Wien (sv) - In einer aktuellen Studie zur Medikamentenversorgung (Use of
recommended medications after myocardial infarction in Austria, European Journal of Epidemiology Volume 23, Number
2 / Februar 2008, Seiten 153-162) konnte festgestellt werden, dass 25% der österreichischen Patienten nach
einem Herzinfarkt nicht ausreichend mit Medikamenten behandelt werden. Die Studie wurde vom Hauptverband der österreichischen
Sozialversicherungsträger in Auftrag gegeben; Erstautor ist Prof. Wolfgang C. Winkelmayer von der Harvard
Universität in Boston, Massachusetts.
Hintergrund der Studie sind evidenzbasierende Leitlinien wonach nach Herzinfarkt Acetylsalicylsäure (ASS,
"Aspirin"), Betablocker, Statine und ACE-Hemmer (bzw. Angiotensin-Rezeptor-Blocker bei Patienten mit
ACE-Hemmer Unverträglichkeit) als Medikation empfohlen werden.
Aus den Abrechnungsdaten der sozialen Krankenversicherungsträger wurde im Rahmen dieser Studie nun ermittelt,
dass 9% der betroffenen Patienten nach Entlassung aus dem Spital weder einen Betablocker, noch ein Statin, noch
einen ACE-Hemmer erhielten und weitere 16% nur eines dieser Medikamente beziehen. Diese Gruppe wurde eindeutig
als medikamentös unterversorgt eingestuft. Weitere 34% der Studiengruppe bezogen zumindest zwei dieser Medikamente
und wurden als möglicherweise medikamentös unterversorgt qualifiziert. Die übrigen 41 % wurden mit
drei bezogenen Medikamenten, als ausreichend versorgt eingestuft.
"Die Ergebnisse dieser landesweiten Studie zeigen deutliches Verbesserungspotential in der Sekundärprävention
nach Herzinfarkt in Österreich auf. Unsere Studie ermöglicht es allerdings nicht den Ort der Lücke
im Versorgungssystem eindeutig zu identifizieren: versäumen es die Spitalsärzte, diese Therapien einzuleiten
und bei Entlassung vorzuschreiben, die niedergelassenen Ärzte diese zu verschreiben, oder die Patienten diese
Verschreibungen einzulösen?" führte Prof. Winkelmayer aus.
Seitens des Hauptverbandes zeigte sich Generaldirektorin Stellvertreter Mag. Beate Hartinger sehr erfreut: "Bisher
hatte man bei ähnlichen Diskussionen sehr schnell den Patienten als Hauptverantwortlichen für die unzureichende
Medikamenteneinnahme identifiziert. Nun gelang es erstmals, sich mit der Problematik systemisch auseinander zu
setzen."
Experten der Österreichischen Ärztekammer, der Österreichischen Apothekerkammer, der Österreichischen
Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Bereich PharmMed) sowie des Österreichischen Herzverbandes
haben sich mit dem Hauptverband über mögliche Ursachen beraten und gemeinsame Empfehlungen erarbeitet:
Analyse möglicher Ursachen
Zum einen herrschte Einigkeit, dass die gängigen Ärzte-Software-Lösungen noch zu wenig auf
die Erfordernisse der Compliance ausgerichtet sind. So führt die unterschiedliche Größe von Medikamentenpackungen
dazu, dass die Gebrauchsdauer einzelner Packungen variieren. Dies kann dazu führen, dass einzelne Medikamente
nur bei jedem zweiten Arztbesuch verschrieben werden müssen. Zahlreiche Ärzte-Software-Lösungen
berücksichtigen dies zu wenig, und schlagen automatisiert nur die Verschreibung beim jeweils letzten Arztbesuch
vor. Dadurch kann es leicht zum Wegfall einer von vier an sich sinnvollen Medikationen nach Myokardinfarkt kommen.
Zum anderen hat sich Univ. Doz. Ing. Dr. Gerhard Stark, Primarius im Krankenhaus Deutschlandsberg, intensiv mit
dem Informationsmanagement an der Schnittstelle zwischen intra- und extramuralen Bereich beschäftigt. Dabei
zeigt sich, dass trotz immer effizienterer Abläufe in Krankenhäusern und Arztpraxen, es in einem beachtlichen
Maß zum Informationsverlust bei den Therapieempfehlungen von den Krankenanstalten hin zu den Hausärzten
kommt. Gründe dafür sind fehlende Abstimmungen in der Informationsverarbeitung und die unterschiedlich
ausgeprägte Eigenverantwortlichkeit auf Patientenseite.
Derzeit hängt es stärker, als es der Datenschutz unbedingt erfordern würde, vom Patienten ab, ob
sein Hausarzt von den notwendigen Medikamenten erfährt oder nicht. Dieser Umstand ist den meisten Patienten
leider nicht ausreichend bewusst.
Die Experten waren sich einig, dass mit einer Logistik, die den niedergelassenen Ärzten die Therapieempfehlungen
ihrer Kollegen elektronisch verfügbar macht, sowie bestimmte automatisierte Rückkopplungsmechanismen
und eine verbesserte Erinnerungslogik in der Praxis-Software selbst, das Informationsmanagement zwischen Krankenanstalten
und Arztpraxen deutlich verbessern würde. Weiters scheint es im Rahmen des Informationsflusses bezüglich
ihrer Therapie nötig zu sein, Patienten vermehrt bezüglich ihrer notwendigen Eigenverantwortlichkeit
aufzuklären.
All diese Maßnahmen lassen in weiterer Folge auch eine Verbesserung der Compliance bei den betroffenen Patienten
erwarten.
Weitere Schritte und Maßnahmen
Einigkeit bestand innerhalb des Expertenteams weiters darüber, dass sowohl Ärzten als auch Apothekern
eine wichtige Erinnerungsfunktion zukommt. In der Praxis zeigt sich dabei oftmals, dass emotionale Argumente eine
bessere Wirkung beim Patienten erzielen, als rationale. "Wird ein Medikament als Freund gesehen, der mir hilft,
in einer schwierigen Situation besser zu bestehen, wird es auch eingenommen. Bei der Schaffung dieses Bewusstseins
hat der Apotheker mit seinem umfassenden Arzneimittelwissen eine besondere Bedeutung", betont Mag. pharm.
Dr. Reinhard Becker als Repräsentant der Österreichischen Apothekerkammer die Rolle seines Berufsstandes.
Darüber hinaus wurde eine Arbeitserleichterung für den medizinischen Alltag in der Form zweier Informationsblätter
geschaffen.
Das erste fasst die wesentlichen Eckpunkte der Winkelmayer Studie zusammen und liefert als Gedächtnisstütze
wichtige Zahlen und Fakten zur Medikation nach Myokardinfarkt. Das zweite dient dazu, den Patienten eine zusätzliche
Erinnerung an sein Gespräch mit dem Arzt oder Apotheker in die Hand geben zu können. Darauf befindet
sich graphisch aufbereitete Information darüber, wie Medikamente das Risiko eines neuerlichen Herzinfarkts
reduzieren helfen und mit welchen Lebensstilmaßnahmen der Patient seine Gesundheit fördern kann.
Dr. Lothar Fiedler, offizieller Vertreter der Österreichischen Ärztekammer bestätigt die dringende
Notwendigkeit der lückenlosen Einnahme dieser Medikation und brachte seine dringende Hoffnung zum Ausdruck,
dass mit solchen Initiativen die Arbeit der Ärzteschaft erleichtert werde, beispielsweise bei der Einholung
chefärztlicher Bewilligungen. Wenn auch bei den hier angesprochenen Produktgruppen frei verschreibbare Alternativen
zur Verfügung stünden, so beschränke sich die Problematik der Compliance ja nicht nur auf Herzinfarktpatienten.
Es gelte zu erkennen, dass bei der chefärztlichen Bewilligung ganz allgemein Mechanismen wirken, die der Compliance
nicht förderlich sind. "Insgesamt ist diese Initiative aber ein wichtiges Signal dafür, dass die
Sozialversicherung sich weiterhin auch zur Finanzierung teurer Medikamente bekennt". Sowohl die Ärzteschaft
wie auch die Sozialversicherung sind für die Patienten und Patientinnen seit Jahrzehnten die kompetenten Anwälte.
Ich hoffe diese "Aktion" dient künftig zur engeren Zusammenarbeit, dies sind wir unseren PatientientInnen
ja schuldig, so Dr. Fiedler.
Helmut Schulter, der Vertreter des Österreichischen Herzverbandes betonte, dass Patienten, die sich einer
Selbsthilfegruppe anschließen, nicht nur die Umstellung ihrer Lebensgewohnheiten und entsprechende Bewegungsprogramme
intensiver durchhalten. Durch den Informationsaustausch in der Gemeinschaft fallen unterschiedliche Medikationen
rasch auf und bieten den Betroffenen die Chance bei ihrem Arzt rückzufragen. "In diesem Sinne wäre
es wünschenswert, wenn alle Patienten nach einem derart einschneidenden Akutereignissen, auf die Vorteile
von Selbsthilfegruppen aufmerksam gemacht werden", so Schulter.
Sichere und wirksame Arzneimittel
Der AGES PharmMed kommt als nationale Arzneimittelbehörde die wichtige Aufgabe zu, den Österreicher
den Zugang zu weitgehend sicheren und wirksamen Arzneimitteln zu ermöglichen. "Dies erfolgt immer nach
dem jüngsten Wissensstand und unter Berücksichtigung der europäischen Leitlinien. Wir bewerten im
Zulassungsprozess das Nutzen-Risiko-Profil des Arzneimittels und lassen es nur zu, wenn dieses Verhältnis
angemessen ist und der Nutzen die Risiken übertrifft", so Dr. Christoph Baumgärtel von der AGES
PharmMed. Für die Therapie nach einem Myokardinfarkt sind derzeit in Österreich 906 Arzneimittel zugelassen;
davon rund 475 Generika. "Da fast alle diese Medikamente rezeptpflichtig sind, ist der Patient nach einem
Myokardinfarkt immer in sehr engem Kontakt mit dem behandelnden Arzt und somit in laufender ärztlicher Betreuung",
führt Baumgärtel aus. Wesentliches Element der Arzneimittelsicherheit ist die ausreichende Kenntnis der
Ärzte über die Wechselwirkungen von Arzneimitteln. Baumgärtel: "Wir sind bemüht, die uns
von Ärzten gemeldeten Wechselwirkungen zu sammeln, zu bewerten und entsprechende Maßnahmen zur Patientensicherheit
einzuleiten. Solche Maßnahmen sind die Aufnahme der Wechselwirkung in die Fach- und Gebrauchsinformation.
Immerhin können bereits das gleichzeitige Trinken von Grapefruitsaft und die Einnahme von gewissen Arzneimitteln,
wie etwa Fettsenkern, die Wirkung und Nebenwirkung deutlich verstärken. Teilweise unterstützen sich aber
auch Arzneimittel gegenseitig in ihrer Wirkung, wie dies bei ACE-Hemmern und Betablockern der Fall ist. Diese Tatsache
kann dann therapeutisch genutzt werden. Daher ist das ärztliche Wissen sowohl um positive als auch negative
Wechselwirkungen von Arzneimitteln essentiell."
Die nationale Arzneimittelagentur begrüßte darüber hinaus alle Maßnahmen und Projekte, die
dem Patienten zugute kommen und den Informationsfluss zwischen Arzt und Patienten unterstützen. "Es ist
uns ein wesentliches Anliegen, die Österreicher über die verfügbaren Arzneimittel aufzuklären,
wie es uns in gemeinsamer Arbeit mit den anderen Experten mit diesem Projekt zum Risikofaktor Herzinfarkt gelungen
ist", freut sich Baumgärtel. |