19. März 2010 bis 30. April 2010 im Ausstellungszentrum im Ringturm
Wien (ringturm) - Mit Eröffnung der Ausstellung "100 Jahre Leonidow" rückte auch
Iwan Leonidow und sein Lebenswerk, das im Kreis der russischen Konstruktivisten zum Avanciertesten gehört,
in ein neues Licht. Die aktuelle Schau der Reihe "Architektur im Ringturm" beruht im Wesentlichen auf
dem von vier Universitäten (Moskau, Mailand, Stuttgart und Delft) durchgeführten Forschungsprojekt "Eine
mögliche Stadt. Architektur von Iwan Leonidow 1926-1934". Das Ergebnis dieses Projektes wird nunmehr
nach der Triennale Mailand (2007) in zahlreichen Rekonstruktionsmodellen, Plänen, Fotos und in aufwändig
hergestellten Computerrekonstruktionen und Videomontagen gut aufbereitet im Ausstellungszentrum im Ringturm, der
Unternehmenszentrale der Vienna Insurance Group, präsentiert. Die von Leonidow abstrakt-gedanklich erarbeitete
Position wird dadurch im realen Maßstabsverhältnis für die Besucher der Ausstellung nachvollziehbar
gemacht.
Die Aktualität Leonidows und der russischen Avantgarde
Heute erlebt der russische Konstruktivismus, der Mitte der 1930er-Jahre in politische Ungnade fiel und
in der Folge vom stalinistischen Neoklassizismus abgelöst wurde, international neue Beachtung. Diese Rückbesinnung
hängt u.a. mit der Suche der neuen Architektengeneration nach historischen Wurzeln zusammen und hat seit dem
Zerfall der Sowjetunion auch in Moskau ihren fixen Platz im architektonischen Diskurs. Zusätzlich hat die
internationale Aufarbeitung mit entsprechenden Publikationen (vor allem die von Chan Magomedow, 1983 in deutscher
Sprache, jüngst das Buch von Richard Pare "Verlorene Avantgarde. Russische Revolutionsarchitektur 1922-1932.
Hg. von Phylis Lambert, 2007) sowie Ausstellungen über die konstruktivistische Baukunst (als erste Paris-Moskau,
1980, im Centre Georges Pompidou, bis hin zu "Moskau-Melnikow" im Ringturm 2006) das baukünstlerische
Werk von Melnikow, Ginsburg und deren Zeitgenossen in die breite Öffentlichkeit getragen.
Russischer Konstruktivismus im Ringturm
In der Ausstellung und im begleitenden Katalog kommen die an der Forschung beteiligten Spezialisten zu
Wort; Rekonstruktionspläne und Computerrekonstruktion bzw. Videomontagen zeigen, wo topographisch in Moskau
die Projekte Leonidows stünden bzw. wie sie im heutigen städtebaulichen Kontext wirken würden.
Im Katalog beleuchtet ein Essay von dem in New York lehrenden, international bedeutenden Architekturhistoriker
Jean Louis Cohen die Rezeption des russischen Konstruktivismus im aktuellen Architekturdiskurs.
Einen wesentlichen Teil der Ausstellung und des Kataloges bildet der Nachdruck von Projekten Leonidows in der Zeitschrift
"SA" (Sovremennaja Architektura - Architektur der Gegenwart; mit Übersetzungen der publizierten
Texte), die die wichtigste erhaltene Quelle seines Werkes darstellen und graphisch von Leonidow selbst gestaltet
wurden. Rekonstruktionspläne der bedeutendsten Werke sind auf großen Tafeln zu sehen.
In Modellen gezeigte Arbeiten
Die berühmtesten Arbeiten sind wohl das Modell des Lenin-Instituts (1927) - ein nie realisierter Kugelbau,
der schon früh Leonidows Traum von der architektonischen Aufhebung der Schwerkraft veranschaulichte - , der
Entwurf für einen pyramidenförmigen Kulturpalast auf dem Gelände des ehemaligen Simonow-Klosters
(1930) in Moskau und die mannshohe Zeichnung eines Hochhauses am Roten Platz (1934).
Zu den weiteren gezeigten Arbeiten gehören: das Druckereigebäude der Zeitung Iswestija, das Gebäude
für den Centrosojus, der Wettbewerb für die neue Stadt Magnitogorsk (von Leonidow als "lineare Stadt"
entworfen), gezeigt in einem Großmodell 150x190cm, Arbeiterklubs in verschiedenen Varianten, der neue Regierungssitz
in Alma Ata sowie das Denkmal für Christoph Columbus.
Iwan Iljitsch Leonidow - vom Gehilfen zum avanciertesten Konstruktivisten
Iwan Iljitsch Leonidow wurde 1902 auf dem Gehöft Wlassicha im Gouvernement Twer als Sohn eines Forstarbeiters
geboren. Seine Kindheit verbrachte er in dem Dorf und arbeitete als Gehilfe eines Ikonenmalers. Im Jahre 1920 trat
er in die "Freien künstlerischen Werkstätten" in Twer ein. 1921 kam er zur Fakultät für
Malerei der Moskauer WChUTEMAS. Später wechselte er in die Werkstatt Alexander Wesnins an der Architekturfakultät.
Von 1925 bis 1927 beteiligte sich Leonidow an zahlreichen Wettbewerben und reichte folgende Arbeiten ein: die Wohnhäuser
in Iwanowo-Wosnessensk (3. Preis), die Weißrussische Universität in Minsk (Anerkennung), Typenbauten
für Arbeiterklubs für 500 und 1.000 Personen (Anerkennung). Veröffentlicht wurde sein Studienprojekt
für den Sitz der Tageszeitung Iswestija.
Noch als Student entschied er sich für die Vereinigung der Konstruktivisten OSA und die Zeitschrift "SA"
(Architektur der Gegenwart). Sein Diplomentwurf - das Institut für Bibliothekswissenschaften "W. I. Lenin"
von 1927 - wurde zu einem Markstein in der Entwicklung des Konstruktivismus. Nach seinem Diplom arbeitete er am
WChUTEMAS, zunächst als Assistent im Atelier Alexander Wesnins. Bald leitete er ein selbstständiges Atelier.
Die Zeit aktivster und fruchtbarster Arbeit Leonidows waren die Jahre 1927 bis 1930. Er nahm an der Arbeit der
OSA teil, trat in Diskussionen auf und arbeitete an Versuchs- und Wettbewerbsentwürfen (viele im Auftrag der
OSA), wie zum Beispiel: Kinofabrik in Moskau (1927), neuer sozialer Typ des Arbeiterklubs (1928), Regierungssitz
in Alma Ata (1928), Gebäude des Zentralverbandes der Konsumgenossenschaften der UdSSR (Zentrosojus) in Moskau
(1928), Haus der Industrie in Moskau (1929), Columbusdenkmal in Santo Domingo (1929), sozialistische Siedlungsweise
beim Magnitogorsker Kombinat (1930), Kulturpalast in Moskau (1930).
Anfang der 1930er Jahre wurde auf Initiative der WOPRA (Vereinigung der proletarischen Architekten) eine Kampagne
über "Leonidowerei" eingeleitet, in der die experimentellen Entwürfe Leonidows einer unsachlichen
Kritik unterzogen wurden. Er war dadurch gezwungen, seine Lehrtätigkeit aufzugeben.
In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre arbeitete er in verschiedenen Organisationen an der Planung
und Bebauung der sibirischen Stadt Igarka, an den Entwürfen zum Serpuchow-Platz in Moskau, zur Rekonstruktion
Moskaus, zum Klub der Zeitung "Prawda" und anderen. Einer seiner besten Entwürfe für das Volkskommissariat
für Schwerindustrie (Narkomtjashprom) in Moskau entstand 1934.
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre schuf Leonidow Entwürfe zum Wohnkomplex "Kljutschiki"
bei Nishni Tagil im mittleren Ural, zum Pionierlager "Artek" und zur Siedlung Ussolje im Ural.
In den Nachkriegsjahren überwand er die Krise, welche einige Jahre seine schöpferische Phantasie gehemmt
hatte. Es entstand eine Reihe von Entwurfstudien, die von einem neuen schöpferischen Aufschwung Zeugnis ablegen:
für die Stadt der Zukunft - die "Sonnenstadt", Entwürfe für das Gebäude der UNO,
für den Palast der Sowjets, für die Weltausstellung in Moskau, für das Forum der Künste und
andere.
Iwan Iljitsch Leonidow starb am 6. November 1959 in Moskau.
(Biographie: Auszug aus S. O. Chan-Magomedow, Pioniere der sowjetischen Architektur, Wien, Löcker Verlag,
1983) |