Die stabilisierende Wirkung der Sozialpolitik in der Finanzmarktkrise   

erstellt am
07. 04. 11

Wien (wifo) - Sozialpolitische Maßnahmen und die Sozialsysteme der EU-Länder haben in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise das BIP und die Beschäftigung in der EU merklich stabilisiert. Die automatischen Stabilisatoren waren dabei dem Volumen nach besonders wichtig. Diskretionäre sozialpolitische Maßnahmen zur Stabilisierung hatten positive, aber verhaltene Effekte. Die schwer zu quantifizierenden erwartungsstabilisierenden Wirkungen des Sozialstaates dürften ebenfalls eine bedeutende Rolle gespielt haben.

Der große Vorteil der automatischen Stabilisatoren, also der automatischen Reaktion des Abgaben- und Transfersystems auf Konjunkturschwankungen, besteht in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit. Im Bereich der Sozialausgaben ist die Arbeitslosenunterstützung die wichtigste Komponente, ebenso weisen die Ausgaben für Pensionen und Gesundheit automatische Stabilisierungswirkung auf. Das Abgabensystem wirkt umso stärker stabilisierend, je höher sein Progressionsgrad ist. Innerhalb der EU unterscheiden sich die automatischen Stabilisierungswirkungen des Sozialstaates erheblich: Sie sind in Dänemark besonders groß vor Belgien, Deutschland, Schweden und Österreich. In Süd- und Osteuropa sind sie hingegen relativ gering. Diskretionäre sozialpolitische Maßnahmen umfassen alle aktiven Maßnahmen, die das Einkommen und die Beschäftigungssituation der Bevölkerung bzw. bestimmter Bevölkerungsgruppen verbessern sollen; sie erreichten 2009 und 2010 in der EU ein Volumen von rund 1,1% des BIP und bestanden überwiegend in der Senkung der Abgabenbelastung der privaten Haushalte. Nur Dänemark, Schweden, Belgien, Portugal und Spanien setzten diskretionäre Maßnahmen im Bereich der Sozialausgaben, deren Volumen größer als 0,5% des BIP war.

Diese Maßnahmen erhöhten sowohl das BIP im Inland als auch jenes der Handelspartner. In Österreich bewirkten die eigenen diskretionären Maßnahmen einen BIP-Effekt von etwa +1%, die diskretionäre Sozialpolitik anderer EU-Länder von +0,5% (gegenüber einer Basislösung ohne diskretionäre sozialpolitische Maßnahmen). Für den Euro-Raum ergibt sich auf Basis von Modellberechnungen ein Anstieg des BIP um 0,9%. In der EU wurden durch diskretionäre sozialpolitische Maßnahmen zur Konjunkturstützung etwa 330.000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Wirkung besonders effizienter beschäftigungspolitischer Maßnahmen wie etwa der Arbeitszeitverkürzung durch die Einführung der Kurzarbeit wird durch die Modellsimulationen jedoch nicht vollständig abgebildet. Allein in Deutschland waren zum Höhepunkt im Frühjahr 2009 mehr als 1,5 Mio. Beschäftigte in Kurzarbeit.

Die positiven Effekte der diskretionären Sozialpolitik wären bei einer Verbesserung der Koordination zwischen den EU-Ländern und einer stärkeren Konzentration auf die temporäre Ausweitung von Transfers an private Haushalte mit hoher Konsumneigung und auf die direkte Beschäftigungsförderung höher.

Diskretionäre Sozialpolitik könnte partiell automatisiert werden, indem die Mittelvergabe in bestimmten Bereichen an die Entwicklung von relevanten ökonomischen Indikatoren gebunden wird. Ein Präzedenzfall ist hier Dänemark: Bei einem Anstieg der Arbeitslosenquote werden automatisch die Mittel für Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen aufgestockt. Der Sozialstaat entfaltet auch dadurch antizyklische Wirkung, dass er die Erwartungen der privaten Haushalte stabilisiert. Diese expansiven Effekte sind empirisch schwierig zu quantifizieren, dürften allerdings ähnlich hoch sein wie jene der in der jüngsten Krise implementierten diskretionären Maßnahmen.
     
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