Wien (bpd) - Mehr als zwei Generationen trennen uns mittlerweile von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs.
Wenn wir von den Kriegszeiten und den großen historischen Wegmarken der Nachkriegszeit sprechen, dann sprechen
wir bereits von unserer Großväter- und Großmüttergeneration. Bezogen auf die Katastrophe
des Zweiten Weltkrieges und den Holocaust haben aber auch wir Nachgeborene Verantwortung.
Dieses „Nachgeboren-Sein“ befreit uns von Diskussionen um persönliche Schuld. Es befreit uns aber nicht von
der Verpflichtung zur Analyse und Verantwortung zum eindeutigen Standpunkt.
Die Gründungsväter der Zweiten Republik konnten in diesen Frühlingstagen des Jahres 1945 auf nichts
anderem aufbauen als auf einer einzigen gemeinsamen Überzeugung: dass es den Versuch wert sei, dieses Österreich
wieder zu errichten. Es war diese Unterzeichnung der österreichischen Unabhängigkeitserklärung nichts
anderes als ein Akt größten politischen Mutes – erwachsen aus dem persönlichen Erleben des mehrfachen,
allergrößten Scheiterns.
Karl Renner, Adolf Schärf, Leopold Kunschak und Johann Koplenig – die Repräsentanten der drei großen
politischen Lager abseits der nationalsozialistischen Verbrecherideologie – waren allesamt Zeugen eines mehrfachen
politischen Versagens innerhalb von nur einer Generation: Sie sahen den österreichischen Vielvölkerstaat
in einem mörderischen Weltkrieg untergehen.
Sie erlebten die Hilflosigkeit einer nationalen Politik angesichts der Wirtschaftskrise am Ende der zwanziger Jahre.
Sie waren Täter oder Opfer beim Scheitern des Versuchs, mithilfe eines autoritären Regimes und mit unterdrückerischen
Methoden Österreich als eigenständigen Staat zu erhalten. Und sie standen auf den Trümmern eines
Landes, das nun durch den nationalsozialistischen Wahn zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre zuerst Mittäter,
letztlich genauso Leidtragender in einem noch viel grausameren Krieg geworden war.
Die Trümmer und Wirren, in denen diese Wiedererrichtung des Kleinstaates Österreich stattfand, haben
zum Erfolg des nahezu aussichtslos scheinenden politischen Kraftakts beigetragen: Während Renner bereits seine
Notifikation an die Besatzungsmächte formulierte, herrschten in vielen Teilen des Landes noch sinnlose, brutale
Rückzugsgefechte.
Obwohl es offensichtlich ist, dass das NS-Regime nicht nur politisch und moralisch, sondern auch militärisch
untergegangen war, wurden in diesen Wochen noch Dutzende Menschen wegen „Befehlsverweigerung“ standrechtlich hingerichtet.
In dieser Situation erhofften sich die Menschen im Lande von der Regierung Renner eine Beruhigung und Stabilisierung
der Situation.
Es waren mehrere Faktoren, die zum Erfolg des überaus mutigen politischen Aktes der österreichischen
Unabhängigkeitserklärung führten. Zum einen berief sich Karl Renner, der wie kaum ein anderer österreichischer
Politiker Klugheit und Weisheit, aber auch Illusionslosigkeit, Irrglaube und Läuterung in seiner politischen
Biographie vereint, auf die Moskauer Konferenz 1943. Gestützt auf diese haben alle politischen Parteien des
früheren Österreich beschlossen, die Republik Österreich als selbstständigen und unabhängigen
demokratischen Staat wieder zu errichten.
Zum anderen war der Nachweis, dass sich viele Vertreter des politischen Österreich glaubhaft im Widerstand
zum NS-Regime befunden hatten, ein wesentlicher Beitrag für die Anerkennung der Bemühungen um Österreichs
Wiedererrichtung.
Österreichs Chance auf Wiedererrichtung hing an dem dünnen Faden der Glaubhaftmachung, dass es nicht
wenige Österreicherinnen und Österreicher gab, die in den Zeiten der NS-Diktatur für Freiheit und
Demokratie einstanden – und dies nahezu immer mit ihrem Leben bezahlten. Ihrer gerade an diesem 27. April zu gedenken,
halte ich für eine besondere patriotische Pflicht jedes Österreichers!
Das Ausmaß der Devastierung durch NS-Diktatur und Eroberungskrieg lässt sich in unserer Generation am
ehesten durch die unvorstellbaren Zahlen der menschlichen Opfer fassen: 100.000 Österreicher – darunter mehr
als 65.000 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger – wurden in den Konzentrationslagern ermordet.
250.000 aus Österreich eingezogene Soldaten und 50.000 österreichische Zivilisten fanden den Tod. 250.000
Soldaten kamen verletzt oder dauerhaft versehrt aus dem Krieg, 500.000 mussten als Kriegsgefangene oft jahrelang
für den Verbrecherkrieg büßen. Über 100.000 Menschen in politischen Widerstand wurden verfolgt
und riskierten ihr Leben. Weltweit forderte der Zweite Weltkrieg mindestens 55 Millionen Menschenleben. Hinter
jeder Opferzahl stehen unfassbare und unbeschreibliche Schicksale und Tragödien.
Bis zur Wiedererlangung der völligen staatlichen Eigenständigkeit sollten aber noch weitere zehn Jahre
vergehen. Zwischenzeitlich zeichnete sich bereits der wirtschaftliche Aufstieg Österreichs aus den Ruinen
des Krieges ab – auch hier galt es und gilt es immer noch, einer ganzen Politikergeneration den ihr zustehenden
Dank abzustatten.
Und wir sollten uns auch mit Dankbarkeit an die großzügige Unterstützung durch den Marshallplan
erinnern. Diese wirtschaftliche Wiederaufbauhilfe, geleistet von den Vereinigten Staaten von Amerika, war die erste
Grundlage für das Überleben der nahezu zerstörten österreichischen Wirtschaft und die wichtigste
Maßnahme, um das nur langsam steigende Vertrauen in Demokratie und Marktwirtschaft zu stabilisieren.
Welche Schlüsse lassen sich also heute, 64 Jahre später, aus den Ereignissen des April 1945 gewinnen?
Was muss unsere Generation, was müssen künftige Generationen als wesentliche Erkenntnis dieses Schicksalstages
weiterreichen? Zum einen verlangt der politische Mut und Weitblick, den die Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung
unter Beweis gestellt haben, immer wieder aufs Neue nach Demut und nach Dankbarkeit.
Wie sehr erfolgreiche Politik vor allem davon abhängt, das Richtige im richtigen Moment auf richtige Weise
zu tun, das lässt sich bis heute kaum besser illustrieren. Es geht darum, das Notwendige zu erkennen und es
geht um entschlossenes Handeln in schwierigen Zeiten.
Weiters lehrt uns der April 1945, dass die Kraft einer Gemeinschaft dann zu einem Vielfachen potenziert wird, wenn
ein breit anerkanntes, unumstrittenes Ziel im Mittelpunkt steht – und persönliche Konflikte dahinter zurückstehen.
Die Einmütigkeit, mit der 1945 die politischen Gegner der Vorkriegsjahre ihr Ziel der Wiedererrichtung eines
freien Österreich verfolgten, machte in den späteren Jahren vielfach Schule: Gemeinsames Handeln und
der Wille zur Zusammenarbeit, um Österreich voran zu bringen, ist das Erfolgskonzept unseres Landes.
Genauso erkannten die politischen Akteure der damaligen Zeit, dass dies nur gelingen kann, wenn auch ein sozialer
Ausgleich angestrebt wird. Das System des sozialen Ausgleichs wurde in der Sozialpartnerschaft etabliert, die wesentlich
dazu beitrug, die unterschiedlichen Interessen von Arbeitnehmern, Selbständigen und Bauern zu gemeinsamem
Handeln zum Wohle aller zu bündeln. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dieses Land in den Kreis der erfolgreichsten
Nationen aufsteigen zu lassen.
Zwei Anknüpfungspunkte an den April 1945 scheinen mir angesichts der großen Herausforderungen, in denen
sich die gesamte Weltwirtschaft seit Monaten befindet, besonders wichtig. Angesichts von 80 Millionen Menschen,
die 2009 im vereinten Europa von Armut betroffen sind, ist die Frage des sozialen Ausgleichs wieder brennend.
Nie wieder darf soziale Perspektivlosigkeit zu einer kollektiven Radikalisierung führen.
Daher hat die Krisenbekämpfung dieser Bundesregierung vor allem die soziale Absicherung der Leidtragenden
der Wirtschaftskrise im Blick. Unser oberstes Ziel ist es Beschäftigung zu erhalten und für den Fall
der Arbeitslosigkeit den Menschen eine Perspektive zu geben.
Das letzte Mittel, dessen sich eine verantwortliche Politik begeben darf, ist nämlich die gelebte Solidarität
in einer Gemeinschaft. Das Organisieren gerechter Solidarität ist die Grundlage jedes gemeinschaftlichen Handelns
– oder, wie Albert Schweitzer es formulierte: "Die erste Entwicklungsstufe in der Ethik ist der Sinn für
Solidarität mit anderen Menschen."
Frieden herzustellen, und Frieden zu sichern, erfordert eine äußerst überlegte, verantwortungsvolle,
solidarische und weitblickende Politik vor allem auf europäischer Ebene. Vor diesem Hintergrund kann es uns
nicht gleichgültig sein, welchen Weg die Europäische Union in den nächsten Jahren nimmt.
Ob Europa weiterhin gemeinsam in der Bekämpfung der Wirtschaftskrise, der Ankurbelung der Konjunktur voranschreitet,
ob Europa den sozialen Ausgleich in den Mittelpunkt seiner Politik stellt, ob sich Europa mit zusätzlichen
Mitgliedern stärker macht – oder sich damit überfordert. Selbst der luxemburgische Ministerpräsident
– er gilt am gesamten Kontinent als glühender Befürworter des gemeinsamen europäischen Projekts
– hat hier in diesem Raum vor Kurzem klare, warnende Worte über die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs
gesprochen.
Diese sollten nicht ungehört verhallen, wollen wir nicht riskieren, dass das Verständnis aller Bewohner
Europas für den weiteren gemeinsamen Weg Europas rasant abnimmt.
Lassen Sie mich abschließend noch einen Gedanken formulieren, der sich bei der Beschäftigung mit der
Wiedergeburt Österreichs aufdrängt: Vergessen wir über allem Bemühen, das Richtige gegen die
Wirtschaftskrise rasch und beherzt zu tun, nicht, was unsere Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen
ist. Vergessen wir nicht, dass die Grundlage dieser europäischen Erfolgsgeschichte – ob es sich um Österreich
im Speziellen oder die europäische Wiedervereinigung im Großen handelt – das Bekenntnis zu Freiheit,
Demokratie und Aufklärung ist.
Vergessen wir aber nicht, dass auch in der Krise die Verpflichtung zur Weitergabe von Wissen, Bildung und Kultur
aufrecht bleibt, wollen wir nicht unsere erfolgreiche politische Kultur erodieren lassen.
Denken wir immer daran, dass es einen Weg gibt, der Österreich seit 64 Jahren lebenswerter und wohlhabender
gemacht hat: den des gesellschaftlichen Ausgleichs und der gelebten Solidarität.
Der 27. April mahnt uns auch daran, die Lektionen der Geschichte nicht zu vergessen. Es ist zum einen das „Nie
wieder!“, dem sich in dieser Zweiten Republik alle demokratisch gesinnten Österreicherinnen und Österreicher
verpflichtet sehen. Das ist besonders wichtig, da auch heute noch Prozesse gegen Holocaust-Leugner notwendig sind.
Dieses „Nie wieder!“ zu Gewalt und Faschismus heißt selbstverständlich für sozialen Ausgleich und
Gerechtigkeit einzutreten. Das spiegelt jenen Geist der Verbundenheit und des Optimismus wieder, der in diesen
Anfangstagen der II. Republik so typisch war und der uns immer wieder aufs neue zusammenführen soll. |