Greifswald (idw) - Menschen, die unter Panikattacken und Platzangst (Agoraphobie) leiden, können
mit einer speziellen Psychotherapie in relativ kurzer Zeit von ihrem Leiden befreit werden. Das belegt eine deutschlandweite
Studie, die in diesen Tagen abgeschlossen wird. An dem Projekt war auch das Institut für Psychologie der Universität
Greifswald beteiligt. Hier wurden 47 der insgesamt 360 Studienteilnehmer behandelt.
In Deutschland leiden rund 2,5 Millionen Menschen an Panikattacken und Agoraphobie. Rund 70 % der Patienten
mit Panikstörungen leiden auch an anderen Erkrankungen (Alkoholabhängigkeit, Phobien, Depression). Rund
28 % sind abhängig von Medikamenten. In der Regel erhalten die Betroffenen erst nach sieben Jahren eine Psychotherapie.
"Durch eine Frühintervention könnten wir vielen Patienten viel Leid ersparen und dem Beitragszahler
der Krankenkassen auch viel Geld. Aus diesem Grund haben wir an einer Ausschreibung des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung teilgenommen. Das Ministerium sah dringenden Handlungsbedarf bei der Erforschung der Effektivität
von Psychotherapie. Unser Konsortium mit Dresden, Berlin und Greifswald als Leitzentren wurde mit einer Summe von
3,5 Mio. Euro unterstützt. Davon hat Greifswald ca. 400.000 Euro bekommen." Das erklärt Professor
Dr. Alfons Hamm Institut für Psychologie, Universität Greifswald.
Auch wenn die Nachuntersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen sind, belegen die Zwischenergebnisse, dass mit
einer sechswöchigen Verhaltenstherapie fast 90 Prozent der Patienten geholfen werden kann. Ihnen wird ein
langfristig funktionaler Umgang mit Angst vermittelt. Die Effektstärken der Therapie sind extrem gut. "Wir
haben beim Rückgang der selbst beurteilten Angst eine Effektstärke von 2.26 gemessen. Das ist außergewöhnlich
gut. Die Betroffenen werden wieder mobiler und sie überwinden ihre Angst vor der Angst, wenn wir sie während
der Behandlung gezielt mit der Realität konfrontieren. Das heißt, sie müssen mit dem Bus fahren,
ein Kaufhaus besuchen oder allein im Wald spazieren gehen, alles Dinge, die sie lange vermeiden haben, weil sie
Angst vor Panikattacken hatten," so Prof. Dr. Alfons Hamm.
Der Psychologe hofft, dass die sehr effiziente Therapie flächendeckend eingeführt wird. So könnte
mehr Betroffenen geholfen werden. In Mecklenburg-Vorpommern warten Patienten oft ein Jahr auf eine Behandlung.
Außerdem ist die Therapie relativ preiswert.
Das Krankheitsbild
Eine Panikstörung ist gekennzeichnet durch wiederkehrende Panikattacken, d.h. Episoden von schnell
ansteigender Furcht, in Verbindung mit massiven Körpersymptomen (Herzschlagen, Schwitzen, Schwindel usw.)
und Befürchtungen, zu sterben, die Kontrolle zu verlieren oder sich bei einer Panikattacke zu blamieren. Während
Panikattacken ein häufiges und unproblematisches Phänomen sind, ist die Panikstörung durch Erwartungsangst
(Angst vor der Angst) und Versuche, die Angst zu vermeiden (körperliches Schonverhalten, Verzicht auf Kaffee
etc.) gekennzeichnet. Viele Panikpatienten vermeiden in einem zweiten Schritt nach Möglichkeit nicht nur die
Angstattacken selbst, sondern auch Situationen in denen sie diesen "schutzlos" ausgeliefert sein könnten
(Alleinsein, Menschenmengen, enge Räume, weite Plätze). Dieses Phänomen bezeichnet man als Platzangst
bzw. Agoraphobie. Leider hilft die Vermeidung von Angst nur kurzfristig und alle Versuche, die Angst zu vermeiden
führen langfristig zu einem Anstieg der Erwartungsangst.
Verbreitung
In Deutschland sind 3,6 Prozent der Bevölkerung betroffen. Die Störung tritt am häufigsten
im Alter von 25-30 Jahren auf. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. 70 % der Patienten mit Panikstörungen
leiden auch an anderen Erkrankungen (Alkoholabhängigkeit, Phobien, 30 - 50% hatten im Verlauf ihres Lebens
eine Depression).
Die Therapie im Rahmen der Untersuchung
In einer kompakten Verhaltenstherapie wird den Patienten ein langfristig funktionaler Umgang mit Angst
vermittelt. Erst konfrontieren sich die Patienten mit Körpersymptomen und in einem zweiten Schritt mit angstauslösenden
Situationen wie Bus, Kaufhaus, Wald, wobei sie Vermeidung (Flucht, Ablenkung oder Sicherheitssignale) unterlassen
und die Angst zulassen, bis sie von alleine wieder nachlässt.
Eine medikamentöse Therapie ist für diese Patientengruppe langfristig kontraproduktiv, da dadurch
die Funktion von Angstvermeidung aufrechterhalten wird. Besonders Benzodiazepine wie Diazepam oder Faustan können
dazu führen, dass das Krankheitsbild chronisch wird. Außerdem bergen sie ein hohes Abhängigkeitspotential.
Das Projekt
Das Gesamtprojekt wurde aufgrund einer Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
beantragt. Von 38 Anträgen wurden 5 bewilligt. Nach Dresden und Berlin ist Greifswald das Zentrum mit den
meisten Patienten. In diesem Projekt arbeiten in der Ambulanz des Instituts für Psychologie inzwischen sieben
zertifizierte Psychotherapeuten. Alle Therapeuten wurden für die Durchführung diese standardisierte Therapie
(manualgesteuert) vom verantwortlichen Zentrum in Dresden geschult. Die Therapien wurden aufgezeichnet und von
Dresden begutachtet.
Ergebnisse
Eine Zwischenauswertung zeigt äußerst ermutigende Ergebnisse. Die Effektstärken der Therapie
sind extrem gut. Wir haben beim Rückgang der selbst beurteilten Angst eine Effektstärke von 2.26 (von
einem starken Effekt spricht man bei einer Effektstärke von 0.8). Bei der Fremdbeurteilung sieht es sogar
noch besser aus (2.8).
- Die Mobilität, welche bei diesen Patienten deutlich eingeschränkt ist, nimmt wieder deutlich zu,
wobei hier die Patienten besonders von der Reizkonfrontation in der Realität (Exposition in vivo) profitieren.
Die Effektstärke liegt hier bei 1.65.
- Die Therapie wird von den meisten Patienten (90 %) bis zum Katamnese (Nacherhebung nach einem Jahr) durchgeführt.
Zehn Prozent Patienten brechen die Therapie ab. Das ist eine sehr geringe Quote.
- Hohe Effektstärken ergeben sich auch bei den sogenannten sekundären Effektvariablen (z.B. Lebensqualität,
Depressivität, Arbeitsfähigkeit). So geht neben der Ängstlichkeit auch die Depression deutlich zurück
(Effektstärke 0.7). Dies ist insofern wichtig, da viele Patienten routinemäßig antidepressive Medikamente
verschrieben bekommen: Die Depressivität geht aber eben auch durch eine adäquate Psychotherapie zurück,
wodurch keine antidepressive Medikation mehr erforderlich ist.
- Mit der Therapie können deutliche Kosteneinsparungen erreicht werden. Die Kosten-Nutzen Relation beträgt
1:5,6.
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