Islam und Westen: Forschung im wissenschaftlichen Neuland   

erstellt am
19. 06. 09

Experten sind gemeinsamer Geschichte erstmals vergleichend auf der Spur - Tagung
Wien (öaw) - Der islamische und der westliche Kulturraum haben in der römischen Antike ihren gemeinsamen Anfang. Die Grundlagen dieser 1500 Jahre gemeinsamer Geschichte sind weitgehend unerforscht. Bei einer hochkarätigen, internationalen Tagung in Wien betraten 40 Experten aus Europa und den USA dieses wissenschaftliche Neuland.

"Islamische und westliche Welt - das ist eine Geschichte von Konfrontationen und Vorurteilen, aber auch von Toleranz und Austausch. Wenn wir diese Geschichte in ihrer Gesamtheit annehmen und erforschen, können wir überkommenen Feindbildern die Grundlage entziehen. Wir müssen viel mehr darüber wissen, um einen Beitrag zur Entschärfung gegenwärtiger Konflikte leisten zu können", das erklärte Univ.-Prof. Dr. Walter Pohl, Wittgensteinpreisträger 2004 und Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), am Freitag am Rande der Tagung in der Bundeshauptstadt. "Wie haben sich "Visionen der Gemeinschaft" entwickelt? Der internationale Kongress mit dem Titel "Visions of Community: Ethnicity, Religion and Power in the Early Medieval West, Byzantium and the Islamic World" dauert bis zum Wochenende und erschließt laut Pohl erstmals dieses "ganz neue Forschungsthema".

Forschungslücken schließen
Die politische Kultur im gesamten Mittelmeerraum war in der römischen Antike einheitlich. Ausgehend von dieser gemeinsamen politischen Grundlage wurden vor eineinhalb Jahrtausenden in Europa Völker zur Basis politischer Macht. Zugleich entstand die europäische Art und Weise, Ethnizität als Grundlage politischer Macht zu sehen. Im islamischen Kalifat, aber auch in Byzanz, entwickelten sich im selben Zeitraum imperiale Ordnungen auf religiöser Basis. "Bisher wurden diese unterschiedlichen Entwicklungen nicht vergleichend analysiert. Das Frühmittelalter im Westen wurde als Zeit der ´Völker im Werden´ in letzter Zeit gut erforscht. Für die islamische Welt, aber auch für Byzanz, fehlen solche Untersuchungen bisher", sagt Pohl. Warum ist der politische Islam für viele Muslimeheute so attraktiv? Die Untersuchung vergangener Identitäten kann dafür Erklärungen bieten.

Die vom Wittgenstein-Projekt "Ethnische Identitäten im frühmittelalterlichen Europa" veranstaltete Tagung ist ein erster Beitrag dazu, "diese Forschungslücken, die zum Verständnis der konfliktgeladenen Gegenwart so relevant sind, zu schließen. Falsche westliche Wahrnehmungen des ´Orients`, zwischen Verklärung und Verachtung, haben viel zu den Problemen in und mit dieser Region beigetragen. Heute drohen die gegenseitigen Missverständnisse zwischen der Mehrheitsbevölkerung und muslimischen Zuwanderern in Europa selbst zum Problem zu werden. Umso wichtiger ist es, die historischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser kennen zu lernen", betont der international renommierte Historiker.

Der viertägige Kongress mit 40 international führenden Experten der Sozialanthropologie, Byzantinistik, Alten und mittelalterlichen Geschichte, Islamwissenschaft, Orientalistik, Theologie und Archäologie aus Europa und den USA begann am Mittwoch und dauert bis zum Wochenende. Die Tagung "Visions of Community: Ethnicity, Religion and Power in the Early Medieval West, Byzantium and the Islamic World" war die bislang erste dieser Art. Die Ergebnisse werden 2010 in einem Sammelband publiziert.

Auf welchen Grundlagen sich Identitäten bilden und Gemeinschaften entwickeln, ist eine der Kernfragen der internationalen Geschichtswissenschaft in intensivem Teamwork mit anderen Disziplinen. Sie ist auch zentrales Forschungsthema des bis 2010 laufenden Wittgensteinprojektes "Ethnische Identitäten im frühmittelalterlichen Europa" unter Leitung von Walter Pohl am Institut für Mittelalterforschung der ÖAW in Wien. In der Erforschung ethnischer Identitäten gilt die "Wiener Schule der Frühmittelalterforschung" seit Jahrzehnten als international führend. Der Wittgenstein-Preis ist - ähnlich dem deutschen Leibniz-Preis - die höchste wissenschaftliche Auszeichnung in Österreich.
     
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