Neurodegenration kann kognitive Funktionen verbessern Neurowissenschaftler rütteln an einem
alten Dogma
Bochum (idw) - Der Nervenzellen-Botenstoff Glutamat spielt eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung
von Gedächtnisfunktionen, führt in zu hohen Konzentrationen aber auch zum Untergang von Nervenzellen.
Beim Morbus Huntington, einer neurologischen Erbkrankheit, die mit motorischen und kognitiven Beeinträchtigungen
einhergeht, kommt es wahrscheinlich dadurch zum Zelltod. Neurowissenschaftler der Ruhr-Universität und des
Leibniz Research Centers in Dortmund konnten nun zeigen, dass sich bei Patienten aufgrund der erhöhten Ausschüttung
von Glutamat die kognitiven Leistungen teilweise deutlich verbessern - ein scharfer Gegensatz zur allgemeinen Meinung
über die Veränderung kognitiver Funktionen bei neurodegenerativen Erkrankungen. Die Forscher berichten
im Journal of Neuroscience.
Glutamat und das sensorische Gedächtnis
Glutamat ist ein Botenstoff, durch den Nervenzellen untereinander kommunizieren. Das Glutamat ist insbesondere
für das sensorische Gedächtnis relevant und scheint es spezifisch zu beeinflussen. Das sensorische Gedächtnis
kann man als eine Art Zwischenspeicher verstehen, der zwischen die allgemeine sensorische Analyse einkommender
Informationen und das Kurzzeitgedächtnis geschaltet ist. Aufgrund des spezifischen Einflusses von Glutamat
auf sensorische Gedächtnisleistungen, könnten speziell diese Funktionen bei einer erhöhten Aktivität
des Glutamatsystems verbessert sein.
Glutamat als Krankheitsauslöser Morbus Huntington
Die erhöhte Freisetzung von Glutamat wird als ein möglicher krankheitsauslösender Mechanismus
bei Morbus Huntington diskutiert. Die Krankheit ist eine vererbte, neurologische Erkrankung, die durch unkontrollierte
Überbewegungen und einen Verfall kognitiver Funktionen bis hin zur Demenz gekennzeichnet ist. Erste Symptome
treten meist zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr auf. Insbesondere Lang- und Kurzzeitgedächtnis, sowie auch
die Aufmerksamkeit sind betroffen.
Huntingtonpatienten waren schneller und machten weniger Fehler
Um die Funktion des sensorischen Gedächtnisses zu prüfen, stellten die Forscher Patienten mit
Morbus Huntington, die schon Krankheitssymptome zeigten, Menschen, die das entsprechende Gen tragen, aber noch
keine Symptome hatten, und eine gesunde Kontrollgruppe vor dieselbe Aufgabe. Sie spielten den Probanden jeweils
Töne in drei verschiedenen Höhen und von zwei verschiedenen Längen vor. Die Testpersonen sollten
mittels Daumendruck links bestätigen, wenn der Ton lang war, mittels Daumendruck rechts, wenn er kurz war,
unabhängig von der Tonhöhe. Die Tonhöhe wurde ebenfalls variiert, was dazu führt, dass selten
auftretende, abweichende Töne Prozesse des sensorischen Gedächtnisses auslösen. Es zeigte sich,
dass die Huntington-Patienten, die schon Symptome der Krankheit aufwiesen, schneller reagierten und weniger Fehler
machten als die beiden anderen Gruppen. Neurophysiologische Aktivitäten, die Prozesse des sensorischen Gedächtnisses
widerspiegeln, waren ebenfalls verstärkt. Im Gegensatz zu allen anderen kognitiven Funktionen waren also die
Funktionen des sensorischen Gedächtnisses bei symptomatischem Morbus Huntington verbessert.
Dogma muss überdacht werden
"Das Dogma: Neurodegeneration gleich schlechtere kognitive Leistung muss also überdacht werden",
meint Christian Beste. In Abhängigkeit des neuronalen Systems, welches eine kognitive Funktion vermittelt,
kann es zu Verschlechterungen, aber auch zu Verbesserungen kognitiver Funktionen kommen.
Titelaufnahme
Christian Beste, Carsten Saft, Onur Güntürkün, Michael Falkenstein: Increased Cognitive Functioning
in Symptomatic Huntington's Disease As Revealed by Behavioral and Event-Related Potential Indices of Auditory Sensory
Memory and Attention. In: The Journal of Neuroscience, November 5, 2008, 28(45):11695-11702; doi:10.1523/JNEUROSCI.2659-08.2008 |