NR-Präsidentin Prammer skeptisch in Bezug auf Mehrheitswahlrecht
Wien (pk) - Je schwieriger die Regierungsbildung nach Wahlen desto lauter erschallt der Ruf nach
Einführung eines Mehrheitswahlrechts in Österreich. Durch eine entsprechende Wahlrechtsreform wären
nicht nur stabilere Regierungen möglich, man würde auch einen wichtigen Schritt gegen die zunehmende
Politikverdrossenheit setzen, zeigen sich die Befürworterinnen und Befürworter überzeugt. Wobei
ein klassisches Mehrheitswahlrecht – ausschließlich die Person mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis
erhält ein Mandat – in Österreich eher wenig Anhänger hat; zumeist wird, unter dem Titel "minderheitenfreundliches
Mehrheitswahlrecht", Modellen der Vorzug gegeben, die auch kleineren Parteien eine Repräsentanz im Nationalrat
sichern. So kursiert etwa der Vorschlag, der stimmenstärksten Partei die Hälfte der Nationalratsmandate
plus eines zuzuteilen und die anderen Mandate nach dem Stimmenverhältnis auf jene Parteien aufzuteilen, die
eine bestimmte Prozenthürde überspringen, immer wieder in der Öffentlichkeit.
Was sind nun tatsächlich die Vorzüge eines Mehrheitswahlrechts? Welche Nachteile sind zu befürchten?
Und wie sehen die internationalen Erfahrungen aus? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigte sich
am 09.10. ein Symposium im Hohen Haus, zu dem Nationalratspräsidentin Barbara Prammer gemeinsam mit der "Initiative
Mehrheitswahlrecht" eingeladen hat. Unter dem Titel "Demokratie im Umbruch – Perspektiven einer Wahlrechtsreform"
diskutieren WissenschafterInnen, PolitikerInnen, InteressenvertreterInnen und andere ExpertInnen über mögliche
Auswirkungen einer Abkehr vom traditionellen Verhältniswahlrecht in Österreich.
Prammer: Skepsis gegenüber Mehrheitswahlrecht
Nationalratspräsidentin Barbara Prammer zeigte sich bei der Begrüßung der TeilnehmerInnen über
das rege Interesse am Symposium erfreut und betonte, es sei jetzt, nach den Wahlen, der richtige Zeitpunkt um über
eine Wahlrechtsreform zu diskutieren. Damit vermeide man den Anschein von Anlassgesetzgebung. Gleichzeitig zeigte
sich die Nationalratspräsidentin jedoch skeptisch, ob ein Mehrheitswahlrecht tatsächlich die zum Teil
hoch gesteckten Erwartungen erfüllen könnte. Man solle sich überlegen, ob es nicht andere Möglichkeiten
gebe, die Arbeit der Regierung zu erleichtern, betonte sie. Zudem könne eine Wahlrechtsreform auch im besten
Fall nur eine kleine Facette im Kampf gegen die zunehmende Politikverdrossenheit sein, die durch andere Maßnahmen
ergänzt werden müsste.
Gegen ein Mehrheitswahlrecht spricht Prammer zufolge etwa, dass laut aktuellen Studien der Frauenanteil im Parlament
in Ländern mit Mehrheitswahlrecht stets geringer ist als in Ländern mit Verhältniswahlrecht. Eine
der Ursachen dafür ist, dass es Frauen an Infrastruktur mangelt, um in Wahlkampagnen genauso gut bestehen
zu können wie Männer. Überdies zweifelt die Nationalratspräsidentin an, dass eine Mandatsaufteilung
auf Basis eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts tatsächlich den Wählerwillen widerspiegeln
würde. Bezogen auf die jüngsten Wahlen hätte die SPÖ nach diesem Modell zwischen 91 und 93
Mandate (statt 57), die ÖVP 36 bis 38 (statt 51), die FPÖ 25 (statt 34), das BZÖ 15 (statt 21) und
die Grünen 14 (statt 20). Das würde sich auch auf die finanziellen Förderungen der Parteien auswirken,
gab Prammer zu bedenken.
Als unumgänglich wertete es Prammer, die parlamentarischen Minderheitsrechte zu verbessern, sollte es tatsächlich
zu einer Wahlrechtsreform in Richtung Mehrheitswahlrecht kommen. Schließlich sei die Kontrollfunktion des
Nationalrats nicht weniger wichtig als seine Gesetzgebungsfunktion, bekräftigte sie. Eine gewisse Sympathie
brachte Prammer dem skandinavischen Modell entgegen, das vorzeitige Neuwahlen bei Platzen der Regierung ausschließt.
Neisser: Parteienstaat wird brüchig - Zeit für neues Wahlrecht
Der Sprecher der Initiative Mehrheitswahlrecht, Univ.-Prof. Dr. Heinrich Neisser, zeigte sich erfreut über
das starke Publikumsinteresse am heutigen Dialog über eine Wahlrechtsreform, der dank Nationalratspräsidentin
Barbara Prammer im Parlament stattfinden könne. Viele hätten mit diesem Thema keine Freude, aber eigentlich
sei es selbstverständlich, diese fundamentale Frage der Demokratie und des Parlamentarismus auf parlamentarischem
Boden zu diskutieren. "Es gibt kein Wahlrecht mit Ewigkeitswert", sagte Neisser, vielmehr sei das Wahlrecht
immer wieder auf die jeweiligen soziopolitischen Bedingungen hin auszurichten.
Das jüngste Nationalratswahlergebnis gebe jedenfalls Anlass über das österreichische Wahlrecht nachzudenken,
sei es laut Neisser doch als ein deutliches Zeichen für die "Brüchigkeit des Parteienstaates"
zu werten. Niemand wisse jetzt, wohin die Entwicklung gehe, vielleicht sei gerade dies der geeignete Zeitpunkt,
um über eine Lebensfrage der Demokratie und des Parlamentarismus nachzudenken. "Uns reicht's", formulierte
Neisser drastisch und übte Kritik an einer erstarrten Parteienlandschaft, in der die Parteien ihre Hauptaufgabe
nicht mehr erfüllten, für die Bevölkerung politisches Personal nach den Kriterien Qualität,
Sensibilität und Spontaneität zu rekrutieren. Das geltende Vorzugsstimmensystem apostrophierte der Politologe
als eine "Behübschung" des Wahlrechts, die den Anforderungen eines personalisierten Wahlrechts nicht
entspreche.
Die Initiative Mehrheitswahlrecht habe Vorschläge für eine Wahlrechtsreform ausgearbeitet, erinnerte
Neisser, sprach die Hoffnung auf weitere Veranstaltungen zum Thema aus und regte darüber hinaus an, eine Parlamentarische
Enquetekommission zur Wahlrechtsreform einzurichten.
Die heutige Veranstaltung diene dem Ziel, den Rahmen für eine Wahlrechtsreform abzustecken, mit Hilfe der
Sozialforschung darzustellen, wie die Bürger die Demokratie sehen, internationale Vergleiche zu ziehen und
kompetente Verfassungsrechtler zu hören. Gespannt zeigte sich Heinrich auf die abschließende Diskussion,
die zeigen werde, was die Repräsentanten der Parteien mit den Vorschlägen für eine Wahlrechtsreform
anfangen könnten.
Karmasin: Parteien verlieren an Einfluss
Dr. Sophie Karmasin (Motivforscherin) befasste sich mit dem Thema "Demokratie aus der Sicht der Bürger
– aktuelle Entwicklungen" und wies u.a. darauf hin, dass Autoritäten und politische Parteien an Einfluss
verlieren und die Wähler immer neu entscheiden und sich die Parteien neu profilieren müssen; die Wähler,
sagte sie, wählen "besonders emotional wertvoll". Sie lassen sich nicht mehr manipulieren, sondern
müssen stets neu überzeugt werden. Die Menschen entscheiden sich heute für eine Partei, weil sie
sich von ihr angesprochen fühlen. Die mediale Darstellung der politischen Inhalte sei die Hauptentscheidungsquelle
für die Wähler, dann folge der persönliche Kontakt und erst am Schluss (bei 7 %) liegen die Wahlveranstaltungen.
Themen wie Teuerung oder Finanzkrise finden bei den Wählern kurzfristige Aufmerksamkeit, während Ereignisse,
die in der Zukunft liegen, wie der Klimawandel, einen geringeren Stellenwert haben.
Von den Wählern wurde nicht nur die Neuwahl als nicht notwendig, überflüssig und als Polittheater
angesehen, sondern auch zum Wahlkampf wurde eine kritische Haltung eingenommen. So äußerten 80 % die
Meinung, dass sich die Politik nur mit kurzfristigen Themen beschäftigt, 76 % sagten, die wirklich wichtigen
Themen werden von den Parteien zu wenig behandelt, und 49 % der Bevölkerung vertraten die Ansicht, dass Österreich
von der neuen Regierung nicht profitieren wird. Lediglich 24 % erklärten, der Wahlkampf habe ihr Interesse
für die Politik gesteigert. |