Bahnbrechende Ergebnisse liefert die Forschung an der Technischen Universität (TU) Wien für
Menschen mit Querschnittslähmung. Ein neues Verfahren verbessert ihre Mobilität - und das ganz ohne Operation.
Wien (tu) - Diagnose "Querschnittslähmung" - das bedeutet für die betroffenen
Menschen meist ein Leben im Rollstuhl. Ein junges Forschungsteam der TU Wien hat sich in einem interdisziplinären
Umfeld zwischen Neurowissenschaft, Medizin und Technik der Erforschung des menschlichen Rückenmarks und der
Entwicklung neuer Rehabilitationsmethoden verschrieben - und erzielte dabei bereits bahnbrechende Resultate. Mit
am Körper angebrachten Elektroden können wichtige Nervenbahnen trotz Querschnittslähmung angeregt
werden.
Durch die Querschnittsverletzung werden die vom Gehirn ausgehenden Leitungsbahnen zu den einzelnen Muskelgruppen
unterbrochen - die Ansteuerung von Muskeln unterhalb der Läsion wird beeinträchtigt oder gänzlich
unmöglich. Allerdings ist das Rückenmark kein reines "Leitungsorgan", sondern verfügt
als wichtiger Teil des Zentralnervensystems über ein kompliziertes Neuronensystem, über das verschiedene
Vorgänge automatisch gesteuert werden. Diese "Prozessoreigenschaft" des Rückenmarks machen
sich Dr. Ursula Hofstötter und Dr. Karen Minassian, die am Institut für Analysis und Scientific Computing
der TU Wien sowie am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität
Wien tätig sind, in ihrer Forschungsarbeit zunutze.
Der Kopf denkt - der Rücken steuert mit
In dem Forschungsprojekt gelang es zu beschreiben, wie das Rückenmark rhythmische, schreitähnliche Beinbewegungen
selbstständig steuert und kontrolliert. Menschen mit Querschnittslähmung haben im Rückenmark noch
immer Nervenverbände (sogenannte Lokomotionszentren), die durch Aktivität und gegenseitige Beeinflussung
den Grundrhythmus für Beuge- und Streckbewegungen beim Gehen erzeugen können. "Durch Implantate
kann das Rückenmark derart angeregt werden, dass zyklische Bewegungen in den gelähmten Beinen erzeugt
werden", erklären Hofstötter und Minassian.
Schon bisher gab es Versuche, die Bewegungsfähigkeit von PatientInnen durch die Implantation von stimulierenden
Elektroden und Pulsgeneratoren zu fördern. Mit der an der TU Wien entwickelten Technik kommt man allerdings
nun ganz ohne Operation aus. Durch ihren nicht-invasiven Charakter soll diese neue Methode, die auf einfachen,
handelsüblichen Oberflächen-Stimulationselektroden beruht, einem weitaus breiteren Patientenspektrum
offen stehen. Der nächste wichtige Schritt ist nun der Transfer der Technologie und basiswissenschaftlichen
Erkenntnisse hin zur Anwendung in PatientInnen. Ob dieser Weg in naher Zukunft weiterverfolgt werden kann, hängt
noch von der Finanzierung nachfolgender Forschungsprojekte ab, an deren Ende letztlich der Einsatz der Oberflächen-Rückenmarkstimulation
im klinischen Alltag stehen soll.
Verbesserte Rehabilitation
Die Trainingseffekte bei der Rehabilitation sollen in Zukunft durch die nicht-invasive Rückenmarkstimulation
drastisch verbessert werden können, weil damit auch die Nervenbahnen im Rückenmark direkt angesprochen
und ins Training miteinbezogen werden können. Erste Resultate sind äußerst vielversprechend: Die
Mobilität der PatientInnen kann gesteigert werden, die Spastizität wird vermindert. Patientengruppen,
die aus bisherigen Trainingsmethoden kaum Nutzen ziehen konnten, etwa Personen mit kompletter Querschnittslähmung,
sollen von der neuen Technik ganz besonders profitieren.
TU Wien erregt internationales Aufsehen
Durch Fachpublikationen und auf internationalen Konferenzen hat die Rückenmarksforschung an der TU Wien bereits
für Aufsehen gesorgt. Die größte Einrichtung für querschnittsgelähmte PatientInnen in
den USA, das Shepherd Center (Atlanta), konnte als Partner für klinische Studien gewonnen werden. Auch mit
Partnerinstitutionen aus Taiwan und aus Europa sind Ursula Hofstötter und Karen Minassian gut vernetzt. Besonders
stolz ist man auch darauf, dass im Rahmen eines Translational Brainpower Projektes des österreichischen Wissenschaftsfonds
FWF mit dem Neurologen Prof. Milan R. Dimitrijevic vom Baylor College of Medicine (Texas, USA) einer der profiliertesten
Wissenschaftler auf diesem Gebiet für drei Jahre an die TU Wien gebunden werden konnte.
Maßgeblich unterstützt wurden und werden die beiden in ihrer hochgradig interdisziplinär orientierten
Forschungsarbeit vor allem vom Leiter der Forschungsgruppe TU-BioMed an der TU Wien, Prof. DDDr. Frank Rattay,
dem Vorstand des Neurologischen Zentrums des SMZ Baumgartner Höhe - Otto Wagner Spital, Prim. Prof. Dr. Heinrich
Binder, und Prof. Dr. Winfried Mayr vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen
Universität Wien, sowie durch private Initiativen wie vor allem die in Salzburg beheimatete Wings for Life
Stiftung für Rückenmarksforschung und die Foundation for Movement Recovery mit Sitz in Oslo, Norwegen.
Wissenschaftspreis des Landes Niederösterreich für Hofstötter
Für ihre wissenschaftlichen Leistungen wurde Ursula Hofstötter mit dem Wissenschaftspreis des Landes
Niederösterreich ausgezeichnet - für sie und das ganze Team ein weiterer Ansporn, ihre Forschungen zur
Verbesserung der Therapiemöglichkeiten nach einer Querschnittsläsion voranzutreiben. |