Martinsried (idw) - Nach einer Verletzung des Rückenmarks verhindern verschiedene
Faktoren die Regeneration der Nervenzellen. Zwei der wichtigsten Hürden sind das destabilisierte Zellskelett,
das ein erneutes Auswachsen unmöglich macht, und das entstehende Narbengewebe, das eine Barriere zwischen
den getrennten Zellenden aufbaut. Nun fanden Wissenschaftler des Max-Planck- Instituts für Neurobiologie in
Martinsried mit einem internationalen Team aus den USA und den Niederlanden, dass das Krebsmedikament Taxol an
beiden Stellen positiv eingreift und diese Regenerationshürden verringert. Science, online am 27. Januar 2011
Querschnittslähmung. Das ist meist die unheilbare Folge, wenn Nervenstränge im Rückenmark stark
gequetscht oder durchtrennt werden. Denn anders als zum Beispiel bei einem Schnitt in den Finger wachsen Nervenzellen
im Zentralen Nervensystem (ZNS) nach einer Verletzung nicht wieder aus. Seit vielen Jahren arbeiten Wissenschaftler
weltweit daran, den Grund für diesen Unterschied zu verstehen. Mittlerweile ist klar, dass ganz unterschiedliche
Faktoren beim Wachstumstopp der Nervenzellen eine Rolle spielen. So fanden die Wissenschaftler verschiedene Stoffe
im Umfeld der verletzten ZNS-Nervenzellen, die eine Art Stoppsignal für ein erneutes Auswachsen darstellen.
Doch auch das Zellskelett, bestehend aus kleinen Proteinröhrchen, den Mikrotubuli, gerät in den verletzten
Zellenden völlig durcheinander. Dies verhindert ebenfalls ein erneutes Wachsen der Zellen. Und nicht zuletzt
verhindert das Narbengewebe, das sich nach einer Verletzung im Rückenmark bildet, dass die Nervenzellen ihre
ehemaligen Anknüpfungsstellen wieder erreichen.
Zwei Mitspieler der Regeneration
Am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried untersuchen Frank Bradke und sein Team die
zellinternen Mechanismen, die für den Wachstumsstopp der Nervenzellen verantwortlich sind: "Wir wollen
die Zellen dazu bringen weiterzuwachsen und die "Stoppzeichen" in ihrer Umgebung zu ignorieren."
Dabei konzentrierten sich die Neurobiologen auf die Rolle der Mikrotubuli. Diese Proteinröhrchen sind an der
Spitze einer auswachsenden Nervenzelle parallel angeordnet. Sie stabilisieren die wachsende Zelle und fördern
ihr Wachstum, indem sie das Zellende aktiv vorwärts schieben. Ganz anders also, als bei verletzten ZNS-Nervenzellen.
Wie kann also die Ordnung der Mikrotubuli in diesen Zellen behalten oder wiederhergestellt werden? Und wenn die
Zellen einmal wachsen, wie können sie die Mauer aus Narbengewebe überwinden? Zusammen mit Ihren Kollegen
vom Kennedy Krieger Institut und der Universität Miami in den USA, und von der Universität Utrecht in
den Niederlanden, fanden die Max-Planck-Forscher nun eine Lösung tatsächlich gleich für beide Probleme.
Neue Funktion eines bewährten Medikaments
Wie die Wissenschaftler in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Science berichten, fördert das unter
dem Handelsnamen Taxol vertriebene Krebsmedikament die Regeneration verletzter ZNS-Nervenzellen auf zwei Arten:
Taxol stabilisiert die Mikrotubuli, sodass ihre Ordnung bestehen bleibt und eine verletzte Nervenzelle wieder auswachsen
kann. Zudem verhindert Taxol die Bildung eines hemmenden Stoffs im Narbengewebe. Zwar wird das Narbengewebe noch
gebildet und kann seine Schutzfunktion übernehmen. Es ist jedoch schwächer ausgeprägt und für
wachsende Nervenzellen deutlich einfacher zu überwinden. "Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein kleiner
Durchbruch", so Bradke.
Die Wirkung von Taxol konnten die Forscher in Versuchen an Ratten bestätigen. Nach einer teilweisen Verletzung
von Nervenzellen im Rückenmark wurde mit Hilfe einer kleinen Gewebepumpe die betroffene Stelle mit Taxol versorgt.
Bereits nach einigen Wochen zeigten die Tiere eine deutliche Verbesserung in ihrem Laufverhalten. "Bisher
haben wir die Wirkung von Taxol direkt nach einer Verletzung getestet", so Farida Hellal, die Erstautorin
der Studie. "Als nächstes wollen wir untersuchen, ob Taxol seine Wirkung auf das Narbengewebe auch dann
noch entfalten kann, wenn wir es mehrere Monate nach einer Verletzung hinzugeben."
Vorsichtige Hoffnung
Dass ein bereits zugelassenes Medikament diese Wirkung zeigt hat verschiedene Vorteile, denn es ist bereits
viel über das Verhalten von Taxol im menschlichen Körper bekannt. Da für die Behandlung von Rückenmarksverletzungen
deutlich niedrigere Taxol-Mengen als bei der Krebstherapie benötigt werden und nur direkt an die Verletzungsstelle
gegeben werden, sollten die Nebenwirkungen geringer ausfallen. "Wir befinden uns jedoch noch im Stadium der
Grundlagenforschung und es müssen noch verschiedene Hürden und später die vorklinischen Tests an
anderen Instituten durchlaufen werden", gibt Bradke zu bedenken. "Ich glaube aber, dass wir hier auf
einem vielversprechenden Weg sind."
Originalveröffentlichung:
Farida Hellal, Andres Hurtado, Jörg Ruschel, Kevin C. Flynn, Claudia J. Laskowski, Marina Umlauf, Lukas
C. Kapitein, Dinara Strikis, Vance Lemmon, John Bixby, Casper C. Hoogenraad, Frank Bradke Microtubule stabilization
reduces scarring and causes axon regeneration after spinal cord injury Science, Online Veröffentlichung, 27.
Januar 2011 |