|
Gedenkveranstaltung im Parlament |
|
erstellt am
05. 05. 09
|
Heinz Fischer: Bekenntnis zu europäischen Werten ist unverzichtbar
Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament
Wien (pk) - Die Parlamentskorrespondenz dokumentiert den Wortlaut der Rede, die Bundespräsident
Heinz Fischer bei der Gedenkveranstaltung im Parlament gehalten hat.
Sehr geehrte Frau Präsidentin des Nationalrats, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates! Geschätzte
Mitglieder der österreichischen Bundesregierung! Exzellenzen! Verehrte Damen und Herren unserer gesetzgebenden
Körperschaften! Werte Gäste! Meine Damen und Herren!
In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, als ich ein Kind war, verwendeten meine Eltern im Gespräch
zu Hause, wenn sie sich über politische Themen unterhielten oder die aktuellen Ereignisse besprachen, die
Kunstsprache Esperanto – die sie beide perfekt beherrschten und von der ich kein Wort verstand. Sie wollten damit
verhindern, dass ich vor anderen Leuten unabsichtlich etwas ausplaudern könnte, was zu Hause von zu heiklen
Themen gesprochen wurde. Schließlich war die Verbreitung von "Feindpropaganda" und erst recht die
"Wehrkraftzersetzung" damals mit der Todesstrafe bedroht.
Aber eines Tages sagte mein Vater zu mir, dass Hitler tot sei und der Krieg praktisch zu Ende und er hoffe, dass
damit das Ärgste vorbei sei und wieder ein einigermaßen normales Leben beginnen könne.
Ich war damals knapp sieben Jahre alt und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Wieso Esperanto aus den Gesprächen
meiner Eltern plötzlich verschwunden war. Wieso unsere Wohnung nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr verdunkelt
werden musste, wenn man ein Licht andrehen wollte. Wieso das Radio für mich nicht mehr tabu war. Und wieso
die Frau Lehrerin bei Schulbeginn nicht mehr mit den Worten 'Heil Hitler, Frau Lehrerin' begrüßt werden
musste.
Und erst allmählich habe ich es verstanden: Der Krieg war tatsächlich vorbei. Kein Bombenalarm mehr.
Die nationalsozialistische Diktatur war zusammengebrochen. Die Hakenkreuzfahnen waren verschwunden und mit ihnen
die SS-Uniformen. Und Österreich wurde als selbständiger Staat, als Demokratie – wenn auch mit Besatzungssoldaten
im Lande – wieder hergestellt.
Aber viel, viel länger dauerte es um zu erfahren und zu begreifen, was in dieser schrecklichen Zeit von 1938
bis 1945 (also in den ersten sieben Jahren meines Lebens), der Zeit, derer wir heute gedenken, noch alles passiert
war. Um zu erfahren, dass der Zweite Weltkrieg systematisch vorbereitet und am 1. September 1939 mit dem Überfall
auf Polen vorsätzlich vom Zaun gebrochen wurde.
Dass Rassengesetze erlassen und Konzentrationslager gebaut wurden, was für allzuviele Menschen einem Begräbnis
aller menschlichen Würde gleichkam. Dass man es zum Staatsziel gemacht hat, sogenannte minderwertige Rassen
systematisch zu eliminieren und dass diesem Wahn sechs Millionen Menschen, vorwiegend Juden, zum Opfer fielen.
Dass auch Roma, Sinti und Homosexuelle zu den Opfern des Regimes zählten.
Dass das NS-Regime jede Form von Widerstand mit dem Tode bestrafte und friedensorientierte friedliche Menschen
wie Franz Jägerstätter ihre mutige Haltung mit dem Leben bezahlen mussten. Dass allein im Landesgericht
Wien - gar nicht weit von hier - während der NS-Zeit 1.148 Todesurteile vollstreckt wurden, das heißt,
dass vom März 1938 bis April 1945 Woche für Woche allein in Wien drei bis vier Hinrichtungen stattfanden
und in den letzten Kriegsmonaten entsprechend mehr. - Das und vieles andere haben wir im Laufe der Zeit erfahren
und beschämt zur Kenntnis nehmen müssen.
Was aber bis heute nicht leicht zu verstehen und noch schwerer zu beantworten ist, das ist die simple Frage: Wie
konnte es dazu kommen? - Wieso konnte das alles geschehen? - Wie war es möglich, dass im "Land der Dichter
und Denker", im Zentrum Europas, im aufgeklärten 20. Jahrhundert, in einer Region, die Schiller und Goethe,
Mozart und Beethoven, Kant und Hegel, große Humanisten und Nobelpreisträger hervorgebracht hatte, auch
Hitler und Himmler, Goebbels und Göring, Eichmann und Bormann und andere heranwuchsen, Macht erlangten und
sogar von allzuvielen allzu lange bejubelt wurden.
Es ist immer noch schwer, darauf überzeugende, einleuchtende Antworten zu geben. Aber eines wissen wir: Es
genügt nicht eine Person, es genügt nicht Hitler für alles verantwortlich zu machen. Es ist auch
nicht damit getan, sich an die Verbrechen dieser Epoche zu erinnern. Wir brauchen mehr als Erinnerung.
Wir müssen uns mit den einzelnen Elementen dieses Versagens der Humanität, dieses Begräbnisses aller
menschlichen Würde, mit dem Phänomen der Banalität und der Gigantomanie des Bösen beschäftigen.
Das heißt, wir müssen uns mit dem Phänomen der Gewalt als Instrument der Politik beschäftigen,
mit dem Phänomen des Wegschauens. Wir müssen uns mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzen.
Auch mit dem ins Verderben führenden Grundsatz, wonach der Zweck die Mittel heiligt. Und wir müssen der
Wahrheit ohne Selbstmitleid auf den Grund gehen: denn Gedenken ist wirklich mehr als Erinnerung.
Das alles ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass wir uns zu Werten
und Prinzipien bekennen müssen. Das ist nicht altmodisch, sondern unverzichtbar für die Humanität
und Stabilität einer Gesellschaft. Wir müssen uns zum europäischen Menschenbild, zu Menschenrechten
und zur Demokratie bekennen. Grenzüberschreitend.
Lehren dieser Art hat man ja nach 1945 tatsächlich zu ziehen versucht und auch gezogen. Zum Beispiel durch
die Gründung der Vereinten Nationen. Durch die Deklaration der Menschenrechte, die heute schon angesprochen
wurden, deren Artikel 1 auf der Ringseite unseres Parlamentsgebäudes in die Außenwand eingraviert wurde
und lautet: 'Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen
begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.'
Dieser Satz müsste und sollte unser Programm sein und zu diesem Zweck mit Leben erfüllt werden.
In Europa wurden auch Konsequenzen durch das Projekt der Europäischen Zusammenarbeit gezogen. Aber auch durch
die Gründung des Europarates, dessen 60. Geburtstag wir heute, am 5. Mai 2009 feiern und der in dieser Gedenkstunde
ganz besonders gewürdigt werden soll. Und auch in Österreich wurden wichtige Schritte gesetzt, einzelne
hat die Frau Präsidentin des Nationalrats soeben aufgezählt.
Gerade der Europarat drückt in seiner Entstehung das Verlangen der Völker dieses Kontinents aus, nach
den Schrecken der Gewaltherrschaft, der Diktatur und des Krieges einen Raum des Friedens und der Freiheit zu schaffen.
Am Beginn stand die berühmte Rede von Winston Churchill an der Universität Zürich im Jahr 1946,
in der er erstmals von einem 'Europarat' gesprochen hatte – eine visionäre Idee, die auf eine friedliche Zukunft
der Völkerfamilie abzielte. Buchstäblich auf den Trümmern der Nachkriegszeit, die zu diesem Zeitpunkt
durchaus noch nicht alle beseitigt waren, wurde der Europarat von 10 Staaten im Jahr 1949 gegründet – als
Instrument dafür, dass sich die Grausamkeiten und Leiden der davorliegenden sieben Jahre, 1938 bis 1945, nicht
wiederholen können, aber auch mit dem Ziel, einer neu entstehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung
in Europa ein vernünftiges und solides Fundament zu geben.
Die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit waren und sind zentrale Themen des Europarates.
In den folgenden Jahren hat sich dieser Europarat zu einer geachteten europäischen Institution entwickelt,
die in vielen Bereichen tätig wurde und die sich insbesondere mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
ein wirkungsvolles und vorbildliches Instrumentarium zum Schutz der wichtigsten Grund- und Freiheitsrechte gegeben
hat.
Auch Österreich hat sich seit seinem Beitritt zum Europarat im Jahr 1956 traditionell für dessen Anliegen
engagiert. Mit Lujo Toncic-Sorinj, Franz Karasek und Walter Schwimmer hat unser Land dreimal den Generalsekretär
des Europarates gestellt und mit Karl Czernetz und Peter Schieder zweimal den Präsidenten der Parlamentarischen
Versammlung.
Gerade in diesem Haus und in diesem Rahmen möchte ich unterstreichen, wie sehr österreichische Parlamentarier
in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, aber auch in deren Ausschüssen und Gremien, sich stets
engagiert und außerordentlich bewährt haben. Ihnen allen gilt unser wirklich aufrichtiger Dank!
Im Jahr 2009 - 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – liegt es nahe, auch kurz der Entwicklungen zu gedenken,
die sich in diesen letzten 20 Jahren durch die politischen Umbrüche in Europa ergeben haben. Sehr früh
hatte der Europarat die politischen Chancen erkannt, die sich durch die Umwälzungen in "Osteuropa"
eröffnet haben, und er hat zu dem beginnenden Prozess der Demokratisierung, Öffnung sehr wichtige Beiträge
geleistet.
In weiterer Folge begann ein dynamischer Erweiterungsprozess, der mit der Aufnahme Ungarns in den Europarat im
November 1990 seinen Anfang nahm und den Europarat in wenigen Jahren zu einer wirklich umfassenden europäischen
Organisation gemacht hat. Somit hat der Europarat in seiner sechzigjährigen Geschichte immer wieder wichtige
gesellschaftliche und politische Anliegen der jeweiligen Zeit aktiv mitgestaltet. Er hat Antworten gegeben auf
drängende Fragen und versucht, Antworten zu geben auf die Schrecken des Krieges und der Diktatur und hat nach
dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach der Überwindung der kommunistischen Zwangsherrschaft in Osteuropa
Beiträge zum Zusammenwachsen eines demokratischen Europas geleistet.
Das Motto dieser Gedenkveranstaltung "Vom Begräbnis aller menschlichen Würde zur Unteilbarkeit der
Menschenrechte" ist dem Gedenken an die Opfer von Rassismus, Gewalt und Diktatur gewidmet. Mit dem umfassenden
Schutz der Menschenrechte, mit festen Positionen in den Bereichen von Rechtstaatlichkeit und Demokratie, mit dem
Schutz von Minderheiten, mit dem Konzept der europäischen Integration und mit den Aktivitäten des Europarates
ziehen wir konkrete Lehren aus einer schlimmen Vergangenheit, damit Diktatur, Rechtlosigkeit und Verletzung der
Menschenwürde ein für alle Mal gebannt bleiben. Ich betrachte das als unsere gemeinsame gesamtösterreichische,
gesamteuropäische Verpflichtung für die Zukunft. Genau das sind wir künftigen Generationen schuldig.
|
|
|
|
Barbara Prammer: Wir brauchen einen breiten moralischen Grundkonsens
Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament
Wien (pk) – Die Parlamentskorrespondenz dokumentiert den Wortlaut der Rede, die Nationalratspräsidentin
Barbara Prammer bei der Gedenkveranstaltung im Parlament gehalten hat.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Seit 1998 begehen wir den Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.
Er findet also heute zum 12. Mal statt und ist für uns ein jährlicher Fixpunkt geworden. Eben deswegen
darf er nicht zum reinen Formalakt verkommen, zum bloßen Ritual, das im Wesentlichen nur der Rückschau
dienen soll. Einer solchen Entwicklung würde ich aus tiefer Überzeugung entgegentreten.
Für mich ist der Gedenktag keine Pflichtübung und er darf auch niemals eine solche werden. Denn Gedenken
ist mehr als Erinnerung. Das offizielle Österreich hat ohnedies erst in den neunziger Jahren nach mühsamen
Debatten zu einer neuen selbstkritischen Position im Umgang mit der eigenen Vergangenheit gefunden. Zu einer Position
der aktiven Auseinandersetzung und der Übernahme von Verantwortung. Ein Grundkonsens, dem manche nur durch
Lippenbekenntnisse zu entsprechen versuchen. Ein Grundkonsens, der in Erklärungen bemüht wird, sich aber
im realen Handeln oft nicht widerspiegelt.
Wir haben uns daher Fragen zu stellen. Zunächst die Frage, wie viele Bürgerinnen und Bürger diesen
Grundkonsens tatsächlich mittragen und sich dafür auch einsetzen und engagieren? - Die Frage, ob die
Auseinandersetzung mit unserer Geschichte heute ausreichend geführt wird? - Ebenso stellt sich die Frage,
welche Konsequenzen aus dieser Auseinandersetzung gezogen werden? - Treten wir beispielsweise Rassismus und Antisemitismus
in unserer Gesellschaft wirklich entschieden genug entgegen?
Ich verweise hier auf Ereignisse, die uns die Aktualität dieser Fragestellungen leider drastisch vor Augen
führen: Ich erinnere an die Schändung der Gedenkstätte Mauthausen erst vor wenigen Wochen. Oder
an die nach wie vor vielen Verstöße gegen das Verbotsgesetz. Umso wichtiger ist es mir hervorzuheben,
dass sich viele Menschen mit großem Engagement in Projekten aktiv mit der Zeitgeschichte auseinandersetzen.
Gerade im Schulbereich wurden in den vergangenen Jahren wertvolle Initiativen gesetzt. So fördert zum Beispiel
der Nationalfonds hervorragende zeitgeschichtliche Projekte und ich halte es für unverzichtbar, diese Unterstützung
auch weiterhin auszubauen und zu garantieren.
Diese positiven Beispiele dürfen uns aber nicht übersehen lassen, wie viele Kinder und Jugendliche noch
immer wenig über diese Zeit erfahren, wie viele Ältere die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
noch immer ablehnen. Wir dürfen nicht übersehen, wie über Generationen hinweg Geschichtsdeutungen
und Werthaltungen weitergegeben werden, die ein historisch falsches Bild des Nationalsozialismus zeichnen. Aus
diesem Grund dürfen wir uns – wie von Elie Wiesel gefordert – nicht nur mit dem bloßen Erinnern zufriedengeben,
sondern müssen alles in die Gegenwart und damit in unseren Lebensalltag holen. Für mich bedeutet das,
Ausgrenzung dort aufzuzeigen, wo sie immer noch oder schon wieder Platz greift, es heißt, konsequent gegen
die Diskriminierung von Minderheiten aufzutreten, es heißt, Antisemitismus sowie Leugnung, Verharmlosung
und vor allen Dingen die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen nicht zuzulassen.
Nicht zuletzt haben wir uns damit auseinanderzusetzen, dass Entschädigungsleistungen weiterhin umstritten
sind. Umso anerkennenswerter ist es, wenn trotz unklarer Entscheidungsgrundlagen vor wenigen Tagen in Linz mit
der Rückgabe eines Klimt-Bildes ein sehr starkes Signal gesetzt wurde.
Die Demokratie ist mehr als die Summe von Institutionen einer Verfassung. Sie baut auf Prinzipien wie Toleranz,
Respekt gegenüber Minderheiten und Zivilcourage. Sie baut auf dem festen Bekenntnis aller Bürgerinnen
und Bürger, sich für diese Prinzipien einzusetzen. Dieses Bekenntnis ist in Zeiten wachsender Interessenskonflikte
umso bedeutsamer. Wir wissen heute: Die Verstärkung der sozialen Missverhältnisse und die zunehmende
Radikalisierung des politischen Klimas waren wesentliche Vorbedingungen für den Aufstieg des Faschismus.
Die Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren zeigt uns, wie Demokratie-gefährdende Potentiale entstehen
können; wie sehr die Stabilität einer Demokratie nur mit sozialer Sicherheit gewährleistet werden
kann. Eine der wesentlichen Lehren aus dieser Zeit ist daher die aktive Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Dabei
wird eines ebenso deutlich: in Zeiten der Krise sind antisemitische und rassistische Ressentiments leichter zu
schüren. Ich nutze daher den Gedenktag heute, um ausdrücklich vor solchen Entwicklungen zu warnen.
Die zentrale Antwort auf den Nationalsozialismus, auf das erfahrene Leid und Unrecht und auf die Bedrohung der
persönlichen Freiheit geben die Menschenrechte. Verbrieft zunächst im Rahmen der 'Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte' 1948, gefolgt von der 'Europäischen Menschenrechtskonvention' 1950. Die Menschenrechte
stellen die Unantastbarkeit der Würde der Menschen in den Mittelpunkt. Sie stellen seither das zentrale Fundament
für unser Handeln dar. Denken wir beispielsweise an das Verbot von Folter, von Sklaverei und Zwangsarbeit.
Denken wir an das Recht auf Bildung oder das Recht auf freie Wahlen. Denken wir an das Verbot von Diskriminierung
aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe oder der Sprache.
Dieser immense zivilisatorische Fortschritt ist nicht das Ergebnis eines Zwangs, wie der manches Mal verwendete
Begriff 'Umerziehung' nahelegt. Vielmehr spiegelt sich darin ein gemeinsames, nicht hoch genug einzuschätzendes
Bekenntnis. Denn genau dort, wo Menschenrechte missachtet und verletzt werden, sind individuelle Freiheit, Rechtsstaat
und Demokratie in Frage gestellt.
Vaclav Havel hat Recht, wenn er sagt: 'Der Nachteil der Demokratie besteht darin, dass sie denjenigen, die es ehrlich
mit ihr meinen, die Hände bindet. Aber denen, die es nicht ehrlich meinen, ermöglicht sie fast alles.'
Genau das zeigt sich allzu oft auch im Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Und zwar dann, wenn antisemitische,
rechtsextreme, revisionistische bis hin zu eindeutig neonazistischen Aussagen hinter der Meinungsfreiheit versteckt
werden. Dann, wenn historische Fakten über den Holocaust bewusst falsch dargestellt werden. Die bloße
Annäherung an dieses zutiefst antidemokratische Gedankengut ist entschieden abzulehnen. Es gilt klar Position
zu beziehen. Gerade für Politikerinnen und Politiker.
Die Frage kann daher nicht nur sein, ob jemand Handlungen setzt, die strafrechtlich verfolgbar sind. Vielmehr müssen
wir uns fragen, welche Meinungen ein Politiker oder eine Politikerin vertritt, welche Geschichtstradierungen damit
für zulässig erklärt werden und welchem Umfeld dies dient. Wir brauchen daher einen breiten moralischen
Grundkonsens, der weit über das juristisch Einklagbare hinausgeht (Beifall). Denn schon weit vor der Grenze
des Strafrechts gibt es politisches und persönliches Verhalten, dem wir eindeutig entgegenzutreten haben.
Auch die Unterstützung einer kritischen Öffentlichkeit ist dafür unabdingbar.
Ehrliches und engagiertes Gedenken – sehr geehrte Damen und Herren – ist mehr als bloße Rückschau. Es
will immer auch Mahnung, Orientierung und Auftrag sein. Nur dann kann gelingen, was Jorge Semprún postuliert,
wenn er das Gedächtnis eines demokratischen Denkens begründen möchte, eines Denkens der Toleranz,
das dem Vergessen entgegenwirkt. Daher ist Gedenken mehr als Erinnerung." |
|
|
|
Harald Reisenberger: Erinnerung an die Opfer wachhalten
Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament
Wien (pk) - Die Parlamentskorrespondenz dokumentiert den Wortlaut
der Rede, die der Präsident des Bundesrats, Harald Reisenberger, bei der Gedenkveranstaltung im Parlament
gehalten hat.
Der Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus findet nun bereits seit
über zehn Jahren statt. Wenn ich heute eine Umfrage in diesem Saal machen würde, so würden Sie mir
alle bestätigen, wie wichtig öffentliches Gedenken ist. Viele von Ihnen – ebenso wie ich selbst – würden
darauf hinweisen, dass wir eine Verpflichtung haben, die Erinnerung an die Opfer wach zu halten und das, was sie
durchlitten haben, nie zu vergessen. Wir würden auch betonen, wie wichtig das Wissen um Geschichte für
das Verständnis unserer Demokratie und der Menschenrechte ist. Und schließlich würden wir hinzufügen,
dass das in einer Zeit, in der antisemitische und rechtsextreme Äußerungen und Taten auch in Österreich
wieder zunehmen, von grundlegender Bedeutung sei.
Vor etwas mehr als einem Jahr wurde tatsächlich eine solche Umfrage gemacht und in einer Studie ausgewertet.
Abgeordnete zum Nationalrat und zu den Landtagen, Mitglieder des Bundesrates sowie Bürgermeisterinnen und
Bürgermeister wurden von "erinnern.at", einem Vermittlungsprojekt des Bundesministeriums für
Unterricht, Kunst und Kultur für Lehrende an österreichischen Schulen, das wir gar nicht hoch genug schätzen
können, und dem Historiker Robert Streibel dazu befragt, wie sie es mit Erinnern und Gedenken halten. Ich
erachte diese Studie für sehr wichtig, und ich wundere mich zugleich darüber, dass sie – selbst im sogenannten
Gedenkjahr 2008! – nur wenig Beachtung erfahren hat. Auch unter uns Politikerinnen und Politikern wurde sie nie
breiter diskutiert.
Gerade dann, wenn wir uns darauf einstellen müssen, dass die Aufgabe des Gedenkens und Erinnerns immer mehr
auf unsere nachgeborene Generation übergeht, dann sollten wir auch über unsere Rolle und Verantwortung
als Politikerinnen und Politiker nachdenken. Egal wo ein Jubiläum begangen oder ein Gedenktag abgehalten wird,
wir werden eingeladen, um Ansprachen zu halten. Das Spektrum ist weit und reicht vom örtlichen Kriegergedenken
bis zur feierlichen Gedenksitzung im Parlament. Politikerinnen und Politiker sprechen als Vertreterinnen und Vertreter
der Gemeinden, der Länder, der Republik und ihrer Partei. Von uns wird erwartet, dass wir etwas sagen. Wir
werden damit zu Personen, die auf vielen Ebenen den Umgang mit Geschichte und Erinnerung prägen.
Wie Politikerinnen und Politiker zu dieser Aufgabe stehen, sollte mit der Studie von erinnern.at untersucht werden.
Es fällt dabei zunächst auf, dass sich von insgesamt ca. 600 Mitgliedern des Nationalrates, des Bundesrates
und der Landtage nur 30 Prozent an der anonymen Umfrage beteiligt haben – und das nach mehrmaligem Ersuchen um
Antwort. Von zwei Parteien gingen nur so wenige Antworten ein, dass sie nicht ausgewertet werden konnten. Eine
zweite Studie untersuchte die Gemeinden und erzielte spontan einen Rücklauf von fast 20 Prozent. Das sollte
uns bereits nachdenklich stimmen.
Es fällt weiters auf, dass sich Beteiligung und Interesse an der Umfrage sehr nach Bundesländern unterscheiden.
Besonders groß sind Interesse und Engagement demnach in Wien, Oberösterreich und der Steiermark. In
manchen Bundesländern und Regionen scheint das Interesse hingegen sehr gering zu sein.
Entscheidend ist es aber, zu sehen, welche Einstellungen Politikerinnen und Politiker zu Gedenken und Erinnern
haben. Es ist sicherlich keine Überraschung, dass diese Themen für wichtig erachtet werden. Aber wenn
es darum geht, an wen und an welche Ereignisse wir öffentlich erinnern wollen und erinnern sollen, dann gibt
es sehr unterschiedliche Meinungen. Einerseits wird von vielen die Meinung vertreten, dass Gedenken heute leichter
wäre – die Gefahren, irgendwo anzuecken, jemanden zu vergraulen oder Konflikte zu provozieren, sind nicht
mehr so groß. Andererseits wird aber zugegeben, dass man über vieles nicht Bescheid weiß. Es wird
gesagt, dass man oft unsicher ist, in welcher Form man gedenken kann und gedenken soll. Und es bleibt offen, ob
es nur die Zeit des Nationalsozialismus ist, derer man gedenken soll.
Diese Studie ist aber auch deshalb so interessant, weil eine große Mehrheit von Politikerinnen und Politikern
findet, dass die Gemeinden, überregionale Organisationen und politische Parteien Gedenken und Erinnern organisieren
und fördern sollen. Ebenso sollen die Schulen dafür Sorge tragen. Erst dahinter kommen Jugendorganisationen,
Erwachsenenbildung und Religionsgemeinschaften.
Gemeinden, überregionale Organisationen, politische Parteien – das sind wiederum wir selbst! Doch viele geben
zu, dass sie Gedenken und Erinnern vor allem ideell und finanziell unterstützen würden. Der eigene Beitrag
tritt demgegenüber zurück.
Wenn wir uns an diesem Gedenktag mit Gedenkkultur und ihrer Bedeutung für Demokratie und Menschenrechte befassen,
dann tun wir das im Bewusstsein, dass die Epoche, in der uns Zeitzeuginnen und -zeugen unmittelbar berichten konnten,
zu Ende geht.
Ich komme aus der Gewerkschaftsbewegung und ich hatte noch die Gelegenheit, viele kennenzulernen, die sich in der
Zeit der Verfolgung nicht haben unterkriegen lassen. Menschen, die Mut zum Widerstand hatten. Unseren jungen Mitgliedern
bleibt diese Chance heute schon oft versagt.
Wir können selbstverständlich Bildungsangebote organisieren – und hier geschieht in ganz Österreich
in der schulischen und außerschulischen Bildung, in Gemeinden, Gewerkschaften, Vereinen und Religionsgemeinschaften
außerordentlich viel. Aber so wie die Menschen, die mir zum Vorbild geworden sind, so sind wir auch gefordert,
dieses Wissen zu persönlichen Erfahrungen und damit zum Motor unseres politischen Engagements zu machen. Sonst
bleibt es ein Faktenwissen – wie vielleicht jenes, dass Karl der Große im Jahr 800 zum Kaiser gekrönt
wurde oder 1969 der erste Mensch den Mond betrat.
Wenn ich aber die Studie, die ich Ihnen vorgestellt habe, aufmerksam lese, und wenn ich bedenke, dass wir Politikerinnen
und Politiker bislang kaum darüber diskutiert haben, dann werde ich nachdenklich, wie wir unsere Verantwortung
wahrnehmen, wie weit uns das wirklich Anliegen ist.
Ich möchte den heutigen Gedenktag daher zu einem Aufruf dazu nützen, dass wir Politikerinnen und Politiker
uns stärker mit unserer Rolle, unseren Aufgaben und unserer Verantwortung in Hinblick auf öffentliches
Gedenken und Erinnern befassen. Engagierte Frauen und Männer in ganz Österreich sollten sich darüber
austauschen und an Wissen, Sensibilität und Verantwortung gewinnen. - Das sind wir den Opfern schuldig, und
das sind wir auch unseren Kindern schuldig. Das wollen wir um der Demokratie und der Menschenrechte willens tun.
|
|
|
|
Fritz Neugebauer: Gedenken heißt Verpflichtung zum Handeln
Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament
Wien (pk) - Die Parlamentskorrespondenz dokumentiert den Wortlaut der Rede, die der Zweite Präsident
des Nationalrats, Fritz Neugebauer, bei der Gedenkveranstaltung im Parlament gehalten hat.
Das heutige Beisammensein ist von zwei wesentlichen Elementen geprägt: Einerseits vom Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus, andererseits von der Botschaft für Gegenwart und Zukunft als klare Absage an Verbrechen
gegen die Menschlichkeit.
Der 5. Mai bietet dazu die beiden historischen Anknüpfungspunkte: Am 5. Mai 1945 sind die ersten amerikanischen
Einheiten im Konzentrationslager Mauthausen eingetroffen, am 5. Mai 1949 haben in London 10 Staaten den Europarat
und damit die zentrale europäische Institution für den Schutz der Menschenrechte gegründet.
Seit 1998 kommen am 5. Mai auf Grund einer Entschließung des Nationalrates Vertreter der obersten Organe
der Republik, Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften, Repräsentantinnen und Repräsentanten
von Religionsgemeinschaften und Opferverbänden sowie Organisationen der Zivilgesellschaft zusammen, um den
Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus zu begehen.
Heute ist nicht irgendein Jahrestag, er ist mit Sicherheit der erste und wichtigste unter den Gedenktagen, den
die Republik begeht. Es ist die Schärfung der Erinnerung an DIE Katastrophe europäischer Menschheitsgeschichte,
die wie Erika Weinzierl formulierte, den "Einbruch der Unmenschlichkeit in die zivilisierte Welt" bedeutete.
"Die kaltblütige, willkürliche und systematische Vernichtung von Millionen hilfloser Zivilisten
... ist eine Geschichte, für die uns die Worte fehlen.... Diese Taten übersteigen jedes Maß, sie
spotten jeder Beschreibung, ihre Einzelheiten machen uns sprachlos." - Diese Aussage seitens des Anklägers
im Eichmann-Prozess Gideon Hausner ist aus der Unmittelbarkeit des Erlebten nachvollziehbar, aber Sprachlosigkeit
ist keine Methode, den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begegnen.
Seien wir uns der Gefahr bewusst: Erinnerungen – auch an Gräueltaten - werden schwächer, verblassen mit
der Zeit und irgendwann merkt man, dass man damit leben kann. Das ist die wirkliche Gefahr! Es war daher richtig,
dass Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky deutliche Worte der Mitschuld vieler Österreicher an der Shoa anlässlich
seines Besuches 1993 in Jerusalem gesprochen hat, so wie es auch wichtig und richtig war, dass Bundeskanzler Dr.
Wolfgang Schüssel die Initiative für die Einrichtung des Allgemeinen Entschädigungsfonds und des
Versöhnungsfonds gesetzt hat.
Gedenken bedeutet die Verpflichtung, Zeugnis abzulegen. Viele, die heute mit uns diese Stunde begehen, haben es
übernommen, "Zeugen von Zeugen" zu sein, wie dies Elie Wiesel so prägnant genannt hat.
Gedenken bringt eine ganz konkrete und zukunftsgerichtete Verantwortung mit sich, die Verantwortung für Bildung
und Erziehung. Niemand wird als Verteidiger der Menschenrechte geboren. Es sind die Vorbilder, die wirken. Der
Umgang der Erwachsenen mit der Aufarbeitung unterschiedlicher Standpunkte ohne Gewalt und ohne Diffamierung – in
Wort und Schrift - prägt beispielgebend die heranwachsende Generation. Der Satz: "Der Friede beginnt
im eigenen Haus" hat volle Gültigkeit.
Die Forderung von Erziehung zu mündigen Bürgern lautet deshalb: Erziehung zur Kritikfähigkeit, Erziehung
zu gegenseitigem Respekt und Erziehung zur Mitverantwortung.
Diese Mitverantwortung hat mit der Gründung des Europarates ein klares Zeichen für Menschenrechte gesetzt
und ist Ausdruck des Ringens um Antworten auf das, was Europa in seine dunkle Zeit geführt hat.
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist die Antwort auf die vollkommene Entrechtung von Millionen Menschen,
die keine Rechtsordnung zu ihrem Schutz anrufen konnten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
ist zu ihrem Garanten geworden und hat Vorbildwirkung in der ganzen Welt entfaltet.
Seien wir uns bewusst: Gedenken ist mehr als Erinnerung. Gedenken heißt Verpflichtung zum Handeln. Gedenken
heißt Aufbegehren gegen Gleichgültigkeit. Menschenrechte müssen täglich neu gelebt, neu erkämpft
werden. Und als Christ füge ich hinzu: Der erste Schritt zur Wahrung der Menschenrechte ist die Nächstenliebe.
|
|
zurück |
|
|