Forscher präsentieren Baukasten für offenen Quantencomputer
Innsbruck (universität) - Experimentalphysiker stecken viel Zeit und Mühe in die Abschirmung
sensibler Messungen gegen störende Einflüsse der Umwelt. Nun haben Quantenphysiker in Innsbruck erstmals
die Grundbausteine eines offenen Quantensimulators realisiert, bei dem die kontrollierte Anbindung an die Umgebung
nutzbringend eingesetzt wird. Damit kann in Zukunft das Verhalten sehr komplexer Quantensysteme untersucht werden.
Die Forscher berichten darüber in der Fachzeitschrift Nature.
Die Eigenschaften der Quantenphysik liegen vielen Phänomenen unserer Welt zugrunde: der Struktur von Atomen
und Molekülen, chemischen Reaktionen, Materialeigenschaften, dem Magnetismus und möglicherweise auch
manchen biologischen Prozessen. Detailliertes Verständnis stößt allerdings rasch an Grenzen, weil
die Komplexität der Phänomene mit der wachsenden Zahl der beteiligten Quantenteilchen rapide ansteigt.
Herkömmliche Computer scheitern sehr rasch an der Berechnung solcher Probleme. Physiker entwickeln deshalb
seit einigen Jahren auf verschiedenen Plattformen wie zum Beispiel Neutralatomen, Ionen oder Festkörpersystemen
Quantensimulatoren, die ähnlich wie Quantencomputer die besonderen Eigenschaften der Quantenphysik zur Beherrschung
dieser Komplexität nutzen. Zum Jahreswechsel hat die Fachzeitschrift Science die Fortschritte auf diesem Gebiet
zu einem der wissenschaftlichen Durchbrüche des Jahres 2010 gekürt. Ein Team von Nachwuchsforschern aus
den Arbeitsgruppen von Rainer Blatt und Peter Zoller an den Instituten für Experimentalphysik und Theoretische
Physik der Universität Innsbruck sowie am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften bringt diese Bemühungen nun noch einen wesentlichen Schritt
weiter. Sie haben zum ersten Mal einen umfassenden Baukasten für einen offenen Quantencomputer entwickelt,
mit dem in Zukunft größere Quantensimulatoren zur Untersuchung komplexer Aufgabenstellungen konstruiert
werden können.
Kontrollierte Störungen erwünscht
Die Wissenschaftler nutzen dazu eine Eigenschaft, die üblicherweise in Experimenten möglichst minimiert
wird: Störungen durch die Umwelt. Quantensysteme verlieren durch Störungen gewöhnlich Information
und fragile Quanteneffekte wie Verschränkung oder Überlagerung werden zerstört. Die Physik nennt
diesen Prozess Dissipation. Die Innsbrucker Forscher um die Experimentalphysiker Julio Barreiro und Philipp Schindler
und den Theoretiker Markus Müller verwenden die Dissipation für ihren Quantensimulator aus gespeicherten
Ionen zum ersten Mal gewinnbringend, indem sie die Kopplung an die Umgebung künstlich konstruieren. „Wir kontrollieren
nicht nur das Quantensystem aus bis zu vier Ionen in all seinen internen Zuständen, sondern auch seine Anbindung
an die Umwelt“, erklärt Julio Barreiro. „In unserem Experiment nutzen wir dazu ein zusätzliches Ion,
das mit dem Quantensystem wechselwirkt und gleichzeitig einen kontrollierten Kontakt zur Außenwelt herstellt“,
erläutert Philipp Schindler. Das überraschende Ergebnis: Durch Dissipation lassen sich Quanteneffekte
innerhalb des Systems, wie zum Beispiel Verschränkung, gezielt erzeugen und verstärken. „Dies ist uns
durch den gezielten Einsatz des an sich störenden Umweltfaktors gelungen“, freut sich Markus Müller.
Dissipation schafft Ordnung in der Quantenwelt
In einem der Experimente demonstrieren die Forscher den erfolgreichen Einsatz von Dissipation, indem sie mit Hilfe
des Umgebungsions vier weitere Ionen vollständig miteinander verschränkten. „Im Gegensatz zu den üblichen
Prozeduren funktioniert dies unabhängig von den Anfangszuständen der einzelnen Teilchen“, erklärt
Müller. „Durch einen kollektiven Kühlungsprozess werden die Teilchen in einen gemeinsamen Zustand gedrängt.“
Auf diese Weise können Vielteilchenzustände erzeugt werden, die sonst nur in von der Umgebung sehr gut
isolierten Quantensystemen hergestellt und beobachtet werden können. Dieser gewinnbringende Einsatz der Umgebung
erlaubt es, neue Arten von Quantendynamik zu realisieren und Systeme zu erforschen, die bislang experimentell kaum
zugänglich waren. In der Theorie hat in den letzten Jahren ein Nachdenken darüber eingesetzt, wie Dissipation
nicht wie bisher nur unterdrückt, sondern aktiv als Ressource für den Bau von Quantencomputern oder Quantenspeichern
genutzt werden kann. In enger Kooperation zwischen Theoretikern und Experimentalphysikern in Innsbruck ist es nun
erstmals gelungen, diese grundlegenden Effekte in einem Quantensimulator erfolgreich umzusetzen.
Publikation: An Open-System Quantum Simulator with Trapped Ions. Julio T. Barreiro, Markus Müller, Philipp
Schindler, Daniel Nigg, Thomas Monz, Michael Chwalla, Markus Hennrich, Christian F. Roos, Peter Zoller und Rainer
Blatt. Nature 2011. DOI: 10.1038/nature09801 (nach Ablauf der Sperrfrist abrufbar)
Unterstützt wurden die Tiroler Quantenforscher vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, der Europäischen
Union, dem Europäischen Forschungsrat ERC und der Tiroler Industrie. |