Zeitgeschichte-Tagung: Internationaler, jünger und kunstsinnig   

erstellt am
20  05. 10

Um die 120 Vorträge - Gespräch mit Zeitgeschichte-Institutsvorstand Oliver RathkolbUm die 120 Vorträge - Gespräch mit Zeitgeschichte-Institutsvorstand Oliver Rathkolb
Wien (rk) - Blättert man die 40seitige Broschüre der heurigen Wiener Tagung (25.-28.5.) durch, stößt man auf viele internationale Themen. Neben Osteuropa (etwa "Everyday life in the communist bloc", 26.5.) oder Afrika ("Post/Koloniale Zeitgeschichte: Afrika-Europa", 27.5.) nehmen Forschungen zum Nationalsozialismus einen deutlichen Schwerpunkt ein. Historische Klassiker wie das innenpolitische 34er Jahr, die Rolle der Kirche, aber auch zeitnahe Themen wie "Umweltgeschichte", "Religion" oder "Migration" kommen beim 8. Zeitgeschichtetag hingegen kaum vor. Gerade letzteres müsse in Zukunft weit mehr in die Zeitgeschichte einfließen, betont Zeitgeschichte-Institutsvorstand Oliver Rathkolb im Gespräch. "Und zwar von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an beginnend", so der Historiker, der seit 2008 dem Wiener Institut am Uni-Campus vorsteht.

Insgesamt gibt es heuer fünf Themenschwerpunkte, die von Politik und Ökonomie, Deutung und Hegemonie, transnationalen Perspektiven bis zu einem thematischen Sammeltopf ("Open Space") für Einzeleinreichungen reichen. Organisiert wurde die Tagung von NachwuchswissenschaftlerInnen. In Summe gibt es 42 Panels mit rund 120 Vorträgen bei freiem Eintritt zu hören. Knapp über 40 Prozent der Vortragenden gehören der internationalen Forschergemeinschaft an, 61 Prozent sind jünger als 35 Jahre. Den Eröffnungsvortrag hält die russische Historikerin Irina Scherbakowa, die sich mit dem Mythos des "Grossen Vaterländischen Krieges" auseinandersetzt (25.5., 19.00 Uhr, Kleiner Festsaal der Universität Wien). Die Keynote Lecture hält am nächsten Tag die in der Schweiz lehrende Historikerin Brigitte Studer zum Thema "Das Politische neu erfinden. Zeitgeschichte und Geschlecht/erforschung" im Rahmen der Wiener Vorlesungen. (26.5., 19.00 Uhr, Wiener Rathaus, Volkshalle).

Neben dem dichten Vortragsprogramm an vier Orten am Uni-Campus findet heuer erstmals auch ein inhaltlich abgestimmtes Kunstprogramm statt, das sich schwerpunktmäßig mit den Themen Nationalsozialismus, der ermordeten und vertrieben jüdischen Kultur und Frauen in Film- und Diskussionsbeiträgen auseinandersetzt.

Viele Beiträge thematisieren die Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft, setzen sich also mit den theoretischen Voraussetzungen historischen Forschens auseinander. Beiträge zur "Geschichtsdidaktik und das Aufdecken von hegemonialen Diskursen" (27.5.) gibt es ebenso, wie Vorträge zu "Europäischen Erinnerungskulturen" (26.5.) und zur gegenwärtigen Genderforschung. Interessant dürfte der Vortrag von Birgit Nemec angesichts der laufenden Lueger-Denkmal-Diskussion werden, die sich mit "Straßenumbenennungen als Medien der Vergangenheitspolitik" in Wien zwischen 1910 und 2010 beschäftigt (28.5., ab 16.30 Uhr, Alte Kapelle).

Apropos Lueger-Diskussion: Für Rathkolb, der die Debatte um die Person des Wiener Bürgermeisters, der heuer seinen 100. Todestag hatte, interessiert verfolgt, ist Lueger ein typisches Beispiel für "neue Fragen an das 19. Jahrhundert". "Der aggressive Populismus Luegers, die damalige Migrationsgeschichte Wiens, wie auch der Börsencrash von 1873: Das 19. Jahrhundert wird, trotz aller Unterschiede, wieder spannend", diagnostiziert Rathkolb. Das Ausbleiben einer Religions- und Umweltgeschichte bei der jetzigen Tagung, sei ihm auch verwundert aufgefallen: "Das braucht noch ein bisschen Zeit, aber das kommt noch, da bin ich mir sicher."

Angesprochen auf die zu Ende gegangene Großausstellung des Wien Museum über die 1930er Jahre ("Kampf um die Stadt") meint er, dass diese Schau einen sehr breiten Zugang zu dieser Zeit ermöglicht habe, "Wissenschaftler wie auch Laien konnten sich dort einiges abholen." Zur aktuellen Neubau-Diskussion des Wien Museum unterstreicht der Historiker positiv die öffentlich gehaltene Diskussion über die inhaltliche Ausrichtung eines neuen Wiener Stadtmuseums. Auch hier müsse es darum gehen, das Thema Migration wesentlich deutlicher als bislang ins Zentrum zukünftiger musealer Überlegungen zu stellen. "Früher haben sich soziale Schichten verändert, heute verändert sich die Gesellschaft insgesamt", argumentiert er. Erst kürzlich habe er eine wissenschaftliche Arbeit eines aus der Türkei stammenden Studenten betreut, der die vielen Wiener Zeugnisse der beiden Türkenbelagerungen völlig anders sieht, "als wir es so gewohnt sind". Speziell in Sachen türkischer Geschichte verweist Rathkolb auch auf die sogenannte "Türkenbeute"-Sammlung, die großteils im Wien Museum lagert. "Damit kann man schon viel anfangen", meint Rathkolb, der sich von modular funktionierenden Schausammlungen mehr verspricht, als von einer kanonisierten Stadterzählung. "Diese Form der Erzählung ist längst vorbei."

"Update! Perspektiven der Zeitgeschichte" (25.-28.5.), veranstaltet vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, freier Eintritt.
     
Informationen: http://www.univie.ac.at/zeitgeschichte    
 
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