Vollzung des Pfegegeldes
Wien (rh) - Die Gewährung des Pflegegeldes war hinsichtlich der Rechtsgrundlagen, der vollziehenden
Stellen, der ärztlichen Gutachten sowie der administrativen Umsetzung strukturell zersplittert. Daraus resultierten
unvollständige Daten, Ineffizienzen in der Vollziehung und Erschwernisse für die Pflegegeldbezieher.
Obwohl die Einführung des Pflegegeldes einen wichtigen Schritt in der österreichischen Pflegevorsorge
darstellt, sind zur Sicherstellung des im geltenden Regierungsprogramm verankerten Ziels einer umfassenden Pflegevorsorge
und deren nachhaltiger Finanzierbarkeit weitere Maßnahmen bei der Struktur der Entscheidungsträger und
der Pflegeinfrastruktur erforderlich.
Prüfungsziel
Ziel der Querschnittsprüfung war die Gewinnung von grundsätzlichen Aussagen über die Gewährung
des Pflegegeldes. Besondere Schwerpunkte lagen dabei auf den Folgen der Aufteilung des Pflegegeldvollzugs auf die
Vielzahl von Entscheidungsträgern, auf der Gewinnung von Vergleichskennzahlen und auf der Überprüfung
der Erreichung der Ziele der Pflegegeldgesetze. (TZ 1)
Allgemeines
Der Pflegegeldaufwand betrug im Jahr 2007 für rd. 412.000 Pflegegeldbezieher rd. 2 Mrd. EUR (TZ 2).
Mit der Administration des Pflegegeldes waren rd. 500 Vollzeitäquivalente befasst; rd. 1.150 Ärzte erstellten
Pflegegeldgutachten. (TZ 8, 17)
Strukturelle Zersplitterung
Die Rechtsgrundlagen für das Pflegegeld sind zersplittert. Sowohl zwischen dem Bundespflegegeldgesetz
und den neun Landespflegegeldgesetzen als auch zwischen den einzelnen Landespflegegeldgesetzen bestanden Unterschiede.
(TZ 3) Einschließlich der Gemeinden administrierten im Jahr 2007 mehr als 280 Stellen Pflegegeld. (TZ 4)
Die Aufteilung der Kompetenzen führte zu einem erheblichen Koordinationsaufwand (z.B. bei Kompetenzübergängen),
zu unvollständigen Daten für die Steuerung (z.B. hinsichtlich der Anzahl der Pflegegeldbezieher) sowie
zu Erschwernissen für die Pflegegeldwerber (z.B. bei der Suche nach der für sie zuständigen Stelle,
durch zusätzliche Meldepflichten bei Wohnsitzwechsel zwischen den Bundesländern oder durch eine längere
Verfahrensdauer). (TZ 5, 6)
Administration
Die unterschiedliche Gestaltung der internen Verwaltungsabläufe der vollziehenden Stellen (TZ 10)
führte zu großen Unterschieden im Ressourceneinsatz und bei der Verfahrensdauer: So betreute ein vollzeitbeschäftigter
Mitarbeiter je nach Entscheidungsträger zwischen 234 und 1.386 Pflegegeldbezieher. (TZ 8) Die Verfahrensdauer
lag zwischen 40 Tagen (Österreichische Post Aktiengesellschaft) und 137 Tagen (Wien). Die größte
Pflegegeld auszahlende Stelle, die Pensionsversicherungsanstalt, benötigte im Durchschnitt 58 Tage. In der
Pensionsversicherung und bei den sonstigen Rechtsträgern lag der Anteil der seit mindestens drei Monaten unerledigten
Pflegegeldanträge per 31. Jänner 2009 unter 8 %. Hingegen waren in Wien 70 % der Pflegegeldanträge
seit mehr als drei Monaten unerledigt. (TZ 9) Die Pflegegeldbezieher wurden hinsichtlich des Auszahlungszeitpunkts
des Pflegegeldes und der Rückforderung von Übergenüssen unterschiedlich behandelt. Die Bescheidbegründungen
waren unterschiedlich aussagekräftig bzw. nicht immer nachvollziehbar. (TZ 11, 13, 14)
Die Administration der Zahlungen zwischen den Gebietskörperschaften bei Heimaufenthalten von Pflegegeldbeziehern
war komplex, intransparent und teilweise fehlerhaft. (TZ 12) Die Ermittlung des akausalen Anteils in der Unfallversicherung
war aufwendig. (TZ 7) Der Pflegegeldersatz durch den Bund führte bei der ÖBB- Dienstleistungs Gesellschaft
mbH, der Österreichischen Post Aktiengesellschaft, der Österreichischen Postbus Aktiengesellschaft und
der Telekom Austria Aktiengesellschaft zu einer Ungleichbehandlung der Unternehmen im Vergleich mit privaten Dienstgebern.
(TZ 16)
Ärztliche Gutachten
Fast ein Drittel der Ärzte, die Pflegegeldbegutachtungen durchführten, erstellten weniger als
zehn Gutachten im Jahr. Rund 220 Gutachter waren für mehr als einen Entscheidungsträger tätig; sie
erstellten rd. 37 % aller Gutachten. Eine zentrale Koordination der Aufträge (etwa im Hinblick auf eine optimierte
regionale Zuteilung der Hausbesuche) erfolgte nicht. (TZ 17)
Die Qualität der Gutachten war im Hinblick darauf, dass sie zum Teil von den behandelnden Hausärzten
und ohne Hausbesuch erstellt wurden, aufgrund der Vielzahl der verwendeten Formulare, der Unterschiede hinsichtlich
der zeitlichen Vorgaben an die Ärzte und deren Einschulungen sowie der Oberbegutachtung uneinheitlich und
teilweise sogar mangelhaft. (TZ 18)
Die Honorare für Gutachten waren sehr unterschiedlich und betrugen für externe Ärzte - ohne Berücksichtigung
von Zuschlägen -zwischen rd. 40 EUR und 91 EUR. Es gab Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung von
Wegstrecken sowie Doppelverrechnungen von ärztlichen Leistungen an die Pflegegeld auszahlenden Stellen und
die Krankenversicherungen. (TZ 19) Amtshilfe wurde nicht immer unentgeltlich geleistet. (TZ 20)
Auswirkungen des Pflegegeldes
Pensionsbezieher aus Berufsgruppen mit hohen körperlichen Belastungen bzw. Ausgleichszulagenempfänger
bezogen häufiger Pflegegeld. Es bestanden erhebliche regionale Unterschiede: Der Anteil der Pflegegeldbezieher
an der Bevölkerung lag in Kärnten rd. 20 % über dem Bundesschnitt, in Vorarlberg rd. 27 % darunter.
Die Auszahlung pro Pflegegeldbezieher war in Wien mit 4.730 EUR/Jahr am niedrigsten, in Vorarlberg mit 5.847 EUR/Jahr
am höchsten. Ein wirkungsorientiertes Controlling der Einstufungspraxis erfolgte nicht. (TZ 21)
Eine vom Einkommen des Pflegegeldbeziehers unabhängige Wahlfreiheit zwischen ambulanter und stationärer
Betreuung besteht nicht. Es existiert keine umfassende Absicherung gegen das finanzielle Risiko der Pflegebedürftigkeit.
Mit der Gewährung des Pflegegeldes ist nicht sichergestellt, dass die notwendigen Pflegeleistungen angeboten
werden, leistbar sind bzw. auch tatsächlich qualitativ hochwertig erbracht werden. (TZ 15, 22)
Angesichts der demographischen Entwicklung sind zur Sicherstellung einer umfassenden Pflegevorsorge und deren
nachhaltiger Finanzierbarkeit weitere Maßnahmen bei der Struktur der Entscheidungsträger und der Pflegeinfrastruktur
erforderlich. (TZ 23)
Zusammenfassend hob der RH folgende Empfehlungen hervor:
BMASK und alle Länder
(1) Es wäre eine Novellierung der Pflegegeldgesetze anzustreben, mit welcher die Anzahl der Entscheidungsträger
und der bescheiderlassenden Stellen deutlich verringert wird. Es sollte mit einem Rechtsträger, der in jedem
Bundesland eine Landesstelle unterhält, das Auslangen gefunden werden. (TZ 4)
(2) Zur Sicherstellung einer einheitlichen Vollziehung sollte die Aufsicht beim BMASK konzentriert werden.
(TZ 4)
(3) Eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Gewährung des Pflegegeldes wäre zu schaffen,
in der auch die konkretisierenden Regeln zur Einstufung enthalten sind. Dadurch wären für alle Entscheidungsträger
und die Gerichte dieselben Kriterien maßgeblich. (TZ 3
(4) Durch ein ausreichendes Controlling wäre dafür zu sorgen, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer
nicht mehr als 60 Tage beträgt und mindestens 80 % der Verfahren innerhalb von 90 Tagen erledigt werden. (TZ
9)
(5) Eine Novellierung der Pflegegeldgesetze wäre anzustreben, mit welcher eine einfachere, pauschalierte
Abwicklung der Zahlungen zwischen Pflegegeld auszahlenden Stellen und Sozialhilfeträgern ermöglicht wird.
(TZ 12)
(6) Es wäre dafür zu sorgen, dass im Sinne einer wirkungsorientierten Verwaltungssteuerung
die Daten betreffend die Einstufung der Pflegegeldwerber genutzt werden, um ungerechtfertigte Einstufungsunterschiede
auszuschließen und alle Pflegegeldwerber gleich zu behandeln. (TZ 21)
(7) Fälle mit Verdacht auf Verwahrlosung sollten gesondert erfasst und entsprechende Fristen für
Nachuntersuchungen gesetzt werden. Die Maßnahmen des BMASK und der Sozialversicherungsanstalt der Bauern
zur Qualitätssicherung der Pflege sollten auf alle Entscheidungsträger ausgedehnt werden. (TZ 15)
(8) Es wären frühzeitig an den tatsächlichen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen
orientierte strategische Entscheidungen zu treffen, welcher Anteil der Kosten der Pflegevorsorge öffentlich
finanziert werden soll und wie Geld- bzw. Sachleistungen verteilt sein sollen, damit die entsprechende Infrastruktur
rechtzeitig bereitgestellt werden kann. (TZ 23)
(9) Solange die zersplitterte Struktur der Rechtsgrundlagen und Entscheidungsträger weiter besteht,
wäre dafür zu sorgen, dass
- alle Entscheidungsträger das Pflegegeld einheitlich im Nachhinein auszahlen (TZ 11),
- die Gutachten nicht von behandelnden Ärzten erstellt werden (TZ 18),
- die Gutachten grundsätzlich aufgrund eines angekündigten Hausbesuchs unter Verwendung eines einheitlichen
Begutachtungsformulars innerhalb von vier Wochen erstellt werden (TZ 18),
- einheitliche, verpflichtende Schulungen (z.B. bei den Landesstellen der Pensionsversicherungsanstalt, dem größten
Entscheidungsträger) durchgeführt werden, wobei auf die speziellen Anforderungen der Begutachtung von
Kindern besonders eingegangen werden sollte (TZ 18),
- eine Oberbegutachtung erfolgt (TZ 18),
- ein österreichweiter ärztlicher "Gutachterpool" geschaffen wird, aus dem alle Entscheidungsträger
Gutachter beauftragen können; dadurch könnten die Gutachtertätigkeit und die Schulungsmaßnahmen
besser koordiniert werden (TZ 17),
- einheitliche Tarife und Aufwandsersätze vereinbart werden (TZ 19),
- die wegen der Vielzahl der Entscheidungsträger eintretenden Kompetenzübergänge nicht zu Nachteilen
für die Pflegebedürftigen führen (TZ 5),
- das Vorgehen bei Rückforderungen von Übergenüssen vereinheitlicht und insbesondere eine einheitliche
Bagatellgrenze festgelegt wird (TZ 13),
- die Pfleggeldwerber die Einstufung überprüfen können (insbesondere im Hinblick auf die Anzahl
der Pflegestunden und die berücksichtigten Pflegemaßnahmen) (TZ 14),
- alle Entscheidungsträger zur richtigen und vollständigen Eingabe in die Bundespflegegeld -Datenbank
verpflichtet werden (TZ 6),
- Transparenz über die Verwaltungskosten und das eingesetzte Personal hergestellt sowie Maßnahmen
zur Steigerung der Verwaltungseffizienz getroffen werden (TZ 8),
- das Vorgehen für die Begutachtung im Wege der Amtshilfe vereinheitlicht wird (TZ 20) und
- alle Entscheidungsträger eine dienstrechtlich exakte Abgrenzung der Dienstverhältnisse von weiteren
Gutachtertätigkeiten vorsehen (TZ 17).
BMASK
(10) Es wäre eine Novellierung des Bundespflegegeldgesetzes anzustreben, mit welcher - die
Kostentragung für das Pflegegeld und die Pflegegeldadministration bei der ÖBB-Dienstleistungs Gesellschaft
mbH, der Österreichischen Post Aktiengesellschaft, der Österreichischen Postbus Aktiengesellschaft und
der Telekom Austria Aktiengesellschaft im Sinne einer Gleichbehandlung mit anderen privaten Dienstgebern neu geregelt
wird (TZ 16) und der akausale Anteil des Pflegegeldes in der Unfallversicherung pauschaliert wird (TZ 7).
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Korosec: Bei Pflege besteht jetzt dringender Handlungsbedarf
Wien (seniorenbund) - "Abwarten und Tee trinken ist angesichts dieses desaströsen Rechnungshof-Berichtes
fehl am Platz! Der Seniorenbund ruft daher alle Verantwortlichen auf, sich möglichst umgehend gemeinsam an
den Verhandlungstisch zu setzen. Wir sind nicht mehr bereit, hier Ausreden und Verzögerungen zu akzeptieren",
erklärt Ingrid Korosec, Chefin des Wiener Seniorenbundes und Khol's Bundesobmann-Stellvertreterin im Seniorenbund.
Sie verstärkt damit auch die erst gestern von Khol erhobene Forderung nach raschem entschlossenem Handeln.
Nach dem gestern vorgestellten Rechnungshofbericht zum Pflegegeld-Vollzug und den heutigen Medienberichten dazu,
sieht der Österreichische Seniorenbund weiterhin dringenden Bedarf, noch einmal ausdrücklich auf die
Kernpunkte einzugehen, die nach Meinung des Seniorenbundes sofort behoben werden müssen. "Wir haben den
Eindruck, hier haben nicht alle den Ernst der Lage erkannt", so Korosec. Nationalen Pool für Gutachter
sofort einrichten - Betreuer / Pflegekräfte und pflegende Angehörige sind verpflichtend beizuziehen!
"Besonders erschreckend ist die Lage bei den begutachtenden Ärztinnen und Ärzten. Es fehlen bundesweite
Richtlinien und Qualitätskriterien, niemand hat den Überblick, wer wen wann und wie begutachtet und einstuft.
Diese Misswirtschaft wird auf dem Rücken der Betroffen betrieben. Und so fließt unheimlich viel Geld
in intransparente Strukturen. Geld, das man im Pflegesystem wahrlich besser einsetzen könnte", so Korosec
weiter.
Der Seniorenbund begrüße zwar das erste Pilotprojekt der Pflegegeld-Einstufung gemeinsam mit Pfleger/innen,
allerdings kritisiert Korosec: "Das geht wieder nur im Schneckentempo voran! Wir kennen die Probleme seit
Jahren, schon der letzte Rechnungshofbericht im Sommer 2009 hat dies auch offiziell bestätigt. Es muss jetzt
sofort ein nationaler Pool für Gutachter eingerichtet werden. Und diese Personen müssen bundesweit einheitlich
ausgebildet und kontrolliert werden. Verpflichtend sind Betreuer/innen, Pflegekräfte oder die pflegenden Angehörigen
beizuziehen! Schluss mit Versuchen und Evaluierungen, es sind nun dringend Taten gefragt!", bekräftigt
Korosec die Seniorenbund-Forderungen.
Deutliche Absage an Sachleistungsprinzip
"Gerade in Wien, wo die Lage insgesamt äußerst schlecht beurteilt wurde, wo man in manchen
Bereichen deutliches Schlusslicht ist, versucht man mit einer Diskussion um den Ersatz der Geldleistungen durch
Sachleistungen vom eigenen Versagen abzulenken! Diesem neuesten SPÖ-Traum von einem regelrechten Pflegemarxismus
treten wir entschieden entgegen! Die Systeme müssen nun bundesweit umgehend angepasst werden, Qualitätssicherung
und flächendeckende Versorgung sowohl mit mobilen als auch mit stationären Diensten muss das Ziel heißen.
Und natürlich bleiben wir bei den Geldleistungen - weil auch pflegebedürftige Menschen das Recht haben,
selbst zu entscheiden, wann wo und wie sie Hilfe in Anspruch nehmen", so Korosec abschließend. |