Tübinger Wissenschaftler nutzen das Phänomen der binokularen Rivalität beim Sehen
als Schlüssel zum Bewusstsein
Tübingen (idw) - Mit wehendem Mantel, das rechte Auge fest zugekniffen, beobachtet Captain Blackbeard
mit dem linken durch sein Fernrohr das Meer. Als der Pirat auch das rechte öffnet, verschwindet plötzlich
das Meer. Vor sich sieht er nur noch das Fernrohr in seiner Hand. Und dann ist das Meer, genauso plötzlich,
wieder da. Was hier geschieht ist ein Wahrnehmungswechsel. Normalerweise rechnet das Gehirn die leicht unterschiedlichen
Bilder der beiden Augen zu einem stimmigen Bild um. Wenn sich die Sehinformationen jedoch widersprechen, wird nacheinander
nur das Gesehene des einen und dann des anderen Auges wahrgenommen. Dieses Phänomen nennen Wissenschaftler
"binokulare Rivalität". Forscher um Andreas Bartels am Werner Reichardt-Centrum für Integrative
Neurowissenschaften (CIN) und am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen haben dieses
Phänomen nun genutzt, um einige der Schaltkreise im parietalen Kortex, die zum bewussten Sehen beitragen,
zu entziffern
Nicht alles was wir sehen, nehmen wir bewusst wahr. Die vielen Informationen, die täglich auf uns einströmen,
zwingen unser Gehirn, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Unsere Wahrnehmung ist ein nie endender Prozess:
Unser Gehirn selektiert, gruppiert und interpretiert. Obwohl wir zwei Augen haben, die unterschiedliche Dinge sehen,
verschmelzen die Seheindrücke beider zu einem einzigen Bild - binokulares Sehen nennen es die Experten. Dass
hier auch einmal etwas nicht glatt läuft, kommt vor: Spontane Wahrnehmungswechsel können dann auftreten,
wenn sich die Sehinformationen der beiden Augen widersprechen. Dann wird nacheinander nur das Gesehene eines Auges
wahrgenommen, während das des anderen unterdrückt wird. Unsere Wahrnehmung ändert sich in kurzen,
aufeinander folgenden Intervallen. Das geschieht automatisch, wir können es nicht steuern.
Die Wissenschaftler Natalia Zaretskaya, Axel Thielscher, Nikos Logothetis und Andreas Bartels haben jetzt die Aktivität
der Nervenzellen bei 15 Probanden im posterioren parietalen Kortex gestört, einem Areal der Großhirnrinde,
welches unter anderem an der Zielauswahl von Augenbewegungen beteiligt ist. Während der Versuche wurde den
Probanden jeweils ein Haus auf das eine und ein Gesicht auf das andere Auge projiziert. Das löste eine Wechselwahrnehmung
aus, da das Gehirn die beiden Bilder nicht in Einklang bringen konnte. Wurde währenddessen der parietaler
Kortex kurzzeitig mittels nicht-invasiver Magnetstimulation gestört, berichteten die Probanden über deutlich
weniger Wahrnehmungswechsel.
"Unsere Versuche zeigten, dass der posteriore parietale Kortex ursächlich an der Auswahl beteiligt ist,
welche Informationen von uns bewusst wahrgenommen werden", erklärt Natalia Zaretskaya. "Dies beweist,
dass er eine große Rolle in unserem visuellen Bewusstsein spielt."
"Wenn wir die Nervenschaltkreise verstehen, die unserer Wahrnehmung zugrunde liegen, verstehen wir vielleicht
etwas besser, wie Bewusstsein funktioniert", sagt Andreas Bartels, Wissenschaftler am Centrum für Integrative
Neurowissenschaften. "Zumindest bekommen wir so einen Einblick in die Prozesse, die das Ganze steuern."
Originalpublikation:
Natalia Zaretskaya, Axel Thielscher, Nikos K. Logothetis, Andreas Bartels: Disrupting parietal function prolongs
dominance durations in binocular rivalry, Current Biology (2010); doi: 10.1016/j.cub.2010.10.046 |