Wien (pd&d) - Neuronale Reaktionen auf optische Sinneseindrücke sind komplexer als bisher angenommen.
Nervenimpulse, die in Reaktion auf einen optischen Reiz entstehen, bilden raum-zeitliche Muster, die auch Informationen
über einen unmittelbar vorangegangenen Sinneseindruck beinhalten. Diese sehr frühzeitige Entstehung von
"Erinnerung" überrascht die Fachwelt, da Dogmen über die Verarbeitung von Sinnesreizen nun
modifiziert werden müssen. Die jetzt in PLoS Biology publizierte Arbeit wurde vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützt
und stellt einen ersten experimentellen Nachweis für die Fähigkeit unseres Gehirns dar, zeitlich aufeinanderfolgende
Sinneseindrücke gemeinsam in raum-zeitlichen Mustern von Nervenreizen zu "verpacken".
Ein externer Stimulus, also z. B. ein Bild, das man sieht, wird in eine - und nur in eine - Abfolge von Nervenimpulsen
umgesetzt. Das klingt plausibel. Diese lineare Beziehung galt bisher als Grundlage für die Analyse von neuronaler
Informationsverarbeitung. Konkreter gesagt wurde angenommen, dass die neuronale Reaktion auf einen Sinnesreiz nur
Informationen über genau diesen Reiz enthält und keine weitere. Folgen mehrere Sinnesreize aufeinander,
erfolgt die Integration der Information auf höherer neuronaler Ebene. Dass dieses Dogma nun wankt, ist einer
Gruppe von InformatikerInnen und NeurowissenschafterInnen der TU Graz und dem Frankfurter Max-Planck-Institut für
Hirnforschung zu verdanken.
Erinnerungswürdige Ergebnisse
"Wir konnten zeigen, dass neuronale Reaktionen auf einen visuellen Reiz auch Informationen beinhalten können,
die von einem vorhergehenden Reiz stammen", erläutert Prof. Wolfgang Maass, Leiter des Instituts für
Grundlagen der Informationsverarbeitung der TU Graz, und fährt fort: "Das ist eine simple Form von Erinnerung
zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Informationsverarbeitung in unserem Gehirn. Tatsächlich wurde bisher
angenommen, dass die Integration von Information aus aufeinanderfolgenden Reizen erst später, das heißt
auf einer höheren neuronalen Ebene, erfolgt."
Die Daten sind das Ergebnis eines anspruchsvollen experimentellen Designs. Bei diesem wurden parallele "live
recordings" von ca. 100 Nervenzellen des Visuellen Cortex von Säugetieren direkt am Computer ausgewertet.
Besonders interessierte das interdisziplinäre Team, bestehend aus Dr. Stefan Häusler, Prof. Maass und
den Frankfurter Hirnforschern Dr. Danko Nikolic und Prof. Wolf Singer, wie die Information in den sogenannten "Spikes"
- also kurzfristigen Anstiegen des elektrischen Membranpotenzials von Nervenzellen - kodiert wird. Dazu wurden
neue Methoden der automatischen Mustererkennung verwendet. Wesentlich am Experiment war, dass die Spikes von zahlreichen
Nervenfasern gleichzeitig gemessen wurden - erst so zeigten sich die relevanten Muster. Die genaue Analyse der
Spikes aller 100 Nervenfasern ergab, dass die "Erinnerung" auf zwei verschiedene Weisen codiert wurde:
in der Anzahl der Spikes und in ihrer zeitlichen Abfolge.
Wie rechnet das Gehirn?
Zu weiteren überraschenden Ergebnissen meint Dr. Häusler: "Diese Daten zeigen auch, dass
die Nervenreaktion schon in der ersten Verarbeitungsstufe im Gehirn mehrere 100 Millisekunden andauern konnte.
Das ist vor dem Hintergrund der Geschwindigkeit von physiologischen Vorgängen in Nervenzellen ausgesprochen
lang."
Insgesamt ergeben diese Ergebnisse einen ersten experimentellen Beweis für das von Prof. Maass gemeinsam mit
HirnforscherInnen erarbeitete neue Modell für Rechenvorgänge im Gehirn, dem "liquid computing model".
Dieses geht im Gegensatz zu bisher vorherrschenden theoretischen Modellen davon aus, dass "biologische Computer"
nicht jede Information für sich in einem festen Zeittakt bearbeiten (wie an einem Fließband), sondern
in kleinen Paketen, bestehend aus ineinanderfließenden und sich überlagernden Informationen aus verschiedenen
Zeitabschnitten. Das "liquid computing" hat inzwischen bereits zahlreiche Anhänger in der technologischen
Forschung gefunden. Man hat entdeckt, dass man auf diese Weise auch verschiedene Flüssigkeiten und Festkörper
- bei denen ebenfalls äußere Einwirkungen nachschwingen und sich überlagern - zur Informationsverarbeitung
ohne festen Zeittakt benutzen kann.
Originalpublikation: Distributed Fading Memory for Stimulus Properties in the Primary Visual Cortex. D. Nikolic,
S. Häusler, W. Singer, W. Maass, PLoS, Vol. 7, 12 |