Initiative Mehrheitswahlrecht präsentiert neues Wahlrechtsmodell   

erstellt am
17. 01. 11

Poier & Co schlagen "100 DirektmandatarInnen für Österreich" vor
Wien (pk) - Die Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform befasst sich bereits seit längerem mit der Reform des österreichischen Wahlrechts. Nun präsentierte der Politikwissenschaftler Klaus Poier bei einem Symposium im Parlament namens der Initiative ein neu ausgearbeitetes Modell, das unter dem Schlagwort "100 DirektmandatarInnen für Österreich" auf eine stärkere Persönlichkeitsorientierung der österreichischen Nationalratswahlordnung setzt und auch politisch engagierten Menschen außerhalb der traditionellen Parteien die Chance auf ein Nationalratsmandat einräumen soll. Mit eingeladen zur Veranstaltung hatte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, sie machte sich im Sinne des Symposiumtitels "Demokratie im Diskurs" für eine breite parlamentarische Debatte über die Vorschläge der Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform und andere Reformanregungen stark.

Poier und seine MitstreiterInnen nehmen in ihrem neuen Modell angesichts mangelnder Erfolgsaussichten vorerst einmal von der Forderung nach Einführung eines Mehrheitswahlrechts Abstand und schlagen vor, in einem ersten Schritt im Rahmen der geltenden Wahlkreiseinteilung und unter Beibehaltung des Verhältniswahlrechts in den 43 Regionalwahlkreisen 100 Direktmandate zu vergeben, und zwar unabhängig davon, ob die jeweiligen KandidatInnen einer Partei angehören oder "EinzelkämpferInnen" sind. Für eine Einzelkandidatur soll die Unterstützung durch 1 % der Wahlberechtigten des jeweiligen Wahlkreises (maximal 500 Personen) ausreichend sein. Damit sollen die Wählerinnen und Wähler in die Lage versetzt werden, "die besten Köpfe" zu wählen, wie Poier argumentiert. Die übrigen 83 Mandate werden gemäß dem Modell wie bisher den kandidierenden Parteien über die Landeslisten bzw. die Bundesliste zugewiesen.

Detailliert Gedanken gemacht hat sich die Initiative Mehrheitswahlrecht auch über die konkrete Mandatszuweisung – so könnte in einem Regionalwahlkreis ein Direktmandat durch eine niedrige Wahlbeteiligung verloren gehen. Darüber hinaus plädieren Poier & Co für eine Reform der Briefwahl: alle Stimmen sollten am Wahltag eingetroffen sein müssen und gleich mit ausgezählt werden.

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, die zum Symposium neben zahlreichen aktiven auch viele ehemalige PolitikerInnen, unter ihnen Ex-Bundeskanzler Franz Vranitzky, begrüßen konnte, wies in ihren Einleitungsworten darauf hin, dass die Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform bereits eine Reihe von diskussionswürdigen Vorschlägen gemacht habe, die ihrer Ansicht nach auf parlamenarischem Boden erörtert werden sollten. So zeigte Prammer etwa Sympathie für eine Stärkung direktdemokratischer Instrumente und stellte konkret Überlegungen über die Einführung einer elektronischen Bürgerinitiative in Aussicht. Auch die Bestimmungen über die Briefwahl müssten überarbeitet werden, unterstrich sie.

Bekräftigt wurde von Prammer der Vorschlag, Nationalratswahlen künftig gemeinsam mit sämtlichen Landtagswahlen an einem "Superwahlsonntag" abzuhalten, wobei sie sich, wie sie meinte, alternativ auch zwei Wahltermine – versetzte Landtagswahlen nach der halben Legislaturperiode des Nationalrats – vorstellen kann. Dass dieses Modell nur funktioniert, wenn eine vorzeitige Auflösung des Nationalrats bzw. eines Landtags nicht bzw. nur unter eingeschränkten Bedingungen möglich ist, sieht sie dabei nicht als Schwächung, sondern im Gegenteil sogar als Stärkung des Parlamentarismus. Schließlich heiße es noch lange nicht, dass der Nationalrat gescheitert sei, wenn die Regierung scheitere, hielt Prammer vielfach geäußerter Kritik entgegen und verwies auf ähnliche Regelungen in Norwegen und Schweden.

Neisser will Diskussion über Mehrheitswahlrecht weiterführen
Die Auftaktrede zum Symposium hielt der Sprecher der Initiative für Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform, Heinrich Neisser. Er betonte, auch wenn das nunmehr vorgelegte Wahlrechtsmodell vorläufig davon Abstand nehme, bleibe es Ziel der Initiative, die öffentliche Diskussion über die Einführung eines Mehrheitswahlrechts in Österreich weiterzuführen. Zwischen den Mitgliedern der Initiative gebe es zwar nicht in allen Punkten Übereinstimmung, es herrsche aber eine "sehr starke Konvergenz" der Meinungen, erklärte er. Obwohl er zuletzt, wie er sagte, ablehnende Signale vernahm, hofft Neisser weiter auf die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Nationalrats, um auf parlamentarischer Ebene über eine umfassende Wahlrechtsreform zu diskutieren.

Neisser sparte auch nicht mit Kritik an den handelnden politischen Akteuren in Österreich. Seiner Ansicht nach werden Reformen derzeit "am Bürger vorbei betrieben" und Diskussionen hauptsächlich in Kommissionen und Komitees geführt, deren Vorschläge dann nicht umgesetzt würden. Statt zusammenzuarbeiten, vermittle die Koalition den Eindruck, die beiden Parteien wollten sich jeweils auf Kosten des anderen profilieren, kritisierte er.

Neisser äußerte auch starke Zweifel, dass das nunmehrige zweijährige Zeitfenster ohne Wahlen von der Regierung für die Umsetzung von Reformvorhaben genutzt wird, und warnte dezidiert davor, die von vielen Kommentatoren und Experten konstatierte Krise der österreichischen Politik zu verharmlosen. Auch wenn man Anhänger einer repräsentativen Demokratie sei, müsse man sich überlegen, wie man diese legitimiere, bekräftigte er und machte in diesem Zusammenhang auf die kritische Analyse von Peter Sloterdijk aufmerksam, der der politischen Klasse unter anderem Abgehobenheit vorwirft.

Poier: Neues Modell soll "Wahl der besten Köpfe" garantieren
Im Detail präsentiert wurde das neue Wahlrechtsmodell von Klaus Poier. Er erläuterte den TeilnehmerInnen des Symposiums das Motiv, die Dominanz der Parteiapparate bei Entscheidungen über die Zusammensetzung des Nationalrats zu reduzieren und die Verantwortlichkeit der Mandatare gegenüber ihren Wählern zu stärken. Da die Einführung eines Mehrheitswahlrechts "in diesen Tagen" keine realistische Chance habe, lege die Initiative "als ersten Schritt" einen Entwurf für eine Wahlrechtsreform in Richtung stärkere Persönlichkeitsorientierung vor. Denn dieses ausdrückliche Ziel sei bei der Wahlrechtsreform 1992, die das Vorzugstimmensystem gebracht hat, klar gescheitert, konstatierte der Politikwissenschaftler: Die Mandatare fühlten sich weiterhin ihren Parteiapparaten verpflichtet, um ihre Chance zu wahren, bei der nächsten Nationalratswahl wieder auf einen wählbaren Platz "auf der Kandidatenliste" zu kommen.

Der vorliegende Entwurf bleibt im Rahmen des Verhältniswahlrechts und lässt das Verhältnis zwischen Stimmen und Mandaten ebenso unverändert wie die Wahlkreisgliederung. Er bringt aber die Möglichkeit, in den 43 Regionalwahlkreisen 100 MandatarInnen direkt zu wählen. Die WählerInnen sollen sich künftig für einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin in ihrem Wahlkreis entscheiden, ohne dass auf dem Wahlzettel neben dem Namen eine Parteibezeichnung aufscheint. Die Verteilung der Mandate wird auf Grund der Ermittlung der Summe aller Stimmen nach dem d'Hondtschen-System vorgenommen. Die restlichen 83 Mandate im Nationalrat sollen nach dem bisherigen System verteilt und damit die Möglichkeit gewahrt bleiben, Fachleute oder VertreterInnen kleiner Gruppen in den Nationalrat zu bringen.

Poier zufolge müssten sich die Wählerinnen und Wähler durch das vorgeschlagene Modell stärker als bisher mit den Personen auseinandersetzen, die zur Wahl stehen. Es soll zwar weiterhin Parteilisten mit bis zu 8 KandidatInnen pro Partei und Regionalwahlkreis geben, gleichzeitig soll aber die Kandidatur von EinzelkandidatInnen ermöglicht werden, wobei als Voraussetzung maximal 500 Unterstützungserklärungen gelten sollen.

Als Anreiz für eine stärkere Wahlbeteiligung sieht der Entwurf der "Initiative Mehrheitswahlrecht" vor, dass ein Wahlkreis mit geringer Wahlbeteiligung ein Mandat an einen Wahlkreis mit stärkerer Wahlbeteiligung innerhalb des jeweiligen Bundeslandes verlieren kann.

Gegenüber dem komplizierten deutschen System des "Stimmensplittings", das laut Poier große gegenüber kleinen Parteien begünstige, sei das vorgeschlagene System klar und für die Wähler leicht verständlich. Diese Reform würde das Wahlrecht stärker personalisieren und den Wähler einen Anlass bieten, sich intensiver mit den Persönlichkeiten auseinanderzusetzen, die zur Wahl stehen. Die Mandatare würden sich stärker für die Anliegen ihrer Wähler interessieren müssen, wenn sie ihre Wiederwahlchancen bei der nächsten Wahl wahren wollten. Der Vorschlag ziele darauf ab, die besten Köpfe in den Nationalrat zu wählen und die Qualität der politischen Entscheidungen zu verbessern.

Öhlinger: Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen neues Modell
Der Verfassungsrechtler Theo Öhlinger beleuchtete das vorgeschlagene Wahlrechtsmodell aus verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Sicht und qualifizierte den Vorschlag insgesamt als "sehr innovativ". Er schaffe die "Quadratur des Kreises", das Wahlrecht persönlichkeitsorientiert zu gestalten und dennoch im engen Rahmen zu bleiben, den die Bundesverfassung für das Wahlrecht vorgibt. Der Vorschlag stehe im Einklang mit den Grundprinzipien der Verfassung, seine Einführung mache daher keine obligatorische Volksabstimmung notwendig, sagte Öhlinger, der es aus rechtspolitischer Sicht und zur besseren Information der BürgerInnen aber für überlegenswert hielt, über ein neues Wahlrecht nach intensiver öffentlicher Diskussion eine Volksabstimmung durchzuführen.

Der Vorschlag wahre die Prinzipien eines freien, persönlichen, gleichen und geheimen Wahlrechts, schiebe aber der Praxis der Parteien, über die Verteilung von Mandaten erst nach einer Wahl zu entscheiden, einen Riegel vor.

Der Entwurf bleibt innerhalb des Verhältniswahlsystems, führte Öhlinger weiters aus. Ein Problem könnte allenfalls der vorgesehene Anreiz für eine höhere Wahlbeteiligung in den Regionalwahlkreisen sein. Auch die Möglichkeit, bei geringer Wahlbeteiligung ein Direktmandat in einen anderen Wahlkreis zu verschieben, sei aber mit der Bundesverfassung ohne weiteres vereinbar, sofern er mit Zwei-Drittel-Mehrheit im B-VG verankert werde. Der Vorschlag würde eine effektive Personalisierung des parlamentarischen Wahlsystems und mehr Einfluss des einzelnen Wählers auf die Zusammensetzung des Nationalrates bringen.

Die 100 direkt gewählten Abgeordneten wären nicht nur den Parteien, sondern stärker auch den WählerInnen ihres Wahlkreises gegenüber verantwortlich, sagte Öhlinger und sprach in diesem Zusammenhang von einem Schritt weg von der derzeit oft kritisierten "Abstimmungsmaschine" im Nationalrat hin zum Idealbild der parlamentarischen Demokratie.

Im Anschluss an die Referate fand eine Podiumsdiskussion statt, die der ehemalige Bundesratspräsident Herwig Hösele, einer der zentralen Proponenten der Initiative Mehrheitswahlrecht, moderierte.
     
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