Wien (tu) - Die Selbstorganisation von Teilchen in Systemen der weichen Materie untersuchen PhysikerInnen
der "Soft Matter Theory Group" (SMT) der Technischen Universität (TU) Wien. Die Identifizierung
dieser energetisch optimierten Teilchenanordnungen gelingt mit Algorithmen, die evolutionäre Prozesse aus
der Natur nachahmen. Anwendung finden diese oft sehr komplexen Teilchenanordnungen als funktionale Einheiten, die
zum Beispiel Schallwellen in gewissen Frequenzbereichen dämpfen oder in Teilchenaggregaten, die in ihrem inneren
Medikamente gezielt zu Krankheitsherden im Körper transportieren.
In zwei vom FWF unterstützten Projekten untersuchen die ForscherInnen, wie sich Teilchen der weichen Materie
in geordneten Strukturen selbst organisieren. Aus den Gesetzen der Statistischen Mechanik und der Thermodynamik
weiss man zwar, daß sich die Teilchen so anordnen, daß die Energie der Konfiguration minimiert wird.
Allerdings können derartige Strukturen beliebig komplex werden, sodaß eine Vorhersage dieser Anordnungen
praktisch unmöglich ist. Um diese Konfigurationen dennoch identifizieren zu können, hat die Gruppe der
TU Wien Algorithmen entwickelt, die auf Ideen der natürlichen Evolution basieren. "Da es de facto unmöglich
ist, die geordneten Teilchenanordnungen für ein System vorherzusagen, haben wir uns bei unserer Suche nach
energetisch optimalen Strukturen Strategien von evolutionären Prozessen abgeschaut. Wir betrachten eine große
Zahl von Gitterstrukturen, die wir gemäß ihrer Energie evaluieren: Energetisch günstigere Strukturen
werden gefördert und erzeugen über einen Reproduktionsprozeß eine neue Generation von Strukturen,
die im allgemeinen energetisch günstigere Strukturen enthält. Wiederholt man diesen Prozeß über
viele Generationen, so 'sterben' Kristallstrukturen mit hoher Energie systematisch 'aus' und es 'vermehren' sich
nur noch jene Teilchenanordnungen mit niedriger Energie. Am Ende erhält man tatsächlich die optimale
Teilchenanordnung", fasst Gehard Kahl, Professor am Institut für Theoretische Physik der TU Wien zusammen.
Somit wird die Vorhersage energetisch günstiger Gitteranordnungen mit Hilfe dieses Algorithmus in wenigen
Stunden ermöglicht.
Die breite Anwendung dieser Algorithmen in der weichen Materie spiegelt sich darin wider, daß in der SMT-Gruppe
mittlerweile drei Dissertationen und zwei Diplomarbeiten diesem Thema gewidmet wurden. Die Untersuchung von Selbstorganisationsszenarien
in der weichen Materie ist kein rein akademisches Problem, sondern spielt auch in technologischen Anwendungen eine
wichtige Rolle. Julia Fornleitner, Mitarbeiterin der SMT-Gruppe, untersucht in Zusammenarbeit mit Christos N. Likos
(Düsseldorf) und Federica Lo Verso (Genf) sogenannte phononische Kristalle. "Es handelt sich bei diesen
Gitterstrukturen um funktionale Einheiten, die spezielle mechanische Eigenschaften besitzen: Diese Kristalle zeichnen
sich dadurch aus, daß sie aufgrund ihrer komplexen Struktur in gewissen kristallographischen Richtungen (akustische)
Frequenzen unterdrücken können und somit eine Filterfunktion erfüllen", erklärt Gerhard
Kahl. Eine andere Art von Selbstorganisation spielt aber auch in medizinischen Anwendungen eine wichtige Rolle:
Teilchen der weichen Materie können auch isolierte Aggregate ('cluster') bilden, die zum Beispiel zum Transport
von Medikamenten zu einem Krankheitsherd im Körper verwendet werden können. "Derartige 'cluster'
benötigen eine relativ offene Struktur, sie haben im inneren sozusagen einen Käfig, einen Bereich, wo
zum Beispiel Heilmittel im weitesten Sinne untergebracht werden können. An der Stelle, wo das Mittel abgeliefert
werden soll, wird der Käfig einfach geöffnet", so Kahl. Die Untersuchung von 'clustern' mit Hilfe
evolutionärer Algorithmen hat in der SMT-Gruppe allerdings erst begonnen.
Die Selbstorganisationsszenarien in der weichen Materie ('self assembly in soft matter') untersuchen Gerhard Kahl
und seine MitarbeiterInnen. Besonders hilfreich und wichtig ist dabei die Zusammenarbeit mit Experimentatoren.
Unter weicher Materie werden zum Beispiel Schäume, Gele und Flüssigkristalle verstanden, die im Niemandsland
zwischen dem Festen und Flüssigen zahlreiche Materialien mit ungewohnten und nützlichen Eigenschaften
beinhalten. |