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Familien-Tragödie als mediales Lauffeuer |
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Wien (öj) - Am 19. April wurde ein schwerkrankes 19jähriges Mädchen
ins Landesklinikum Amstetten eingeliefert. In ihrem Handgepäck befand sich ein Brief - vermeintlich - ihrer
Mutter, in dem diese darum bat, ihrer Tochter zu helfen. Das Mädchen war, wie verlautete, in einem physisch
und psychisch auffälligen Zustand. Bei einer Befragung erklärte es sich bereit Aussagen zu machen, allerdings
nur unter der Voraussetzung, keinen Kontakt mehr zum Vater haben zu müssen. Dann stellte sich heraus, daß
der Großvater, der sich auf dem Krankenhausareal aufhielt, ihr richtiger Vater sei, worauf dieser sofort
einer polizeilichen Überprüfung unterzogen und vorläufig festgenommen wurde. Die Ermittlungen ergaben, daß der Verdächtige am 28. August 1984 seine Tochter in den Keller gelockt, sie betäubt, eingesperrt und über 24 Jahre hindurch - gänzlich von der Außenwelt abgeschlossen - mißbraucht habe. Damit nicht genug, habe er mit ihr sechs Kinder gezeugt, die unter engsten räumlichen Verhältnissen und ohne Tageslicht aufwachsen mußten. Eines davon ist das 19jährige Mädchen, das nach wie vor im Krankenhaus liegt. Auf die näheren Umstände gehen wir hier nicht ein (Zusammenfassungen und aktuelle Meldungen finden Sie etwa im Kurier unter „Familien-Tragödie“). Uns beschäftigt vielmehr die Frage, was viele Medien weltweit dazu bringt, dieses unbeschreibliche Leid, das ein Einzeltäter über diese Menschen gebracht hat, mit so großer Aufregung, ja oft sogar Begeisterung, auszuschlachten. Während sich die meisten Redaktionen darauf beschränkten, Agenturmeldungen zu transportieren, meinte etwa „La Stampa“, hinter „diesem Josef F.“ stecke etwas ungeheuerlich Biedermeierisches, „etwas einzigartig Österreichisches“. „El Pais“ formuliert, „In Gegenwart einer kalten, abwesenden Gesellschaft, die ohne Zweifel weggeschaut hat. (...) Und wieder kam das aus Österreich, der Heimat von Freud, dem Geistesriesen, der uns die im Unbewussten schlummernde Sexualität erweckte“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Alle vergessen - ohne hier Revanchismus betreiben zu wollen - die nahezu täglichen Nachrichten, die uns aus dem Ausland auch in Österreich über Jugendliche erreichen, die bei Amokläufen Menschen erschießen; über Neonazis, die Ausländer schwerst verletzen; über fanatische Einheimische, die mit allen möglichen Gerätschaften Andersfarbige durch die Gassen ihres Ortes treiben; ja, es soll sogar Gefängnisse geben, in denen systematisch gefoltert wird. Von einem Kinderschänder- und Justizskandal, in den höchste gesellschaftliche Kreise dieses Landes verwickelt waren, ganz zu schweigen. Und? Sind Deutsche, Franzosen, Amerikaner, Belgier als Volk dermaßen denunziert worden? Sind wir Österreicher alle krank, nur weil Siegmund Freud vor 100 Jahren viele - bis damals versteckte - Winkel unserer Seelen entdeckt haben? Nein, wir sind es natürlich nicht - genausowenig wir die LeserInnen jener Zeitungen, SeherInnen und HörerInnen jener Radio- und Fernsehstationen, die über diesen zweifellos einzigartigen Fall berichten. Information ja. Aber es muß Grenzen geben, die Halt machen vor der Vermarktung von Elend und Leid und dem Schüren billiger Ressentiments. (mm) |
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