Hauptverband: Ein Viertel der Patienten nach Herzinfarkt sind medikamentös unterversorgt   

erstellt am
20. 05. 08

Wien (sv) - In einer aktuellen Studie zur Medikamentenversorgung (Use of recommended medications after myocardial infarction in Austria, European Journal of Epidemiology Volume 23, Number 2 / Februar 2008, Seiten 153-162) konnte festgestellt werden, dass 25% der österreichischen Patienten nach einem Herzinfarkt nicht ausreichend mit Medikamenten behandelt werden. Die Studie wurde vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger in Auftrag gegeben; Erstautor ist Prof. Wolfgang C. Winkelmayer von der Harvard Universität in Boston, Massachusetts.

Hintergrund der Studie sind evidenzbasierende Leitlinien wonach nach Herzinfarkt Acetylsalicylsäure (ASS, "Aspirin"), Betablocker, Statine und ACE-Hemmer (bzw. Angiotensin-Rezeptor-Blocker bei Patienten mit ACE-Hemmer Unverträglichkeit) als Medikation empfohlen werden.

Aus den Abrechnungsdaten der sozialen Krankenversicherungsträger wurde im Rahmen dieser Studie nun ermittelt, dass 9% der betroffenen Patienten nach Entlassung aus dem Spital weder einen Betablocker, noch ein Statin, noch einen ACE-Hemmer erhielten und weitere 16% nur eines dieser Medikamente beziehen. Diese Gruppe wurde eindeutig als medikamentös unterversorgt eingestuft. Weitere 34% der Studiengruppe bezogen zumindest zwei dieser Medikamente und wurden als möglicherweise medikamentös unterversorgt qualifiziert. Die übrigen 41 % wurden mit drei bezogenen Medikamenten, als ausreichend versorgt eingestuft.

"Die Ergebnisse dieser landesweiten Studie zeigen deutliches Verbesserungspotential in der Sekundärprävention nach Herzinfarkt in Österreich auf. Unsere Studie ermöglicht es allerdings nicht den Ort der Lücke im Versorgungssystem eindeutig zu identifizieren: versäumen es die Spitalsärzte, diese Therapien einzuleiten und bei Entlassung vorzuschreiben, die niedergelassenen Ärzte diese zu verschreiben, oder die Patienten diese Verschreibungen einzulösen?" führte Prof. Winkelmayer aus.

Seitens des Hauptverbandes zeigte sich Generaldirektorin Stellvertreter Mag. Beate Hartinger sehr erfreut: "Bisher hatte man bei ähnlichen Diskussionen sehr schnell den Patienten als Hauptverantwortlichen für die unzureichende Medikamenteneinnahme identifiziert. Nun gelang es erstmals, sich mit der Problematik systemisch auseinander zu setzen."

Experten der Österreichischen Ärztekammer, der Österreichischen Apothekerkammer, der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Bereich PharmMed) sowie des Österreichischen Herzverbandes haben sich mit dem Hauptverband über mögliche Ursachen beraten und gemeinsame Empfehlungen erarbeitet:


Analyse möglicher Ursachen
Zum einen herrschte Einigkeit, dass die gängigen Ärzte-Software-Lösungen noch zu wenig auf die Erfordernisse der Compliance ausgerichtet sind. So führt die unterschiedliche Größe von Medikamentenpackungen dazu, dass die Gebrauchsdauer einzelner Packungen variieren. Dies kann dazu führen, dass einzelne Medikamente nur bei jedem zweiten Arztbesuch verschrieben werden müssen. Zahlreiche Ärzte-Software-Lösungen berücksichtigen dies zu wenig, und schlagen automatisiert nur die Verschreibung beim jeweils letzten Arztbesuch vor. Dadurch kann es leicht zum Wegfall einer von vier an sich sinnvollen Medikationen nach Myokardinfarkt kommen.

Zum anderen hat sich Univ. Doz. Ing. Dr. Gerhard Stark, Primarius im Krankenhaus Deutschlandsberg, intensiv mit dem Informationsmanagement an der Schnittstelle zwischen intra- und extramuralen Bereich beschäftigt. Dabei zeigt sich, dass trotz immer effizienterer Abläufe in Krankenhäusern und Arztpraxen, es in einem beachtlichen Maß zum Informationsverlust bei den Therapieempfehlungen von den Krankenanstalten hin zu den Hausärzten kommt. Gründe dafür sind fehlende Abstimmungen in der Informationsverarbeitung und die unterschiedlich ausgeprägte Eigenverantwortlichkeit auf Patientenseite.

Derzeit hängt es stärker, als es der Datenschutz unbedingt erfordern würde, vom Patienten ab, ob sein Hausarzt von den notwendigen Medikamenten erfährt oder nicht. Dieser Umstand ist den meisten Patienten leider nicht ausreichend bewusst.

Die Experten waren sich einig, dass mit einer Logistik, die den niedergelassenen Ärzten die Therapieempfehlungen ihrer Kollegen elektronisch verfügbar macht, sowie bestimmte automatisierte Rückkopplungsmechanismen und eine verbesserte Erinnerungslogik in der Praxis-Software selbst, das Informationsmanagement zwischen Krankenanstalten und Arztpraxen deutlich verbessern würde. Weiters scheint es im Rahmen des Informationsflusses bezüglich ihrer Therapie nötig zu sein, Patienten vermehrt bezüglich ihrer notwendigen Eigenverantwortlichkeit aufzuklären.

All diese Maßnahmen lassen in weiterer Folge auch eine Verbesserung der Compliance bei den betroffenen Patienten erwarten.


Weitere Schritte und Maßnahmen
Einigkeit bestand innerhalb des Expertenteams weiters darüber, dass sowohl Ärzten als auch Apothekern eine wichtige Erinnerungsfunktion zukommt. In der Praxis zeigt sich dabei oftmals, dass emotionale Argumente eine bessere Wirkung beim Patienten erzielen, als rationale. "Wird ein Medikament als Freund gesehen, der mir hilft, in einer schwierigen Situation besser zu bestehen, wird es auch eingenommen. Bei der Schaffung dieses Bewusstseins hat der Apotheker mit seinem umfassenden Arzneimittelwissen eine besondere Bedeutung", betont Mag. pharm. Dr. Reinhard Becker als Repräsentant der Österreichischen Apothekerkammer die Rolle seines Berufsstandes. Darüber hinaus wurde eine Arbeitserleichterung für den medizinischen Alltag in der Form zweier Informationsblätter geschaffen.

Das erste fasst die wesentlichen Eckpunkte der Winkelmayer Studie zusammen und liefert als Gedächtnisstütze wichtige Zahlen und Fakten zur Medikation nach Myokardinfarkt. Das zweite dient dazu, den Patienten eine zusätzliche Erinnerung an sein Gespräch mit dem Arzt oder Apotheker in die Hand geben zu können. Darauf befindet sich graphisch aufbereitete Information darüber, wie Medikamente das Risiko eines neuerlichen Herzinfarkts reduzieren helfen und mit welchen Lebensstilmaßnahmen der Patient seine Gesundheit fördern kann.

Dr. Lothar Fiedler, offizieller Vertreter der Österreichischen Ärztekammer bestätigt die dringende Notwendigkeit der lückenlosen Einnahme dieser Medikation und brachte seine dringende Hoffnung zum Ausdruck, dass mit solchen Initiativen die Arbeit der Ärzteschaft erleichtert werde, beispielsweise bei der Einholung chefärztlicher Bewilligungen. Wenn auch bei den hier angesprochenen Produktgruppen frei verschreibbare Alternativen zur Verfügung stünden, so beschränke sich die Problematik der Compliance ja nicht nur auf Herzinfarktpatienten.

Es gelte zu erkennen, dass bei der chefärztlichen Bewilligung ganz allgemein Mechanismen wirken, die der Compliance nicht förderlich sind. "Insgesamt ist diese Initiative aber ein wichtiges Signal dafür, dass die Sozialversicherung sich weiterhin auch zur Finanzierung teurer Medikamente bekennt". Sowohl die Ärzteschaft wie auch die Sozialversicherung sind für die Patienten und Patientinnen seit Jahrzehnten die kompetenten Anwälte. Ich hoffe diese "Aktion" dient künftig zur engeren Zusammenarbeit, dies sind wir unseren PatientientInnen ja schuldig, so Dr. Fiedler.

Helmut Schulter, der Vertreter des Österreichischen Herzverbandes betonte, dass Patienten, die sich einer Selbsthilfegruppe anschließen, nicht nur die Umstellung ihrer Lebensgewohnheiten und entsprechende Bewegungsprogramme intensiver durchhalten. Durch den Informationsaustausch in der Gemeinschaft fallen unterschiedliche Medikationen rasch auf und bieten den Betroffenen die Chance bei ihrem Arzt rückzufragen. "In diesem Sinne wäre es wünschenswert, wenn alle Patienten nach einem derart einschneidenden Akutereignissen, auf die Vorteile von Selbsthilfegruppen aufmerksam gemacht werden", so Schulter.

Sichere und wirksame Arzneimittel
Der AGES PharmMed kommt als nationale Arzneimittelbehörde die wichtige Aufgabe zu, den Österreicher den Zugang zu weitgehend sicheren und wirksamen Arzneimitteln zu ermöglichen. "Dies erfolgt immer nach dem jüngsten Wissensstand und unter Berücksichtigung der europäischen Leitlinien. Wir bewerten im Zulassungsprozess das Nutzen-Risiko-Profil des Arzneimittels und lassen es nur zu, wenn dieses Verhältnis angemessen ist und der Nutzen die Risiken übertrifft", so Dr. Christoph Baumgärtel von der AGES PharmMed. Für die Therapie nach einem Myokardinfarkt sind derzeit in Österreich 906 Arzneimittel zugelassen; davon rund 475 Generika. "Da fast alle diese Medikamente rezeptpflichtig sind, ist der Patient nach einem Myokardinfarkt immer in sehr engem Kontakt mit dem behandelnden Arzt und somit in laufender ärztlicher Betreuung", führt Baumgärtel aus. Wesentliches Element der Arzneimittelsicherheit ist die ausreichende Kenntnis der Ärzte über die Wechselwirkungen von Arzneimitteln. Baumgärtel: "Wir sind bemüht, die uns von Ärzten gemeldeten Wechselwirkungen zu sammeln, zu bewerten und entsprechende Maßnahmen zur Patientensicherheit einzuleiten. Solche Maßnahmen sind die Aufnahme der Wechselwirkung in die Fach- und Gebrauchsinformation. Immerhin können bereits das gleichzeitige Trinken von Grapefruitsaft und die Einnahme von gewissen Arzneimitteln, wie etwa Fettsenkern, die Wirkung und Nebenwirkung deutlich verstärken. Teilweise unterstützen sich aber auch Arzneimittel gegenseitig in ihrer Wirkung, wie dies bei ACE-Hemmern und Betablockern der Fall ist. Diese Tatsache kann dann therapeutisch genutzt werden. Daher ist das ärztliche Wissen sowohl um positive als auch negative Wechselwirkungen von Arzneimitteln essentiell."

Die nationale Arzneimittelagentur begrüßte darüber hinaus alle Maßnahmen und Projekte, die dem Patienten zugute kommen und den Informationsfluss zwischen Arzt und Patienten unterstützen. "Es ist uns ein wesentliches Anliegen, die Österreicher über die verfügbaren Arzneimittel aufzuklären, wie es uns in gemeinsamer Arbeit mit den anderen Experten mit diesem Projekt zum Risikofaktor Herzinfarkt gelungen ist", freut sich Baumgärtel.
 
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