Keine Gegenwelt   

erstellt am
09. 12. 10

Experten revidieren Sicht von "Völkerwanderung" und Frühmittelalter
Wien (öaw) - Hartnäckig hält sich bis heute die Sicht von "Völkerwanderung" und Frühmittelalter als Gegenwelt unseres modernen Heute: dunkle Jahrhunderte voll Gewalt und ´Aberglauben`. Ein faktenorientiertes Bild präsentiert ein international renommiertes Forscherteam unter österreichischer Leitung ab 09.12. bei einer hochkarätigen dreitägigen Konferenz in Wien.

"Der Zeitraum nach dem Ende der römischen Herrschaft in West- und Mitteleuropa war eine faszinierende Epoche politischen und kulturellen Wandels. Das Christentum entwickelte und verbreitete sich, neue Völker und Staaten entstanden, viele Formen des Zusammenlebens veränderten sich. Wir lernen erst langsam zu verstehen, wie all das miteinander zusammenhängt. Besonders interessiert hat uns der Zusammenhang von Christentum und ethnischen Identitäten. Dabei haben wir neue Ergebnisse erreicht. Migration, Integration, Identität, religiöse Unduldsamkeit: Viele brennende Probleme unserer Gegenwart lassen sich aus der Distanz von über tausend Jahren besser verstehen", betont Univ.-Prof. Dr. Walter Pohl. Der Historiker wurde vor Kurzem mit dem hoch dotierten "Advanced Grant" des "European Research Council" (Europäischer Forschungsrat, ERC) ausgezeichnet. Pohl ist Wittgensteinpreisträger (2004) und Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit Sitz in der österreichischen Bundeshauptstadt.

Als "Frühmittelalter" wird die Zeit von ungefähr 400 bis 1000 n. Chr. bezeichnet. Am Beginn stehen die Umwandlung der Römischen Welt und das Ende der römischen Herrschaft in West- und Mitteleuropa. Die Übergangszeit von etwa 400 bis 600 n. Chr. wird als "Völkerwanderungszeit" bezeichnet. Diese etwa 200 Jahre dauernde Phase intensiver Wanderungsbewegungen von der Peripherie ins reiche Zentrum des weströmischen Imperiums wurde laut Pohl "lange als Szenario des Schreckens ideologisch überzeichnet und politisch missbraucht, im Sinne einer großen Angsterzählung davon, was passiert, wenn so genannte ´Barbaren`als geschlossene Gruppen in zivilisierte Länder eindringen." Andererseits nahmen sich laut Pohl aggressive Nationalisten gerade diese Barbarenbilder zum Vorbild.

Brisante Verbindungsachsen
Zwischen 375 und 570 n. Chr. habe es jedoch vielfältige Wanderungsbewegungen gegeben. "Diese Migrationen sind keinem klar definierten Muster gefolgt. Wir können aber belegen, dass - ähnlich wie heute - sich viele Menschen aus der Peripherie im Zentrum bessere Lebensbedingungen erhofften", sagt der Historiker. Die Größe dieser Gruppen variierte von wenigen Hundert bis zu einigen Zehntausend. Auch die Zusammensetzung dieser Kollektive fluktuierte. "Keineswegs war hier die Zugehörigkeit zu einem biologisch determinierten Volk ausschlaggebend. Vielmehr waren ethnische Identitäten Ergebnis von bewussten Entscheidungen und ihrer Anerkennung von innen und außen", sagt der Experte. Resultat dieser komplexen historischen Prozesse sei, dass mit den Königreichen der Völkerwanderungszeit in Europa vor eineinhalb Jahrtausenden Völker zur Grundlage politischer Macht wurden. Das eröffnet laut Pohl "zwei brisante Verbindungsachsen in unser Heute. Es entwickelte sich damals nicht nur die ethnische und politische Landkarte unseres gegenwärtigen Europa. Es etablierte sich auch die unseren Kontinent bis jetzt prägende Denkweise, die Welt als eine Landschaft von Völkern wahrzunehmen.

Zum Abschluss des Wittgenstein-Projektes unter Leitung von Pohl findet ab (morgigem) Donnerstag in Wien die dreitägige "Final Conference" mit dem Titel "Ethnic Identities in Early Medieval Europe" statt. Erwartet werden 40 führende Experten aus Europa und den USA. Pohl hält bei der Tagung am Freitag Abend im Theatersaal der ÖAW in der Wiener Sonnenfelsgasse einen öffentlich zugänglichen Vortrag mit dem Titel "Ethnicity: the uses of a concept". Der Historiker hat gemeinsam mit einem Team durchwegs junger Wissenschaftler/innen im Zuge des vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Wittgenstein-Projektes "Ethnische Identitäten im frühmittelalterlichen Europa" seit 2005 auch zahlreiche Originalmanuskripte aus dem Frühmittelalter unter die Lupe genommen.

Entwickelt wurde dazu ein neuer Ansatz: Abschriften ein- und desselben Textes über Generationen hinweg zu vergleichen, um dem Wandel von Identitäten auf die Spur zu kommen. Pohl setzt bei dem bis Ende diesen Jahres laufenden Projekt auf intensiven Wissensaustausch mit Expert/inn/en einer Vielzahl an geistes- und sozialwissenschaftlicher Fachrichtungen. International viel beachtet hat das Forschungsteam eine ganze Reihe an Buchpublikationen vorgelegt, die angesichts des großen Interesses der Öffentlichkeit am Forschungsthema zum Teil auch für interessierte Laien konzipiert wurden.
     
Informationen: http://www.oeaw.ac.at/gema/pub.htm    
     
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