Poier & Co schlagen "100 DirektmandatarInnen für Österreich" vor
Wien (pk) - Die Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform befasst sich bereits seit längerem
mit der Reform des österreichischen Wahlrechts. Nun präsentierte der Politikwissenschaftler Klaus Poier
bei einem Symposium im Parlament namens der Initiative ein neu ausgearbeitetes Modell, das unter dem Schlagwort
"100 DirektmandatarInnen für Österreich" auf eine stärkere Persönlichkeitsorientierung
der österreichischen Nationalratswahlordnung setzt und auch politisch engagierten Menschen außerhalb
der traditionellen Parteien die Chance auf ein Nationalratsmandat einräumen soll. Mit eingeladen zur Veranstaltung
hatte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, sie machte sich im Sinne des Symposiumtitels "Demokratie
im Diskurs" für eine breite parlamentarische Debatte über die Vorschläge der Initiative Mehrheitswahlrecht
und Demokratiereform und andere Reformanregungen stark.
Poier und seine MitstreiterInnen nehmen in ihrem neuen Modell angesichts mangelnder Erfolgsaussichten vorerst einmal
von der Forderung nach Einführung eines Mehrheitswahlrechts Abstand und schlagen vor, in einem ersten Schritt
im Rahmen der geltenden Wahlkreiseinteilung und unter Beibehaltung des Verhältniswahlrechts in den 43 Regionalwahlkreisen
100 Direktmandate zu vergeben, und zwar unabhängig davon, ob die jeweiligen KandidatInnen einer Partei angehören
oder "EinzelkämpferInnen" sind. Für eine Einzelkandidatur soll die Unterstützung durch
1 % der Wahlberechtigten des jeweiligen Wahlkreises (maximal 500 Personen) ausreichend sein. Damit sollen die Wählerinnen
und Wähler in die Lage versetzt werden, "die besten Köpfe" zu wählen, wie Poier argumentiert.
Die übrigen 83 Mandate werden gemäß dem Modell wie bisher den kandidierenden Parteien über
die Landeslisten bzw. die Bundesliste zugewiesen.
Detailliert Gedanken gemacht hat sich die Initiative Mehrheitswahlrecht auch über die konkrete Mandatszuweisung
– so könnte in einem Regionalwahlkreis ein Direktmandat durch eine niedrige Wahlbeteiligung verloren gehen.
Darüber hinaus plädieren Poier & Co für eine Reform der Briefwahl: alle Stimmen sollten am Wahltag
eingetroffen sein müssen und gleich mit ausgezählt werden.
Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, die zum Symposium neben zahlreichen aktiven auch viele ehemalige
PolitikerInnen, unter ihnen Ex-Bundeskanzler Franz Vranitzky, begrüßen konnte, wies in ihren Einleitungsworten
darauf hin, dass die Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform bereits eine Reihe von diskussionswürdigen
Vorschlägen gemacht habe, die ihrer Ansicht nach auf parlamenarischem Boden erörtert werden sollten.
So zeigte Prammer etwa Sympathie für eine Stärkung direktdemokratischer Instrumente und stellte konkret
Überlegungen über die Einführung einer elektronischen Bürgerinitiative in Aussicht. Auch die
Bestimmungen über die Briefwahl müssten überarbeitet werden, unterstrich sie.
Bekräftigt wurde von Prammer der Vorschlag, Nationalratswahlen künftig gemeinsam mit sämtlichen
Landtagswahlen an einem "Superwahlsonntag" abzuhalten, wobei sie sich, wie sie meinte, alternativ auch
zwei Wahltermine – versetzte Landtagswahlen nach der halben Legislaturperiode des Nationalrats – vorstellen kann.
Dass dieses Modell nur funktioniert, wenn eine vorzeitige Auflösung des Nationalrats bzw. eines Landtags nicht
bzw. nur unter eingeschränkten Bedingungen möglich ist, sieht sie dabei nicht als Schwächung, sondern
im Gegenteil sogar als Stärkung des Parlamentarismus. Schließlich heiße es noch lange nicht, dass
der Nationalrat gescheitert sei, wenn die Regierung scheitere, hielt Prammer vielfach geäußerter Kritik
entgegen und verwies auf ähnliche Regelungen in Norwegen und Schweden.
Neisser will Diskussion über Mehrheitswahlrecht weiterführen
Die Auftaktrede zum Symposium hielt der Sprecher der Initiative für Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform,
Heinrich Neisser. Er betonte, auch wenn das nunmehr vorgelegte Wahlrechtsmodell vorläufig davon Abstand nehme,
bleibe es Ziel der Initiative, die öffentliche Diskussion über die Einführung eines Mehrheitswahlrechts
in Österreich weiterzuführen. Zwischen den Mitgliedern der Initiative gebe es zwar nicht in allen Punkten
Übereinstimmung, es herrsche aber eine "sehr starke Konvergenz" der Meinungen, erklärte er.
Obwohl er zuletzt, wie er sagte, ablehnende Signale vernahm, hofft Neisser weiter auf die Einsetzung einer Enquete-Kommission
des Nationalrats, um auf parlamentarischer Ebene über eine umfassende Wahlrechtsreform zu diskutieren.
Neisser sparte auch nicht mit Kritik an den handelnden politischen Akteuren in Österreich. Seiner Ansicht
nach werden Reformen derzeit "am Bürger vorbei betrieben" und Diskussionen hauptsächlich in
Kommissionen und Komitees geführt, deren Vorschläge dann nicht umgesetzt würden. Statt zusammenzuarbeiten,
vermittle die Koalition den Eindruck, die beiden Parteien wollten sich jeweils auf Kosten des anderen profilieren,
kritisierte er.
Neisser äußerte auch starke Zweifel, dass das nunmehrige zweijährige Zeitfenster ohne Wahlen von
der Regierung für die Umsetzung von Reformvorhaben genutzt wird, und warnte dezidiert davor, die von vielen
Kommentatoren und Experten konstatierte Krise der österreichischen Politik zu verharmlosen. Auch wenn man
Anhänger einer repräsentativen Demokratie sei, müsse man sich überlegen, wie man diese legitimiere,
bekräftigte er und machte in diesem Zusammenhang auf die kritische Analyse von Peter Sloterdijk aufmerksam,
der der politischen Klasse unter anderem Abgehobenheit vorwirft.
Poier: Neues Modell soll "Wahl der besten Köpfe" garantieren
Im Detail präsentiert wurde das neue Wahlrechtsmodell von Klaus Poier. Er erläuterte den TeilnehmerInnen
des Symposiums das Motiv, die Dominanz der Parteiapparate bei Entscheidungen über die Zusammensetzung des
Nationalrats zu reduzieren und die Verantwortlichkeit der Mandatare gegenüber ihren Wählern zu stärken.
Da die Einführung eines Mehrheitswahlrechts "in diesen Tagen" keine realistische Chance habe, lege
die Initiative "als ersten Schritt" einen Entwurf für eine Wahlrechtsreform in Richtung stärkere
Persönlichkeitsorientierung vor. Denn dieses ausdrückliche Ziel sei bei der Wahlrechtsreform 1992, die
das Vorzugstimmensystem gebracht hat, klar gescheitert, konstatierte der Politikwissenschaftler: Die Mandatare
fühlten sich weiterhin ihren Parteiapparaten verpflichtet, um ihre Chance zu wahren, bei der nächsten
Nationalratswahl wieder auf einen wählbaren Platz "auf der Kandidatenliste" zu kommen.
Der vorliegende Entwurf bleibt im Rahmen des Verhältniswahlrechts und lässt das Verhältnis zwischen
Stimmen und Mandaten ebenso unverändert wie die Wahlkreisgliederung. Er bringt aber die Möglichkeit,
in den 43 Regionalwahlkreisen 100 MandatarInnen direkt zu wählen. Die WählerInnen sollen sich künftig
für einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin in ihrem Wahlkreis entscheiden, ohne dass auf dem Wahlzettel neben
dem Namen eine Parteibezeichnung aufscheint. Die Verteilung der Mandate wird auf Grund der Ermittlung der Summe
aller Stimmen nach dem d'Hondtschen-System vorgenommen. Die restlichen 83 Mandate im Nationalrat sollen nach dem
bisherigen System verteilt und damit die Möglichkeit gewahrt bleiben, Fachleute oder VertreterInnen kleiner
Gruppen in den Nationalrat zu bringen.
Poier zufolge müssten sich die Wählerinnen und Wähler durch das vorgeschlagene Modell stärker
als bisher mit den Personen auseinandersetzen, die zur Wahl stehen. Es soll zwar weiterhin Parteilisten mit bis
zu 8 KandidatInnen pro Partei und Regionalwahlkreis geben, gleichzeitig soll aber die Kandidatur von EinzelkandidatInnen
ermöglicht werden, wobei als Voraussetzung maximal 500 Unterstützungserklärungen gelten sollen.
Als Anreiz für eine stärkere Wahlbeteiligung sieht der Entwurf der "Initiative Mehrheitswahlrecht"
vor, dass ein Wahlkreis mit geringer Wahlbeteiligung ein Mandat an einen Wahlkreis mit stärkerer Wahlbeteiligung
innerhalb des jeweiligen Bundeslandes verlieren kann.
Gegenüber dem komplizierten deutschen System des "Stimmensplittings", das laut Poier große
gegenüber kleinen Parteien begünstige, sei das vorgeschlagene System klar und für die Wähler
leicht verständlich. Diese Reform würde das Wahlrecht stärker personalisieren und den Wähler
einen Anlass bieten, sich intensiver mit den Persönlichkeiten auseinanderzusetzen, die zur Wahl stehen. Die
Mandatare würden sich stärker für die Anliegen ihrer Wähler interessieren müssen, wenn
sie ihre Wiederwahlchancen bei der nächsten Wahl wahren wollten. Der Vorschlag ziele darauf ab, die besten
Köpfe in den Nationalrat zu wählen und die Qualität der politischen Entscheidungen zu verbessern.
Öhlinger: Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen neues Modell
Der Verfassungsrechtler Theo Öhlinger beleuchtete das vorgeschlagene Wahlrechtsmodell aus verfassungsrechtlicher
und verfassungspolitischer Sicht und qualifizierte den Vorschlag insgesamt als "sehr innovativ". Er schaffe
die "Quadratur des Kreises", das Wahlrecht persönlichkeitsorientiert zu gestalten und dennoch im
engen Rahmen zu bleiben, den die Bundesverfassung für das Wahlrecht vorgibt. Der Vorschlag stehe im Einklang
mit den Grundprinzipien der Verfassung, seine Einführung mache daher keine obligatorische Volksabstimmung
notwendig, sagte Öhlinger, der es aus rechtspolitischer Sicht und zur besseren Information der BürgerInnen
aber für überlegenswert hielt, über ein neues Wahlrecht nach intensiver öffentlicher Diskussion
eine Volksabstimmung durchzuführen.
Der Vorschlag wahre die Prinzipien eines freien, persönlichen, gleichen und geheimen Wahlrechts, schiebe aber
der Praxis der Parteien, über die Verteilung von Mandaten erst nach einer Wahl zu entscheiden, einen Riegel
vor.
Der Entwurf bleibt innerhalb des Verhältniswahlsystems, führte Öhlinger weiters aus. Ein Problem
könnte allenfalls der vorgesehene Anreiz für eine höhere Wahlbeteiligung in den Regionalwahlkreisen
sein. Auch die Möglichkeit, bei geringer Wahlbeteiligung ein Direktmandat in einen anderen Wahlkreis zu verschieben,
sei aber mit der Bundesverfassung ohne weiteres vereinbar, sofern er mit Zwei-Drittel-Mehrheit im B-VG verankert
werde. Der Vorschlag würde eine effektive Personalisierung des parlamentarischen Wahlsystems und mehr Einfluss
des einzelnen Wählers auf die Zusammensetzung des Nationalrates bringen.
Die 100 direkt gewählten Abgeordneten wären nicht nur den Parteien, sondern stärker auch den WählerInnen
ihres Wahlkreises gegenüber verantwortlich, sagte Öhlinger und sprach in diesem Zusammenhang von einem
Schritt weg von der derzeit oft kritisierten "Abstimmungsmaschine" im Nationalrat hin zum Idealbild der
parlamentarischen Demokratie.
Im Anschluss an die Referate fand eine Podiumsdiskussion statt, die der ehemalige Bundesratspräsident Herwig
Hösele, einer der zentralen Proponenten der Initiative Mehrheitswahlrecht, moderierte. |