Wien (fwf) - Kann es der Europäischen Union gelingen, eine stärkere soziale Identität aufzubauen?
Diese Frage ist der Kern eines aktuellen Projektes des Wissenschaftsfonds FWF. Für den ursprünglich rein
marktwirtschaftlich geprägten Staatenverbund wäre dies ein fundamentaler Schritt in Richtung einer umfassenden
politischen Einheit. Im Rahmen des Projektes werden nun insbesondere die rechtlichen Handlungsspielräume untersucht,
die der Lissabon-Vertrag dazu bietet.
Die Europäische Union war in ihren Anfängen hauptsächlich eine Wirtschaftsgemeinschaft. Jetzt entwickeln
sich ihre Aufgaben über rein marktwirtschaftliche Aspekte hinaus. Der Lissabon-Vertrag, welcher am 1. Dezember
2009 in Kraft getreten ist, beinhaltet neue Regeln für ein sozialeres Europa: eine Sozialklausel, eine Grundsatzbestimmung
für eine soziale Marktwirtschaft und auch eine neue Kompetenzgrundlage für die Daseinsvorsorgebereiche
(Telekom, Energie, Verkehr etc.). Zusätzlich wurde eine Grundrechte-Charta als verbindlich erklärt und
so unter anderem auch soziale Grundrechte sichergestellt. Insgesamt könnten diese Maßnahmen als Grundlage
für den Aufbau eines europäischen Wohlfahrtssystems und einer stärkeren sozialen Identität
Europas dienen.
In ihrer Habilitationsarbeit "Soziale Marktregeln für Europa" befasst sich Dr. Dragana Damjanovic
vom Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht an der Wirtschaftsuniversität
Wien nun damit, wie diese neuen Grundlagen nutzbar gemacht werden können, um einen konkreten rechtlichen Rahmen
für ein europäisches Wohlfahrtssystem zu etablieren. Dazu Dr. Damjanovic: "Eine meiner Hypothesen
orientiert sich an der EU-weiten Integration der Daseinsvorsorgebereiche, die wir alle z. B. durch die Liberalisierung
des Telekom- oder Energiesektors hautnah erlebt haben. Die Hypothese geht davon aus, dass eine Integration der
sozialen Bereiche auf EU-Ebene auch in eine vergleichbare Richtung einer Liberalisierung weisen könnte - trotz
der neuen Regeln für ein sozialeres Europa im Lissabon-Vertrag."
Zur Beantwortung dieser Fragen untersucht Dr. Damjanovic nun konkrete Sektoren des Wohlfahrtsstaates - Gesundheitsvorsorge,
Krankenversicherung und Hochschulbildung. Dabei analysiert sie den bisherigen Umfang der Europäisierung in
diesen Sektoren und welche Rückwirkungen der Lissabon-Vertrag auf diese Entwicklungen haben könnte.
Status quo vadis?
Bisherige Ergebnisse aus den untersuchten Bereichen zeigen, dass bereits eine Europäisierung im Sinne
einer Integration durch rechtliche Regelungen auf europäischer Ebene stattfindet - trotz ausdrücklicher
Reservierung der Kompetenzen in diesen Bereichen für die Mitgliedstaaten.
Diese Europäisierung erfolgt zum einen auf Grundlage der Marktregeln, wie der Grundfreiheiten und dem Wettbewerbsrecht,
und zeigt eine Tendenz zur Öffnung der Märkte - ähnlich wie bei den klassischen Daseinsvorsorgebereichen.
Zum anderen basiert die Europäisierung der sozialen Bereiche auf den Regelungen zur Unionsbürgerschaft,
die vom EUGH zu einem zentralen Element des zukünftigen sozialen Europa konstruiert worden sind. Hier führen
sie zu einer stärkeren Koordination der mitgliedstaatlichen Wohlfahrtssysteme auf europäischer Ebene.
Beide Prozesse haben grundlegende Auswirkungen auf die Gestaltung der Wohlfahrtssysteme in den Mitgliedstaaten.
Grundrecht auf Wohlfahrt?
Ob und wie die neuen Bestimmungen im Lissabon-Vertrag in diese rechtlichen Prozesse eingreifen werden,
ob sie diese verändern werden und was das alles für den Aufbau eines europäischen Wohlfahrtssystems
und einer sozialen Identität Europas bedeuten kann - diesen Fragen gelten die nächsten Schritte der Arbeit
von Dr. Damjanovic.
Besonders spannend wird dabei sein zu sehen, wie die sozialen Grundrechte der Grundrechte-Charta von den europäischen
AkteurInnen in diesem Prozess in Zukunft instrumentalisiert werden. Wird es im zukünftigen Europa tatsächlich
ein Grundrecht des Einzelnen auf soziale Sicherheit geben oder werden diese Bestimmungen lediglich Prinzipien bleiben?
Prinzipien, die bloß als Richtschnur für die Ausgestaltung der sozialen Identität Europas herangezogen
werden können, ohne aber selbst eine Substanz für diese zu bieten?
Wie positiv die internationale Harmonisierung unterschiedlicher Dienstleistungsbereiche sich auch persönlich
auswirken kann, weiß Dr. Damjanovic sehr gut: Für ihre jetzige Förderung aus dem Elise-Richter-Programm
des FWF hat sie sich auch durch einen Studienaufenthalt in Madrid, ein Doktorat der Universität Wien sowie
einen Master-Abschluss aus Berkeley in Kalifornien qualifiziert. |