Wien (wifo) - Sozialpolitische Maßnahmen und die Sozialsysteme der EU-Länder haben in der jüngsten
Finanz- und Wirtschaftskrise das BIP und die Beschäftigung in der EU merklich stabilisiert. Die automatischen
Stabilisatoren waren dabei dem Volumen nach besonders wichtig. Diskretionäre sozialpolitische Maßnahmen
zur Stabilisierung hatten positive, aber verhaltene Effekte. Die schwer zu quantifizierenden erwartungsstabilisierenden
Wirkungen des Sozialstaates dürften ebenfalls eine bedeutende Rolle gespielt haben.
Der große Vorteil der automatischen Stabilisatoren, also der automatischen Reaktion des Abgaben- und Transfersystems
auf Konjunkturschwankungen, besteht in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit. Im Bereich der Sozialausgaben ist die Arbeitslosenunterstützung
die wichtigste Komponente, ebenso weisen die Ausgaben für Pensionen und Gesundheit automatische Stabilisierungswirkung
auf. Das Abgabensystem wirkt umso stärker stabilisierend, je höher sein Progressionsgrad ist. Innerhalb
der EU unterscheiden sich die automatischen Stabilisierungswirkungen des Sozialstaates erheblich: Sie sind in Dänemark
besonders groß vor Belgien, Deutschland, Schweden und Österreich. In Süd- und Osteuropa sind sie
hingegen relativ gering. Diskretionäre sozialpolitische Maßnahmen umfassen alle aktiven Maßnahmen,
die das Einkommen und die Beschäftigungssituation der Bevölkerung bzw. bestimmter Bevölkerungsgruppen
verbessern sollen; sie erreichten 2009 und 2010 in der EU ein Volumen von rund 1,1% des BIP und bestanden überwiegend
in der Senkung der Abgabenbelastung der privaten Haushalte. Nur Dänemark, Schweden, Belgien, Portugal und
Spanien setzten diskretionäre Maßnahmen im Bereich der Sozialausgaben, deren Volumen größer
als 0,5% des BIP war.
Diese Maßnahmen erhöhten sowohl das BIP im Inland als auch jenes der Handelspartner. In Österreich
bewirkten die eigenen diskretionären Maßnahmen einen BIP-Effekt von etwa +1%, die diskretionäre
Sozialpolitik anderer EU-Länder von +0,5% (gegenüber einer Basislösung ohne diskretionäre sozialpolitische
Maßnahmen). Für den Euro-Raum ergibt sich auf Basis von Modellberechnungen ein Anstieg des BIP um 0,9%.
In der EU wurden durch diskretionäre sozialpolitische Maßnahmen zur Konjunkturstützung etwa 330.000
Arbeitsplätze geschaffen. Die Wirkung besonders effizienter beschäftigungspolitischer Maßnahmen
wie etwa der Arbeitszeitverkürzung durch die Einführung der Kurzarbeit wird durch die Modellsimulationen
jedoch nicht vollständig abgebildet. Allein in Deutschland waren zum Höhepunkt im Frühjahr 2009
mehr als 1,5 Mio. Beschäftigte in Kurzarbeit.
Die positiven Effekte der diskretionären Sozialpolitik wären bei einer Verbesserung der Koordination
zwischen den EU-Ländern und einer stärkeren Konzentration auf die temporäre Ausweitung von Transfers
an private Haushalte mit hoher Konsumneigung und auf die direkte Beschäftigungsförderung höher.
Diskretionäre Sozialpolitik könnte partiell automatisiert werden, indem die Mittelvergabe in bestimmten
Bereichen an die Entwicklung von relevanten ökonomischen Indikatoren gebunden wird. Ein Präzedenzfall
ist hier Dänemark: Bei einem Anstieg der Arbeitslosenquote werden automatisch die Mittel für Trainings-
und Qualifizierungsmaßnahmen aufgestockt. Der Sozialstaat entfaltet auch dadurch antizyklische Wirkung, dass
er die Erwartungen der privaten Haushalte stabilisiert. Diese expansiven Effekte sind empirisch schwierig zu quantifizieren,
dürften allerdings ähnlich hoch sein wie jene der in der jüngsten Krise implementierten diskretionären
Maßnahmen. |