Innsbruck (universität) - Der Sprengstoff TNT explodiert auf molekularer Ebene viel langsamer als bisher
angenommen. Zu diesem überraschenden Ergebnis kamen Wissenschaftler um Prof. Paul Scheier vom Institut für
Ionenphysik und Angewandte Physik der Uni Innsbruck. Mit einem neuen Verfahren konnten sie den chemischen Prozess
in Zeitlupe beobachten.
Die Innsbrucker Forschungen liefern unter anderem für die praktische Arbeit von Entminungsdiensten die wissenschaftliche
Grundlage. Bereits bisher werden Minen und Bomben abgekühlt, bevor mit der Entschärfung begonnen wird.
TNT (Trinitrotoluol) ist einer der meist verwendeten, synthetisch gefertigten Sprengstoffe und zählt zu den
wichtigsten militärischen Explosivstoffen. Wird dem Sprengstoff Energie zugeführt, zerfällt die
instabile Substanz in energieärmere Verbindungen und setzt dabei enorme Mengen an Energie frei. Weil Sauerstoff
als Brennstoff für die Explosion bereits in das Molekül eingebaut ist, kann sich die Detonation von TNT
mit einer gewaltigen Geschwindigkeit von mehreren tausend Metern pro Sekunde ausbreiten. Wie Wissenschaftler um
Prof. Paul Scheier nun aber zeigen konnten, dauert das eigentliche Zünden des Sprengstoffs, der chemische
Zerfallsprozess des Moleküls, sehr viel länger als bisher vermutet. "Nach unseren Beobachtungen
handelt es sich dabei um einen für molekulare Verhältnisse sehr langsamen Prozess", sagt Scheier.
"Von der Anlagerung eines Elektrons bis zum Zerfall des Moleküls vergehen mehrere Mikrosekunden. Auf
molekularer Ebene ist das eine halbe Ewigkeit."
Zeitlupenstudie
Um den Zerfall von TNT zu studieren, hat Paul Scheier mit seinem Team den Explosionsprozess des Sprengstoffs quasi
eingefroren. Dazu brachten die Forscher die explosiven Moleküle in ultrakalte Heliumtröpfchen ein und
kühlten sie damit extrem stark ab. Dann beschossen sie das TNT mit langsamen Elektronen und analysierten die
Zerfallsprozesse in einem Massenspektrometer. "Die Hülle aus Heliumatomen friert die - durch das Elektron
ausgelöste - Explosion ein, und wir beobachten in unserem Massenspektrometer keine Zerfallsprodukte",
erklärt Scheier. Dieses Phänomen überraschte die Wissenschaftler, weil ein früheres Experiment
ohne die Heliumtröpfchen einen sehr raschen Zerfall des Sprengstoffs zeigte. "Ohne Helium strukturiert
sich das Molekül nach der Anlagerung des Elektrons langsam um und einzelne Stücke brechen nach und nach
ab. So entstehen neutrale Teilchen mit sehr hoher Bindungsenergie. Die überschüssige Energie wird an
die Umwelt abgegeben und hält die Reaktion in Gang", erläutert Scheier. "Weil diese Energie
in unserem Experiment vom Helium aufgenommen wird, können wir den Explosionsvorgang dramatisch verlangsamen
und schrittweise genau beobachten." Diese Ergebnisse haben die Innsbrucker Forscher nun in der Fachzeitschrift
"Physical Chemistry Chemical Physics" veröffentlicht. Unterstützt wurden sie bei Ihren Forschungen
vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF), der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW)
und der Europäischen Kommission.
Der an der Universität Innsbruck entwickelte Apparat zur Analyse von Molekülen in ultrakalten Heliumtröpfchen
ist weltweit einzigartig. Als nächste Substanz will Scheier das hochbrisante Royal Demolition Explosive (RDX)
analysieren. Neben der Untersuchung von Sprengstoffen kann das Instrument zur Erforschung sämtlicher Arten
molekularer Prozesse bei instabilen Substanzen eingesetzt werden. "Wir können hier sehr elegant die einzelnen
Zerfallsprozesse studieren", freut sich der Physiker. Die Innsbrucker Gruppe hat bisher unter anderem im Auftrag
des britischen Verteidigungsministeriums die Eigenschaften von Sprengstoffen erforscht und auch international beachtete
Beiträge zur Detektierung gefährlicher Explosivstoffe geleistet. Die Ergebnisse all dieser Grundlagenforschungen
fließen in die tägliche Praxis von Entminungsdiensten, aber auch in die Verwendung von Sprengstoffen
im Bergbau sowie im Straßenbau ein.
Publikation: Electron Q1 attachment to trinitrotoluene (TNT) embedded in He droplets: complete freezing of dissociation
intermediates in an extended range of electron energies. Mauracher A, Schöbel H, Ferreira da Silva F, Edtbauer
A, Mitterdorfer C, Deni? S, Märk TD, Illenberger E, Scheier P. Physical Chemistry Chemical Physics 2009. |