – so haben sie dennoch ihre Erinnerungen mit
uns geteilt.
Unsere Anerkennung gilt den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die mit ihrer Bereitschaft entscheidend zur Bildung eines
kritischen Bewusstseins bei der heutigen und bei künftigen Generationen beitragen.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Lebensrealität vieler Kinder während des Nationalsozialismus war keine einfache. Sie war bestimmt
von autoritären Erziehungssystemen, von Anpassungszwang, von Mangel, Verrohung und letztlich von Krieg. Für
viele Kinder aber bedeutete der Nationalsozialismus Ausschluss aus der Gesellschaft, Vertreibung und tödliche
Verfolgung.
Lange wurden die Fragen nach dem Kindsein im Nationalsozialismus wenig gestellt.
Das wirkt unbegreiflich angesichts der Tatsache, dass eineinhalb Millionen jüdische Kinder umgebracht wurden,
dass unzählige Kinder wegen Krankheit, Behinderung oder einfach nur wegen ihres Verhaltens eingesperrt, gequält
und getötet wurden. Das wirkt unbegreiflich, angesichts des Verlusts aller sozialen Netze, den so viele Kinder
erfahren mussten – plötzlich getrennt von Eltern, Geschwistern, Freunden. Das wirkt unbegreiflich, angesichts
der Nazi-Verbrechen gegen die Kinder und angesichts der gesellschaftlichen Ächtung, die so viele von Ihnen
auch danach erfahren mussten – weil sie Jüdinnen und Juden, Roma oder Sinti, weil sie Sloweninnen und Slowenen
waren, weil ihre Eltern politisch verfolgt wurden, weil ihre Eltern den Mut gehabt haben, gegen das Regime zu kämpfen.
Dies wirkt unbegreiflich und wird erst vor dem Hintergrund des österreichischen Umgangs mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit verständlich.
Erst spät hat ein offener Umgang mit der Geschichte Platz gegriffen. Vieles davon kann auf Debatten vergangener
Jahrzehnte und auf internationales Einfordern von Verantwortungsübernahme zurückgeführt werden.
Vieles davon auf die Bildungsarbeit der Zeitgeschichte und das Engagement von Einzelnen wie Gruppen, insbesondere
wieder der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
Dieser offenere Umgang mit der Geschichte spiegelt sich auch in den Entscheidungen des Nationalfonds wider.
Erlauben Sie mir ein Beispiel anzuführen:
Ursprünglich wurden jene Kärntner Sloweninnen und Slowenen als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt,
welche so genannter direkter Verfolgung, etwa durch Haft oder im Konzentrationslager, ausgesetzt waren. Entsprechend
der historischen Realität, wurden im Lauf der Jahre weitere Personengruppen als Opfer anerkannt: Die Partisaninnen
und Partisanen; später deren Kinder, die oft einer besonderen Gefährdung ausgesetzt waren; und letztlich
slowenische Kinder, viele immer noch unter traumatischen Kindheitserlebnissen leidend.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Auseinandersetzung damit, was zu Stellung und Macht des Nationalsozialismus geführt hat, sollte gerade
auch von uns Politikerinnen und Politikern immer wieder geführt werden.
In den vergangenen Monaten hat das Projekt erinnern.at des Unterrichtsministeriums und der Volkshochschule Hietzing
Mitglieder des Nationalrats, des Bundesrats und der Landtage, ebenso wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister
in ganz Österreich über Gedenken und Erinnern heute befragt. Die Auswertung dieser Umfrage zeigt, dass
für viele von ihnen Gedenken und Erinnern eine große Bedeutung haben, dass sie es für sehr wichtig
erachten. Zugleich wird aber zugegeben, dass es nicht immer einfach ist, die entsprechenden Formen zu finden. Und
ebenso wird freimütig zugegeben, dass sehr oft auch das Wissen über die Geschichte und der Umgang damit
fehlt.
Umso wichtiger erscheinen mir die Aufzeichnungen von Lebensgeschichten, in denen die Zeit des Nationalsozialismus
aus der Perspektive der Opfer dokumentiert wird.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Gedenktag im Parlament unterbricht die Routinen dieses Hauses. In den vergangenen Jahren haben die Veranstaltungen
aus Anlass des Gedenktags an Breite und Tiefe gewonnen.
Heuer hat erstmals auch eine Matinee stattgefunden, die das Parlament gestern gemeinsam mit der Österreichischen
Gesellschaft für Literatur und dem Volkstheater durchgeführt hat.
Im Anschluss an diese Gedenksitzung wird auch eine große Veranstaltung am Heldenplatz stattfinden. Neben
Schülerinnen und Schülern aus ganz Österreich werden auf Einladung von "A LETTER TO THE
STARS" österreichische Überlebende des Holocaust aus aller Welt daran teilnehmen. Sie, meine Damen
und Herren, sind heute auch unsere Gäste und ich möchte Sie nochmals ganz herzlich begrüßen.
Die vielen Veranstaltungen der österreichischen Gedenkkultur haben das Ziel, die Erinnerung lebendig zu erhalten,
ihr immer neue Ausdrucksformen zu geben und allen Versuchen eines Schlussstrichs entgegenzutreten.
Einen der möglichen Wege kann die Kunst weisen. Die Passage aus Ilse Aichingers Roman "Die größere
Hoffnung" zeigt einen solchen Weg auf – zu beschreiben, was geschehen ist, wahrzunehmen, was in der Welt ist
und was in der Welt, im Leben von vielen Menschen geblieben ist, nachdem das Regime des Nationalsozialismus zu
Ende gegangen ist. Denn Kindheit lässt sich nicht nachholen, noch lässt sie sich einfach fortsetzen,
so als wäre nichts gewesen.
Eine weitere Form der Auseinandersetzung mit und der Weitergabe von Erfahrungen ist die Musik. Ich freue mich sehr,
dass die jungen Musikerinnen und Musiker der Werkskapelle Laufen heute diese Sitzung so würdevoll gestalten.
Liebe Musikerinnen und Musiker!
Ich durfte Euch bei einer Probe kennenlernen, und habe erlebt, wie ihr den Komponisten Walter Arlen getroffen und
ihn und seine Musik kennengelernt habt. Ich freue mich, dass Herr Arlen heute unter uns ist, auch ich begrüße
ihn noch einmal sehr herzlich.
Liebe Musikerinnen und Musiker! Ihr seid für mich ein Beispiel dafür, was dieser Gedenktag möglich
macht, und auf welch vielfältige Weise die Aufforderung, niemals zu vergessen, heute weitergetragen werden
kann.
Meine Damen und Herren!
Erlauben sie mir zum Abschluss ein persönliches Wort: Ich habe selbst während meines Studiums eine Arbeit
über Kinder in Konzentrationslagern geschrieben, und zwar zu einem Zeitpunkt, als ich selbst bereits Mutter
meiner beiden Kinder war.
Diese intensive Erfahrung hat mich bestärkt in meinem Bemühen, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln,
wie wichtig die Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen Themen ist. Wie wichtig es ist, nicht wegzusehen. Das
ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, um Gewalt und Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde,
um aufkeimenden Antisemitismus und Rassismus zu erkennen und dagegen aufzutreten.
Ich danke Ihnen. |
Kritzinger: Gewalt und Rassismus keine Phänomene der Vergangenheit
Wien (pk) – Im Folgenden können Sie die Ansprache von Bundesratspräsident Helmuth Kritzinger
bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 5. Mai
im Parlament im Wortlaut lesen.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Im Jahr 1997 haben Nationalrat und Bundesrat Entschließungen angenommen, die den 5. Mai, den Tag der Befreiung
des Konzentrationslagers Mauthausen, zum "Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des
Nationalsozialismus" erklären. Seit über zehn Jahren ist es eine gute Tradition geworden, dass Nationalrat
und Bundesrat gemeinsam am 5. Mai eine Gedenksitzung abhalten.
Gewalt und Rassismus – das sind nicht Phänomene der Vergangenheit. Wir begegnen ihnen täglich in den
Medien, sie fordern uns täglich heraus. Der heutige Gedenktag soll uns bestärken, mit gemeinsamer Kraft
gegen Gewalt und Rassismus anzutreten, und der stummen Gewalt die Kraft des Wortes und der Argumente entgegenzuhalten.
Wir wollen dass mit Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tun. Das ist für mich auch eine Frage der
Gerechtigkeit unter den Menschen und zwischen den Generationen: sie fordert, dass wir der Geschehnisse von damals
gedenken, dass wir jenen beistehen, die damit auch heute noch leben müssen, und dass wir gerade in der Begegnung
mit Kindern und Jugendlichen Vorsorge für die Zukunft treffen – auf dass das Andenken bewahrt, aus den Erfahrungen
gelernt und Gewalt und Rassismus bekämpft werden. Wir dürfen dabei nicht ruhen, und ich spreche meine
Hoffnung aus, dass auch nach uns die Menschen in den Dörfern und Städten in ihrem Denken und Handeln
unsere Erfahrungen weiterentwickeln und weitertragen.
"War nie Kind" – dieser bedrückende Ausspruch, der uns in vielen Lebenszeugnissen und Berichten
von Menschen entgegentritt, die schon in ihrer Kindheit Verfolgung, Verlust und Gewalt erfahren mussten, dieser
Ausspruch steht über dem Gedenktag 2008. Wir wollen heute der Gnadenlosigkeit der Nazis im Umgang mit jüdischen
Kindern, in der Verfolgung von kranken und behinderten Kindern, von Kindern, deren Leben nicht als wert erachtet
wurde, gelebt zu werden, und der gesellschaftlichen Ächtung und der großen Angst der Kinder, deren Eltern
oder Geschwister Widerstand gegen das Regime geleistet haben, gedenken. Wir wollen auch darüber nachdenken,
was es – auch heute! – heißt, in einer Zeit des Krieges aufzuwachsen, unter andauernden Druck auf Anpassung,
aber auch unter dem Lockruf der Verführungen eines skrupellosen Regimes.
Es ist mir daher eine große Ehre, allen voran die Frauen und Männer willkommen zu heißen, die
in ihrer Kindheit Verfolgung und Gewalt, Demütigung, Ächtung und Vertreibung erfahren haben. Wenn Sie
heute in unserer Mitte sind, so soll das Ihnen die Anerkennung von Nationalrat und Bundesrat zum Ausdruck bringen
– die Anerkennung dessen, was Sie erlebt und erlitten haben, aber auch die Anerkennung dafür, dass viele von
Ihnen in Schulen, Vorträgen und Texten Zeugnis für das geben, was geschehen ist.
Im Rahmen dieser Sitzung werden wir Auszüge aus Lebensgeschichten von Menschen hören, wo sich das, was
berichtet wird, kaum fassen lässt. Auf diese Lebenszeugnisse folgt ein Text von Ilse Aichinger, der Beispiel
dafür ist, wie literarische und künstlerische Auseinandersetzung versucht, oft schier unbegreifliche
Erfahrungen zu vermitteln. Ich begrüße dazu Hilde Sochor, Katharina Stemberger, Jakob Seeböck und
Peter Wolsdorff, die diese Texte vortragen werden. Ich begrüße ebenso Sandra Kreisler, die durch das
Programm dieser Gedenksitzung führen wird.
Auch die Musik kann ein Versuch sein, Eindrücke darüber, was geschehen ist, aufzugreifen und zu vermitteln,
und wir werden Stücke von Ernst Krenek, Hans Gál und Walter Arlen hören, die von der Jugendkapelle
der Werkskapelle Laufen aufgeführt werden. Es ist eine besondere Ehre, dass Walter Arlen heute auch unter
uns ist, und ich begrüße ihn mit großer Hochachtung.
Die Gedenktage im Parlament sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auch Möglichkeiten für Gedenken heute
eröffnen wollen. Dazu zählen nicht nur Literatur und Musik, dazu zählt auch die bildende Kunst.
Der heutige Gedenktag wird daher mit einer Projektion von Namen von in Auschwitz ermordeten Kindern beginnen, die
Zachary Lieberman gestaltet hat. Es sind die Namen von Kindern, an die sich kaum jemand heute mehr erinnert – weil
ihre Geschwister, weil ihre Eltern, weil alle Freunde und Verwandten umgekommen sind. Wir wollen diese Namen aufmerksam
lesen, und an das Schicksal dieser Kinder denken, auch wenn wir sie nicht gekannt haben. |