Lückenschluss zwischen Spätantike
und Spätmittelalter
St. Pölten (mss) - Als Voraussetzung für die Neugestaltung des Domplatzes und der damit
verbundenen Erneuerung der unterirdischen Einbauten müssen, um den aus dem Bodendenkmalschutz sich ergebenden
gesetzlichen Anforderungen zu genügen, flächendeckend archäologische Grabungen durchgeführt
werden.
Aus früheren Erkundungsgrabungen, einer Georadaruntersuchung und dem historischen Quellenmaterial ist bekannt,
dass sich am Domplatz ein zumindest ab der Mitte des 11. Jahrhunderts bis Ende des 18. Jahrhunderts genutzter
Stadtfriedhof befindet, sowie Bauwerksreste von der römischen Antike bis ins Mittelalter zu erwarten sind.
Es müssen daher eine unbekannte, aber sicherlich in die tausende gehende Anzahl von Bestattungen mit archäologischer
Sorgfalt entnommen und aufgefundene Bauwerksreste dokumentiert und vor der Wiederverfüllung konserviert werden.
Die geborgenen sterblichen Überreste werden nach der parallel zur Grabung stattfindenden anthropologischen
Untersuchung für die Wiederbestattung am städtischen Hauptfriedhof freigegeben, wodurch ein pietätvoller
Umgang mit den hier bestatteten Bürgern gewährleistet ist.
Heuer wird ein Abschnitt im Ausmaß von 1.000m² (ca. 18% der Platzfläche) am Ostrand des Platzes,
entlang der Bistumsgebäude und an der Portalseite der Domkirche, untersucht werden. Die üblichen Platznutzungen
sollen, abgesehen mit der damit verbundenen Flächenverminderung, unvermindert weitergehen können.
Alle diese Arbeiten bedürfen der Zustimmung und unterliegen grundsätzlich der Aufsicht des Bundesdenkmalamtes,
sind aber vom Bauwerber, in diesem Fall der Stadt St. Pölten, zu veranlassen bzw. durchzuführen. Mit
der Leitung der Grabungen wurde der Stadtarchäologe Dr. Risy betraut. Für die anthropologischen Untersuchungen
konnte die Medizinische Universität Wien, Department für Gerichtsmedizin, gewonnen werden. Die Öffentlichkeit
wird über die Grabungsergebnisse periodisch in Form von Presseartikel, regelmäßigen angebotenen
Führungen und aktuellen Postern informiert.
Der Domplatz ist heute durch seine Lage und multifunktionale Nutzung einer der zentralen Punkte des innerstädtischen
Lebens der Landeshauptstadt. Seine historische Bedeutung ist in ihrer Gesamtdimension hingegen der Öffentlichkeit
kaum bekannt:
- Kleinere archäologische Untersuchungen am Domplatz und in angrenzenden Gebäuden zeigten sehr gut
erhaltene und baulich qualitätvolle römerzeitliche Bausubstanz von öffentlichen Gebäuden.
- Das älteste Kloster Niederösterreichs wurde in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in diesem
Bereich in römischen Ruinen eingerichtet, dessen Patron namensgebend für St. Pölten wurde.
- Dieses Kloster bildet die Keimzelle der mittelalterlichen Stadtentwicklung. Mit den in der Urkunde von 1159
verbrieften Rechten gilt St. Pölten als älteste Stadt Österreichs.
- Die ehemalige Klosterkirche, der heutige Dom, zählt nicht nur wegen des beeindruckenden barocken Innenraumes,
sondern auch wegen der erhaltenen Bausubstanz der Spätromanik zu den bedeutendsten Kirchenbauten von Niederösterreich.
- Am Domplatz standen zwei weitere mittelalterliche Kirchenbauten, an die sich ringsum der ehemalige Stadtfriedhof
anschloss. Unter anderen wurde nach Aussage der Quellen die Amme Kaiser Heinrichs IV. im Jahre 1054 hier bestattet.
Abgesehen von der Bedeutung der einen Kirche für die Stadt als Pfarrkirche und ihrer eigenen, mit den großen
städtischen Brandkatastrophen verbundenen Baugeschichte, entzündete sich an der Stadtpfarrkirche auch
immer wieder der für das historische Werden von St. Pölten so bedeutsame Gegensatz zwischen Stadt und
Kloster, insbesondere in der Zeit der Reformation und Gegenreformation. Insofern ist kaum ein anderer Bau der Stadt
so geeignet wie die ehemalige Pfarrkirche, als bauliches Synonym der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
Geschichte St. Pöltens zu dienen.
Die historische bzw. prähistorische Anthropologie beschäftigt sich mit archäologisch ergrabenen
Skelettfunden des anatomisch modernen Menschen. Nur durch die anthropologische Erforschung von Knochen und Zähnen
wird zum Beispiel eine Rekonstruktion vergangener Lebensumstände, wie des Gesundheits- und Krankheitsstatus,
der Ernährung oder der Arbeitsbelastung mit allen Veränderungen im Laufe der Zeiten bis herauf zu uns
möglich.
- Die vollständige Ergrabung des Friedhofs einer Stadt über einen dermaßen langen Zeitraum war
bisher weltweit noch kaum möglich.
- Aus dem Traisental gibt es bereits anthropologische Untersuchungen, die bis in die Steinzeit zurückreichen
und in die Untersuchungen mit einbezogen werden können.
- Die einzigartige Stellung des Gräberfeldes in St. Pölten besteht darin, dass damit die noch bestehende
Lücke zwischen Spätantike und Spätmittelalter geschlossen werden kann.
- Aus einem in Europa kulturhistorisch und wissenschaftlich hochinteressanten Raum sind somit erstmals lückenlose
Rekonstruktionen und Veränderungen von Lebensbedingungen und Lebensumständen von der Steinzeit bis ins
Mittelalter und der frühen Neuzeit möglich.
Die geplanten Aktivitäten des Jahres 2010/2011 schaffen durch die beabsichtigte Einbeziehung der Bevölkerung
ein breites historisches Bewusstsein und ein positives Bild für die mit der Neugestaltung verbundenen archäologischen
Tätigkeiten.
Verkehrsinfo: Die Grabungen auf dem nordöstlichen Teil des Domplatzes erfolgen voraussichtlich vom 27.07.2010
bis 26.11.2010. Dadurch entfallen 33 Abstellplätze. Die übrigen Abstellplätze (rund 110) auf dem
Domplatz können ungehindert angefahren werden.
Markt: Der Marktbetrieb bleibt während der Grabungsarbeiten vollständig und ungestört erhalten.
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