Soll man die Roboter von morgen nach den Prinzipien der Psychoanalyse entwickeln? Ein Forschungsteam
der Technischen Universität (TU) Wien verknüpft Computerwissen- schaft mit Freuds Modellen – mit wertvollem
Erkenntnisgewinn für beide Seiten.
Wien (tu) - Das menschliche Gehirn ist wohl die komplizierteste Struktur, die wir kennen. Unser Denken
kann nicht auf simple mathematische Weise beschrieben werden – doch in der Psychoanalyse wurden Modelle entwickelt,
die zumindest in groben Zügen Auskunft darüber geben, wie unser eigener Kopf funktioniert. Auch moderne
Computer erreichen einen praktisch unüberblickbaren Grad an Komplexität – so ist es also naheliegend,
psychoanalytische Modelle auch auf Computerprogramme anzuwenden. Computer und Psyche zu verknüpfen, das ist
das Ziel von Prof. Dietmar Dietrich und Dr. Dietmar Bruckner vom Institut für Computertechnik der TU Wien
– in Sigmund Freuds Heimatstadt.
Vor lauter Hirnzellen sieht man den Gedanken nicht
Wie ist der Zusammenhang zwischen Gedanken und dem Gehirn? Kann auch in Transistoren und Mikrochips so
etwas wie ein Gedanke entstehen? Schon seit Jahrzehnten wird versucht, Antworten auf solche Fragen zu finden –
meist durch das Analysieren der Grundstrukturen auf kleinster Skala, in der Hoffnung, dass sich die großen
Zusammenhänge daraus erklären lassen. Über die Funktionsweise einzelner Nervenzellen wissen wir
heute eine ganze Menge, und am Computer können neuronale Netze geschaffen werden, die das Zusammenspiel vieler
Nervenzellen simulieren. Nervenaktivität in genau definierten Gehirnbereichen lässt sich durch präzise
Messmethoden feststellen. Von Psyche versteht man allerdings noch nicht das Geringste, wenn man auf dieser Ebene
bleibt. „Wir könnten ja schließlich auch kein Computerprogramm verstehen, indem wir die Aktivität
irgendwelcher Transistoren vermessen“, meint Prof. Dietrich.
Erst die Struktur, dann die Details
Am Institut für Computerwissenschaften der TU Wien wird der umgekehrte Weg beschritten. Anstatt aus simplen
Bausteinen Komplexeres zu entwickeln, beginnt man auf der komplexen Seite, bei der „Psychoanalyse“ des Computers.
So soll die Steuerungssoftware für Roboter eine Struktur bekommen, die Freuds Verständnis der Psyche
nachempfunden ist: Die Maschine bekommt ein „Ich“, ein durch Wert- und Moralvorstellungen geprägtes „Über-Ich“
und ein triebhaftes „Es“. Ähnlich wie ein Mensch bewegt sie sich gewissermaßen zwischen inneren Trieben
und moralischen Handlungsnormen. „Warum soll nicht eine automatisierte Küche einen Reinlichkeitstrieb haben
können? Warum soll ein Roboter in der Autofabrik nicht den inneren Drang verspüren können, eine
Karosserie möglichst sauber zu lackieren?“ fragt sich Dietmar Bruckner.
Schon vor der Programmierarbeit werden grobe Schaltpläne gezeichnet, in denen das Zusammenspiel von „Trieben“,
inneren „Wertvorstellungen“ und dem tatsächlichen Verhalten der Maschine festgelegt wird.
Freuds Widersprüche durch Computerwissenschaft gelöst
Diese neue Herangehensweise verändert nicht nur die Computertechnik, auch in die Psychoanalyse werden dadurch
neue Sichtweisen hineingetragen. „Natürlich gibt es in diesen beiden Disziplinen ganz unterschiedliche Denk-Traditionen“,
weiß Prof. Dietmar Dietrich aus Erfahrung. Beide Seiten können voneinander lernen. Auf Fragestellungen
der Psychoanalyse kann die naturwissenschaftliche Herangehensweise ein neues Licht werfen. So hat etwa Freud selbst
die Psyche auf zwei verschiedene Arten eingeteilt: Neben der Dreiteilung „Über-ich, Ich, Es“ verwendete er
auch die Kategorien „unbewusst, vorbewusst, bewusst“. In der Psychoanalyse sind diese beiden Kategorisierungen
nicht wirklich vereinbar. In der Computertechnik allerdings ist dieser scheinbare Widerspruch kein Problem: „In
der Datenverarbeitung lernt man vom ersten Tag an, Daten von Funktionen zu unterscheiden“, erklärt Prof. Dietmar
Dietrich.
Daten können widersprüchlich oder unvollständig sein, Funktionen sind dazu da, um die Daten auf
eindeutige Weise zu verarbeiten. „Die Teilung in ‚unbewusst‘, ‚vorbewusst‘ und ‚bewusst‘ bezieht sich auf die Daten
unseres Denkens“, erklären Bruckner und Dietrich. „Die Einteilung Über-ich, Ich und Es hingegen beschreibt
unterschiedliche Funktionen.“
Vom Gehirn lernen, nicht Gehirne nachbauen
Science-fiction-artige Visionen von selbstbewussten Toastern oder manisch-depressiven Sportwägen sind freilich
völlig unbegründet. Das Ziel der Forschungsarbeit ist es nicht, in Maschinen menschliches Denken zu simulieren.
„Wir wollen das Funktionsprinzip des Gehirns für unsere Technologie nützen – nicht ein Gehirn nachbauen“,
betont Prof. Dietrich. In ähnlicher Weise hat man schließlich auch vom Flugverhalten der Vögel
viel für den Flugzeugbau gelernt – und trotzdem waren Flugzeuge niemals nachgebaute Vogelkörper. |