Wien (wifo) - Die bisher vorgelegten Konsolidierungsprogramme einzelner EU-Länder scheinen insgesamt
eher den "einfachen Weg" zu gehen. Dazu zählen leicht durchsetzbare, aber wenig nachhaltige kurzfristige
Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst und die Erhöhung von Steuern auf den Konsum als
der größten Nachfragekomponente.
Diese Maßnahmen werden umgesetzt, ohne gleichzeitig umfassende Strukturreformen in den öffentlichen
Ausgaben sowie in den Abgabensystemen zu beginnen, und blenden die Probleme, die vor der Wirtschaftskrise bereits
existierten oder gar zu ihr beitrugen, weitgehend aus. Einige wenige punktuelle strategische Maßnahmen werden
gesetzt (etwa Anhebung des Pensionsantrittsalters, Besteuerung von Boni, Bankenabgabe, Besteuerung höherer
Einkommen und Vermögen, Steuern auf public bads, Erhöhung des gesetzlichen und/oder faktischen Pensionsantrittsalters),
aber ihr Gewicht ist begrenzt.
Es gibt bislang nur ansatzweise Querverbindungen zwischen den Konsolidierungsprogrammen und der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit und des Klimawandels oder der Bewältigung des demographischen Wandels. Auch die proaktiven
Elemente der Konsolidierungspakete sind zu wenig entschieden und können keinen größeren Beitrag
zur Milderung der zunehmenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen leisten. Die nationalen Konsolidierungsstrategien
werden außerdem zu wenig international koordiniert, daher können potentielle lenkungspolitisch sinnvolle
Steuereinnahmen, etwa aus einer Finanztransaktionssteuer oder der Besteuerung von Kerosin, nicht realisiert werden.
Wirtschaftspolitischer Hintergrund
Im Jahr 2011 wird sich weisen, wie robust die Erholung der Wirtschaft in den Industrieländern aus
der Krise ist. Die Impulse aus Asien werden ein wenig nachlassen. Die Konjunkturpakete, die das Wirtschaftswachstum
bis weit in das Jahr 2010 angekurbelt haben, werden zu einem bedeutenden Teil auslaufen; in Europa und wahrscheinlich
auch in den USA muss die notwendige Sanierung der öffentlichen Haushalte einsetzen, da die Wirtschaft heuer
weltweit um 4% gewachsen ist, in den USA um 2¾% und in der EU um 1¾%. 2011 wird das Wachstum etwas
niedriger ausfallen als 2010, aber weltweit noch immer 3,5% und in der EU sowie in den USA 2% erreichen.
Nach der Krise ist die baldige Rückkehr zu einem permanent deutlich höheren Wirtschaftswachstum unwahrscheinlich.
In der Nachkrisenperiode sind gleichzeitig alte und neue Lasten sowie große Ungleichgewichte zu bewältigen;
umso wichtiger ist die Feinabstimmung der Wirtschaftspolitik in einer Phase großer Unsicherheit. Die Budgetkonsolidierung
ist eine große Herausforderung, und sie hat sowohl die Krisenursachen als auch die Probleme, die schon vor
der Krise auf der Agenda standen, zu berücksichtigen. Allerdings muss die Konsolidierung auch wachstumsorientiert
erfolgen und Rücksicht auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und auf die Arbeitsmarktsituation nehmen. Die
Geldpolitik muss während der Budgetkonsolidierung expansiv bleiben, und die Unterstützung der Länder
mit dem größten Konsolidierungsbedarf durch die europäische Wirtschaftspolitik muss gesichert sein.
Zehn Leitlinien für eine wachstums- und beschäftigungsfreundliche Budgetkonsolidierung
Vor diesem Hintergrund sollen die vom WIFO vorgeschlagenen zehn Leitlinien die Budgetkonsolidierung
unterstützen und gleichzeitig helfen, die langfristigen Wachstumstreiber zu stimulieren, das Wirtschaftssystem
ökologisch nachhaltiger zu machen und den Trend zu einer zunehmenden Ungleichverteilung von Einkommen und
Vermögen zu korrigieren. Der Klimawandel, das Projekt "Europa 2020", die Notwendigkeit von Investitionen
in Forschung und Entwicklung sowie Bildung und die Bevölkerungsalterung können während der Konsolidierungsperiode
nicht ausgeblendet werden.
Leitlinie 1: Die Budgetkonsolidierung kann in eine kohärente Strategie eingebaut werden.
Neben der Konsolidierung verlangen die Probleme, die schon vor der Krise existierten, weiterhin Aufmerksamkeit:
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, langfristig orientierte Programme zur Unterstützung von Innovationen,
zum Ausbau der Bildung und zur Bewältigung der Folgen der Bevölkerungsalterung sowie des Klimawandels
im Rahmen einer integrierten Strategie sind dringend erforderlich.
Leitlinie 2: Die Budgetkonsolidierung ist einfacher umzusetzen, wenn Ziel und Strategie gut kommuniziert
werden und die dahinterstehende Vision erkennen lassen.
Eine erfolgreiche Budgetkonsolidierung benötigt eine gute Kommunikationsstrategie. Sie sollte positiv
motiviert sein und als Chance gesehen werden, Ineffizienzen im öffentlichen Sektor ebenso wie überkommene
Ausgaben und Steuerprivilegien zu beseitigen.
Leitlinie 3: Konsolidierung und proaktive Komponenten sind zwei Seiten einer Medaille.
Zukunftsinvestitionen zur Stimulierung des langfristigen Wachstums sollten nicht reduziert, sondern vielmehr
besonders forciert werden. Werden die Ausgaben für Wachstumstreiber über mehrere Jahre während der
Konsolidierungsperiode eingefroren oder gar gekürzt, ist die Budgetkonsolidierung zum Scheitern verurteilt,
da die resultierende Wachstumsdämpfung automatisch die Steuereinnahmen drücken und die Ausgaben erhöhen
wird.
Leitlinie 4: Eine Konsolidierungsstrategie ist erfolgreicher, wenn die Lasten fair verteilt werden.
Auch vor dem Hintergrund der steigenden Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen sollten
Gruppen mit niedrigem Einkommen und hohem Arbeitslosigkeitsrisiko von Steuererhöhungen ausgenommen und öffentliche
Ausgaben, die für Per- sonen mit niedrigem Einkommen am bedeutendsten sind, nicht eingeschränkt werden.
Verteilungsüberlegungen lassen es auch angeraten erscheinen, die Steuern und Abgaben für Personen mit
niedrigerem Einkommen zu senken, die Besteuerung von Vermögen und Veräußerungsgewinnen zu erhöhen
und auf eine Anhebung des Mehrwertsteuersatzes zu verzichten. Ein Konsolidierungspaket sollte nicht ausschließlich
Ausgabenkürzungen enthalten, sondern auch (einen geringeren Anteil an) Steuererhöhungen, um von den verschiedenen
Interessengruppen und der allgemeinen Öffentlichkeit als fair empfunden zu werden.
Leitlinie 5: Konsolidierung, Impulse für Wachstum und Beschäftigung sowie Strukturreformen können
Hand in Hand gehen.
Die öffentlichen Ausgaben sollten vom öffentlichen Konsum hin zu Ausgaben für Wachstumstreiber
umgeschichtet werden. Die Abgabenstruktur muss weg von stark wachstumshemmenden Steuern und Abgaben hin zu solchen
mit geringeren negativen Wachstumseffekten verändert werden. Der Wettbewerb sollte gefördert werden,
ebenso die Wettbewerbsfähigkeit vor allem in den Ländern mit hohem Leistungsbilanzdefizit. Auch Arbeitsmarktreformen
können einen Wachstumsbeitrag leisten.
Leitlinie 6: Privater Konsum und private Investitionen unterstützen den Konsolidierungsfortschritt.
Wenn die öffentliche Hand ihre Ausgaben verringert, müssen der private Konsum, die privaten Investitionen
und/oder der Export den Nachfrageausfall kompensieren. Daher sollten Personen mit niedrigem Einkommen von der Kürzung
von Transferleistungen, von Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor und von Pensionskürzungen ausgenommen
werden. Sparanreize sollten verringert werden, vor allem für Personen mit höherem Einkommen. Für
private Investitionen im Allgemeinen und für "grüne Investitionen" im Besonderen sollten Anreize
für private Haushalte und Unternehmen gesetzt werden.
Leitlinie 7: In Ländern mit einem Außenhandelsüberschuss fällt die Konsolidierung leichter,
wenn die Binnennachfrage ausgeweitet wird.
Während der Konsolidierung sollte die Binnennachfrage stimuliert werden, insbesondere in Ländern
mit niedrigem Wachstum und hohem Außenhandelsüberschuss. Wenn die Investitionen verhalten bleiben, würden
Lohnerhöhungen und/oder in-work benefits den Konsum stützen. Eine Strategie von Lohnerhöhungen unterhalb
des Produktivitätswachstums würde mittelfristig die Lohnquote sinken lassen das ist gesamtwirtschaftlich
wenig sinnvoll, wenn die zusätzlichen Gewinne nicht für Investitionen genutzt werden.
Leitlinie 8: Ausgabenkürzungen sind die wichtigste Säule einer erfolgreichen Konsolidierung.
Die Erfolgsaussichten einer Budgetkonsolidierung sind höher, wenn die Ausgabenkürzungen gegenüber
den Steuererhöhungen überwiegen. Ausgabenseitige Reformen erbringen oft erst nach einer Anlaufphase Einsparungen,
insbesondere solche, die die langfristige Ausgabendynamik durch systemische Strukturveränderungen eindämmen
(z. B. Reformen im Gesundheits- und Bildungssystem oder bei den fiskalischen Regeln und budgetären Institutionen).
Daher können Steuererhöhungen kurzfristig helfen, die Konsolidierungsziele schneller zu erreichen. Strukturreformen
im öffentlichen Sektor, die die langfristige Ausgabenentwicklung dämpfen können, sollten auf jeden
Fall begonnen werden, auch wenn sie Anfangskosten bringen.
Leitlinie 9: Wirtschaftspolitische Prioritäten bieten Orientierung für die Auswahl konkreter Ausgabenkürzungen.
Lineare Kürzungen sind suboptimal, auch wenn sie politisch leichter durchzusetzen sind. Einzelne Ausgabenkategorien
sollten sehr unterschiedlich behandelt werden. Verwaltungsausgaben sollten gesenkt und Ineffizienzen beseitigt
werden, während Zukunftsinvestitionen deutlich stärker als das nominelle BIP zunehmen sollten. Generelle
Kürzungen von Sozialleistungen, die grundlegende Elemente des europäischen Wohlfahrtsstaates gefährden
und die aggregierte Nachfrage dämpfen würden, sind zu vermeiden. Die Kürzung von Transfers sowie
von Gehältern im öffentlichen Dienst ist strukturell anzulegen. Daher sind effizienzfördernde Reorganisationsmaßnahmen
im öffentlichen Sektor sowie die Anpassung des Pensionsantrittsalters an die erhöhte Lebenserwartung
oder die Beseitigung spezieller Sonderrechte gegenüber kurzfristigen Ausgabenkürzungen zu bevorzugen.
Leitlinie 10: Steuererhöhungen unterscheiden sich in ihren Wachstums-, Konjunktur- und Verteilungseffekten.
Steuern mit Doppeldividende sind die erste Wahl (Finanztransaktionssteuern, Steuern auf public bads einschließlich
Umweltsteuern). Auch vermögensbezogene Steuern mit ihren relativ geringen wachstums- und beschäftigungsdämpfenden
Wirkungen sollten eine Rolle spielen. Dagegen würde eine Anhebung des Mehrwertsteuersatzes besonders die unteren
Einkommensschichten belasten und den Konsum dämpfen, der bislang eine stabile Nachfragekomponente war, insbesondere
im Vergleich mit den Investitionen. Nach der Konsolidierungsphase sollten die Mehreinnahmen für die Senkung
der Steuern auf Arbeit und Investitionen verwendet werden. |