Relativitätstheorie auf der Überholspur
Wien (tu) - Einstein hat unser Verständnis des Universums revolutioniert – doch bis heute sind
zentrale Fragen der Gravitationsphysik unbeantwortet geblieben. Zwar kann man heute Planetenbewegungen um die Sonne
mit großer Präzision berechnen – doch die Bewegungsgeschwindigkeit von Sternen rund um das Galaxienzentrum
lässt sich bis heute nicht zufriedenstellend erklären. Die Existenz von unsichtbarer „dunkler Materie“
wurde angenommen, um solche Phänomene beschreiben zu können. Am Institut für Theoretische Physik
der TU Wien beschäftigt sich Daniel Grumiller mit der Theorie der Gravitation. Seine Berechnungen zeigen,
dass eine Erweiterung der Relativitätstheorie bisher offene Fragen beantworten könnte.
Im Fachjournal „Physical Review Letters“ wurden Grumillers Ideen nun (in der Ausgabe vom 19. 11. 2010) veröffentlicht.
Könnte die Schwerkraft bei grossen Distanzen zusätzliche Anteile haben, die bisher unberücksichtigt
geblieben sind? Auf der Suche danach ging Daniel Grumiller zurück zu den Grundlagen der Gravitationstheorie.
Als Ausgangspunkt stellte er die Frage: „Welche Art von Formeln, mit denen man die Gravitation beschreiben könnte,
ist mathematisch überhaupt erlaubt?“ Nur ganz bestimmte mathematische Ausdrücke lassen sich in die Physik
der Gravitation einbauen, ohne Symmetrien zu verletzen, die wir im Universum vorfinden, oder unseren täglichen
physikalischen Beobachtungen eindeutig zu widersprechen.
Die unbekannte Zusatz-Kraft
Daniel Grumiller vereinfachte die Gravitationstheorie, indem er zunächst kugelsymmetrische Fälle betrachtet
– so lässt sich etwa das Gravitationsfeld eines Planeten, eines Sternes oder einer annähernd sphärischen
Galaxie beschreiben. „Man kann dann mathematisch zeigen, aus welchen Beiträgen sich die Gravitationskraft
zusammensetzen muss“, erklärt Grumiller. Manche Beiträge sind wohlbekannt: Die klassische Newtonsche
Schwerkraft und eine Erweiterung dazu, die aus der Relativitätstheorie kommt – beides nimmt mit der Entfernung
ab. Auch Einsteins „Kosmologische Konstante“, die bei extrem großen Distanzen eine Rolle spielt, taucht in
Grumillers Gleichungen ganz automatisch auf. Zusätzlich aber findet man auch noch einen weiteren Beitrag zur
Gravitation: Eine konstante Kraft, die zwischen zwei Objekten unabhängig von ihrer Entfernung wirkt – Grumiller
nennt sie „Rindler-Kraft“, nach dem in Wien geborenen Gravitationsphysiker Wolfgang Rindler.
Diese Kraft ist freilich so klein, dass man sie im täglichen Leben nicht beobachten kann. „Sie steht nicht
im Widerspruch zur Relativitätstheorie, sondern ist eine Erweiterung, die sich in das Gebäude der Relativitätstheorie
nahtlos einfügt“, meint Grumiller.
Schneller als Einstein erlaubt
In einem ersten Versuch, die Größe dieser Zusatz-Kraft abzuschätzen, berechnete Grumiller die Rotationsgeschwindigkeit
von Sternen rund um das Galaxiezentrum – denn bei galaktisch großen Entfernungen, bei denen die klassische
Schwerkraft winzig klein wird, spielt die neugefundene Rindler-Kraft eine entscheidende Rolle. Und tatsächlich
zeigte sich, dass Grumillers Formeln die erstaunlich großen Rotationsgeschwindigkeiten, die man beobachten
kann, qualitativ viel besser beschreiben als bisherige Berechnungen. „Das ist ein Hinweis darauf, dass die Rindler-Kraft
nicht nur mathematisch erlaubt ist, sondern tatsächlich in der Natur auftritt“, meint Daniel Grumiller.
Das Rätsel um die Pioneer-Sonde
Mit derselben Methode untersuchte Grumiller ein weiteres Rätsel der Gravitationsphysik: Die Pioneer-Anomalie.
Schon seit Jahren beobachtet man, dass sich Raumsonden wie Pioneer 10 und Pioneer 11, die sich weit von Erde und
Sonne entfernen, nicht exakt auf den Bahnen bewegen, die von der Relativitätstheorie vorausgesagt werden.
„Auch diese Bahnen kann man beschreiben, wenn man eine kleine, konstante Zusatzkraft annimmt, die Richtung Sonne
wirkt – wie die Rindler-Kraft“, erklärt Grumiller.
Trotz dieser bemerkenswerten Erfolge gibt es in diesem Forschungsprojekt freilich noch viel zu tun: „Es wird spannend
sein, dieses vereinfachte Modell in voller Allgemeinheit in die vierdimensionale Relativitätstheorie einzubauen“,
meint Grumiller, und erhofft sich davon ein besseres Verständnis dafür, was die Stärke der Rindler-Kraft
bestimmt, und einen Einblick in die Frage, wie sie mit der „dunklen Materie“ zusammenhängt. Denn wie Grumiller
betont bleibt sein Modell derzeit noch agnostisch in Bezug auf die Frage ob es „dunklen Materie“ gibt. |