Revolutionär: Schon Kupferzeit-Menschen schauten "Kino"   

erstellt am
29. 06. 10

Hochschulen aus St. Pölten, Cambridge und Weimar beleben prähistorisches Kino mit moderner Medientechnologie
St. Pölten (prd) - Schon in der Kupferzeit schauten unsere Vorfahren "Kino" - und das in 3D und mit Surround-Sound. Darauf weisen Fundorte prähistorischer Felsgravuren hin, die Menschen aus der Ära von Ötzi bis Kaiser Augustus ein audiovisuelles Erlebnis boten. Diese liegen über ganz Europa verstreut. In Norditalien, wo sich die höchste Konzentration an Felsbildern und Fundorten befindet, werden diese nun im Rahmen eines internationalen Projektes mit Beteiligung der Fachhochschule St. Pölten untersucht. Dabei kommen für die Archäologie außergewöhnliche Instrumente und Methoden zum Einsatz - neueste digitale Medientechnologien erwecken so das prähistorische Kino zu neuem Leben.

Das Kino wurde Ende des 19. Jahrhunderts erfunden - richtig oder falsch? Richtig, wenn man an moderne Formen des Kinos denkt. Die ursprüngliche Idee des Kinoerlebnisses, nämlich eine Geschichte visuell und auditiv zu vermitteln, scheint jedoch viel älter zu sein. Dessen Erfindung dürfte bis in die Kupferzeit zurückreichen. Genau das will das innovative "Prehistoric Picture Project" der FH St. Pölten, der Universität Cambridge und der Bauhaus Universität Weimar nun mit außergewöhnlichen Methoden beweisen.

Im Zentrum des Projekts stehen prähistorische Felsgravuren, die in ganz Europa oftmals an verborgenen und schwer zugänglichen Plätzen liegen. Warum wurden gerade diese Plätze für die Felsbilder gewählt? Das war für die ArchäologInnen bisher ein Rätsel. Umso spektakulärer ist folgende These von Dr. Frederick Baker, der gemeinsam mit Dr. Christopher Chippindale das Projekt leitet: Die Plätze der Felsbilder sind deshalb so ausgewählt worden, um den BetrachterInnen ein umfassendes visuelles und akustisches Erlebnis zu bieten - also quasi einen prähistorischen Kinofilm. Dieser These gehen die ForscherInnen nun mit für die Archäologie außergewöhnlichen Methoden auf den Grund: modernsten digitalen Medientechnologien aus dem Bereich Film und Sound.

Kinosaal der Kupferzeit
Wie man sich das prähistorische Kinoerlebnis vorstellen kann, erläutert Dr. Frederick Baker - Mitarbeiter des Museum of Archaeology & Anthropology der University of Cambridge und Gastlektor an der FH St. Pölten: "Die Felszeichnungen, die die Kupferzeitmenschen in die Felsen ritzten, sind unserer Meinung nach keineswegs bloße Bilder, sondern aktiver Teil einer audiovisuellen Performance. Der Blick der Betrachter fiel zunächst auf ein Felsbild und wurde von dort auf weitere Orte mit Felsbildern gelenkt. Auf das bewegte Bild musste man zwar noch verzichten, aber dennoch entstanden für das Auge Bildabfolgen wie in einer Animation. Zusätzlich sah man die Bilder in einem bewusst gewählten Ambiente, das oftmals einen spektakulären Blick auf die umgebende Tallandschaft bot. Neben dem Auge kam auch das Ohr nicht zu kurz - denn die Felszeichnungen sind gehäuft an Stellen mit besonderen Echos zu finden. Damit handelt es sich bei den Felsbildern nicht um statische Momentaufnahmen, sondern um Bilder, die Geschichten im Kopf der Betrachter entstehen ließen - ganz wie im Kino".

Die "Kinoszenen" zeigen u. a. Kämpfe, die Jagd, Häuser oder tanzende Menschen. Erstaunlich ist dabei, dass der Tod nie eine Rolle spielt und auch Frauen kaum vorkommen. Produziert wurden die Szenen - die den Startschuss für den Beginn der erzählenden Malerei darstellen - in der Zeit zwischen 4000 bis 1000 v. Chr. Damit reichen die Felszeichnungen, die in ganz Europa verstreut liegen von der Jungsteinzeit bis zu den Römern. Die höchste Konzentration befindet sich mit 100.000 einzelnen Bildern in Valcamonica rund um die Gemeinden Paspardo und Cappo di Ponte in der Lombardei, in Norditalien. Hier werden aktuell auch die Untersuchungen im Rahmen des Projektes durchgeführt.

Digital in der Vergangenheit
Um die These zu untermauern, dass bereits Ötzi ins Kino ging, setzt das Forschungsprojekt neueste digitale Medientechnologien ein. Dazu leistet die FH St. Pölten einen großen Beitrag, wie Projektmitarbeiter DI Michael Kren vom Institut für Medienproduktion erklärt: "Mittels modernster Computertechnologie stellen wir die Fotos der Felsenbilder in Sequenzen dar und reanimieren diese wie bei einem Comic. Zudem analysieren wir die Bilder unter ganz unterschiedlichen Aspekten - denn wir wollen wissen, mit welcher Absicht unsere Vorfahren diese in den Felsen geritzt haben."

Genauso wie den Zeichnungen, hauchen die ForscherInnen der FH St. Pölten aber auch dem damaligen akustischen Surrounding neues Leben ein - und betreten damit wissenschaftliches Neuland. Denn im Projekt kommt die Archeo-Akustik - ein junges Forschungsgebiet, das sich mit akustischen Besonderheiten von Fundstätten beschäftigt - zum Einsatz, wie Feldforscherin DI Astrid Drechsler erläutert: "Wir checken quasi die Tonanlage des vermuteten Kinosaals und schauen, ob Orte mit Felszeichnungen ein besonderes akustisches Potential bieten. Dieses können wir nur mit unserem bloßen Ohr oftmals nicht erkennen. Z. B. geht ein vorhandenes Echo aufgrund einer in der Nähe befindlichen Autobahn vollkommen unter und kann erst durch komplexe Geräuschfilter wiederentdeckt werden." So versetzen uns die modernen Medientechnologien in den ersten Kinosaal der Welt zurück. Und dieser stand dem modernen Kinosaal um nichts nach, wie Dr. Baker meint, der selbst innovative Filmprojekte bereits in Cannes gezeigt hat und für BBC, den ORF sowie arte als Regisseur tätig ist.

Eine spezielle Besonderheit des Prehistoric Picture Project mit Beteiligung der FH St. Pölten ist der enge Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Kunst. So wurden zu Beginn des Projektes Alphorn- und Trompetenbläser - wie Christopher Well von der bayerischen Musikgruppe Biermösl Blosn - eingeladen, um zu überprüfen, ob an den Fundorten tatsächlich ein Echo vorhanden ist. Aber auch darüber hinaus sind KünstlerInnen eingeladen sich mit dem prähistorischen Kino zu beschäftigen und sich so zu künstlerischen Werken inspirieren zu lassen. Erste Ergebnisse sind bis November im Klangturm St. Pölten zu besichtigen. Eine Ausstellung in Cambridge unter dem Titel "Pitoti" - wie die Felszeichnungen in Valcamonica bezeichnet werden - folgt im Jahr 2011.

Über die Fachhochschule St. Pölten
Die Fachhochschule St. Pölten ist Anbieterin praxisbezogener und leistungsorientierter Hochschulausbildung in den Bereichen Technologie, Wirtschaft und Gesundheit & Soziales. In mittlerweile 14 FH-Studiengängen werden mehr als 1700 Studierende betreut. Neben der Lehre widmet sich die FH St. Pölten intensiv der Forschung. Die wissenschaftliche Arbeit erfolgt innerhalb der Studiengänge sowie in eigens etablierten Instituten, in denen laufend praxisnahe und anwendungsorientierte Forschungsprojekte entwickelt und umgesetzt werden.
     
Informationen: http://www.fhstp.ac.at    
     
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