Die Bedeutung von Gedenken und Erinnern
Gedenkveranstaltung im Parlament gegen Gewalt und Rassismus
Wien (pk) – Nationalrat und Bundesrat gedachten auch heuer wieder der Opfer des Nationalsozialismus
im Historischen Sitzungssaal des Parlaments. Der 5. Mai wird im Hohen Haus seit 1998 als Gedenktag gegen Gewalt
und Rassismus begangen. Das Datum erinnert an den Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Mauthausen befreit wurde.
Neben den Abgeordneten von Nationalrat und Bundesrat nahmen an der Sitzung auch zahlreiche prominente Gäste
aus dem In- und Ausland teil, an ihrer Spitze Bundespräsident Heinz Fischer mit Gattin Margit und Vizekanzler
Michael Spindelegger. Bundeskanzler Werner Faymann konnte wegen seines China-Besuchs nicht daran teilnehmen.
In Vorbereitung auf den Gedenktag wurde vom Mauthausen Komitee ein Jugendprojekt zum Thema "Netzwerk des Terrors"
durchgeführt, an dem sich SchülerInnen der HLA für Mode und Kunst in Wien, Lehrlinge der ÖBB
aus Graz, Knittelfeld und St. Pölten sowie der VOEST aus Linz und SchülerInnen der HAK Feldkirchen beteiligten.
Die insgesamt 64 Jugendlichen setzten sich in Workshops mit der Geschichte des KZ Mauthausen und den Orten seiner
ehemaligen Außenlager auseinander. Als Ergebnis dieser Workshops entstanden Kurzfilme, die zu einem gemeinsamen
Film mit dem Titel "Das Netzwerk" vereint und im Rahmen der Gedenkfeier vorgeführt wurden.
Ziel des Projekts ist es, anhand der Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen und seiner Außenlager
die Systematik des NS-Terrors aufzuzeigen. Dem soll die Möglichkeit gegenübergestellt werden, heute ein
positives informelles Netzwerk von Menschen zu schaffen, das sich für "Zivilcourage" und "Entscheidungsfreiheit"
einsetzt. Im Film dokumentieren die Jugendlichen ihre Assoziationen und ihre Auseinandersetzung zu den Themenbereichen
Menschenrechte, Respekt, Integration und Zivilcourage.
Kneifel: Öffentliches Gedenken ist wichtig und notwendig
Bundesratspräsident Gottfried Kneifel ging in seiner Rede vor allem auf die Bedeutung von Gedenken und Erinnerung
ein. Es gehöre zum Grundkonsens in Österreich, den Umgang mit Geschichte nicht zur Privatsache jedes
Einzelnen zu erklären, betonte er: "Wir können und wollen auf öffentliches Gedenken nicht verzichten".
Kneifel erachtet es dabei für unabdingbar, auch dunkle Kapitel der Vergangenheit aufzuschlagen. Es dürfe
keinen "schlampigen Umgang" mit der Geschichte geben. Da die Zahl der Zeitzeugen immer weniger wird,
sieht es der Bundesratspräsident in den Händen der Gesellschaft, die Erinnerung aufrecht zu erhalten.
Schließlich gelte es, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass ein Leben in Demokratie, Frieden und Freiheit
keine Selbstverständlichkeit ist.
"Politik braucht Kultur, Kultur des Dialogs und eines vernünftigen Miteinanders – trotz des politischen
Wettbewerbs", sagte der Kneifel. "Wir müssen alles unternehmen, um jene ökonomischen Fehlentwicklungen
zu verhindern, die in den 20er und 30er-Jahren den Aufstieg von Radikalen ermöglicht haben. Massenarbeitslosigkeit
war Nährboden für den Nationalsozialismus. Eine Politik, die Radikalen keine Chance geben will, darf
sich nie mit Arbeitslosigkeit abfinden".
Wo auch immer die Menschenwürde eines Mitmenschen verletzt werde, werde sie auch in einem selbst verletzt,
stellte Kneifel fest. Nur wenn man sich die Fähigkeit zum Mitleiden, zur Identifikation mit den Opfern bewahre,
könne es dauerhaft gelingen, eine gerechte Gesellschaft zu gestalten.
Die Politik ist nach Ansicht von Kneifel gefordert, "immer für und mit den Schwachen" zu sein. Gemeinsam
müsse man zudem am vereinten Europa weiterbauen, mit dem Ziel, am gesamten Kontinent Frieden, Freiheit, politische
Stabilität und starke Demokratien mit garantierten Menschenrechten zu sichern.
Prammer: Demokratie muss stets aufs Neue verteidigt werden
Auch Nationalratspräsidentin Barbara Prammer wies in ihrer Rede auf die Notwendigkeit hin, sich mit
der Vergangenheit auseinanderzusetzen. "Wer vor der Vergangenheit die Augen schließt, wird blind für
die Gegenwart", zitierte sie den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.
Man könne sich die Geschichte des eigenen Landes nicht aussuchen, sagte Prammer, so wie es darin "leuchtende
Momente" gebe, gebe es auch "dunkelste Kapitel".
Viele Österreicherinnen und Österreicher hätten sich an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt.
Dies könne, so die Nationalratspräsidentin, nicht ausgeblendet werden. Wer dies tue, wer die Realität
des Holocaust vergesse oder vergessen machen wolle, habe wohl auch Schwierigkeiten, den 8. Mai 1945, den Tag der
Befreiung Österreichs vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, richtig
einzuordnen.
Die Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus sei die Verbriefung der Menschenrechte gewesen, machte Prammer
geltend. Diese schützten nicht nur Grundfreiheiten wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, sie
seien auch ein Garant gegen unmenschliche Behandlung und Folter sowie gegen Diskriminierung.
Allerdings gebe es auch einige Dinge, vor denen die Menschenrechte keinen Schutz bieten würden, führte
Prammer aus. Sie könnten weder Gleichgültigkeit verhindern noch davor bewahren, dass Menschen wegschauten.
Und sie schützten auch nicht "vor den Versuchen mancher, unter dem Deckmantel der freien Meinung Ausgrenzung
zu betreiben und Hass zu schüren".
Prammer sieht in diesem Sinn jeden einzelnen gefordert. Es gebe keine Demokratie ohne Demokratinnen und Demokraten,
unterstrich sie. Neben Regeln, Gesetzen und staatlichen Sanktionen brauche es vor allem auch Zivilcourage. Demokratie
und Menschenrechte seien schließlich immer nur so stark, wie die Bereitschaft der Menschen, sie gegen Angriffe
zu verteidigen. Zivilcourage sei lernbar, zeigte sich Prammer überzeugt und hob auch die Notwendigkeit hervor,
die herrschende Moral, Institutionen und Autoritäten stets aufs Neue zu hinterfragen.
Ruth Klüger: Gedenken zwischen Erinnern und Verdrängen
Die Gedenkrede wurde heuer von der Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger gehalten (siehe PK-Meldung
Nr. 447 ), wobei sie das Schicksal der Kinder im Nationalsozialismus in den Mittelpunkt stellte. Als Überlebende
des Holocaust sah sie das Gedenken an das Geschehene und die Versuche seiner Bewältigung von der Spannung
zwischen Erinnerung und Verdrängung geprägt. In einem langen Leben habe sie aus ihrer Beschäftigung
mit der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, in dessen Mitte "der Holocaust wie ein schwarzes Loch gähnt",
nichts gewinnen können, was man als Trost bezeichnen könne. Es bleibe ihr daher nur die Hoffnung, dass
Forschen, Dichten, Nachdenken und Diskutieren vielleicht dazu beitragen können, das Rätsel der "
zwielichtigen, zweideutigen, zwiespältigen menschlichen Freiheit" ein wenig zu erhellen, führte
Ruth Klüger aus.
Die musikalische Umrahmung der Veranstaltung erfolgte durch den Chor und das Instrumentalensemble der Musikschule
der Stadt Linz unter der Leitung von Thomas Mandel. Sie brachten unter anderem das "Dachaulied", das
auf einem Text von Jura Soyfer beruht, zur Aufführung. |
Ruth Klügers Gedicht aus Auschwitz
Respekt vor den Opfern, Sprache statt Gerede, Trauer statt Rührung
Wien (pk) - "Ich will über Kinder sprechen", sagte die Autorin und Literaturwissenschaftlerin
Ruth Klüger am Anfang ihrer Rede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus. Denn sie und die anderen Überlebenden
"der großen jüdischen Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, die heutzutage die Shoah oder der
Holocaust genannt wird", waren damals Kinder.
Im Mai 1945, gleich nach Kriegsende, berichtete Ruth Klüger, habe sie zwei Gedichte, die sie im Konzentrationslager
verfasst hatte, an die "Hessische Post" geschickt. Im Begleitbrief vermerkte sie stolz, "sie sei
erst dreizehneinhalb Jahre alt, hätte jedoch schon mehr erlebt als andere mit fünfzig". Reime und
Strophen nach dem Vorbild der klassischen deutschen Lyrik zu verfassen, lernte Ruth Klüger 1941 - "vor
der Verschickung" - in Wien, als sie gezwungenermaßen schulfrei hatte und sich die Zeit in ständig
wechselnden Wohnungen, "die mit verängstigten Erwachsenen vollgestopft waren", mit dem Auswendiglernen
von Versen vertrieb". Im Konzentrationslager verfasste sie dann Gedichte - mangels Schreibmaterial im Kopf
- und sagte sie manchmal vor anderen Häftlingen auf. "Mit der sprachlichen Kontrolle, die in solchen
Kompositionen steckt", meinte sie zeigen zu können, dass sie "kein verschrecktes, bewusstloses Opfer
gewesen war, sondern eine, die sich über Wasser halten und aufmerksam beobachten konnte. Also eine, die man
ernst nehmen sollte und die in Zukunft mitreden wollte", erinnerte sich Ruth Klüger.
Es war das erste Mal, dass die Rednerin eines der beiden Gedichte aus dem Jahr 1944 laut vortrug. Bis heute habe
sie es "vor dem salbungsvollen Mitleid bewahren wollen, das dem gesprochenen Wort zuteilwird, mehr als dem
gedruckten", sagte Ruth Klüger.
Der Kamin
Täglich hinter den Baracken
Seh ich Rauch und Feuer stehn.
Jude, beuge deinen Nacken,
Keiner hier kann dem entgehn.
Siehst du in dem Rauche nicht
Ein verzerrtes Angesicht?
Ruft es nicht voll Spott und Hohn:
Fünf Millionen berg' ich schon!
Auschwitz liegt in meiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.
Täglich hinterm Stacheldraht
Steigt die Sonne purpurn auf,
Doch ihr Licht wirkt öd und fad,
Bricht die andre Flamme auf.
Denn das warme Lebenslicht
Gilt in Auschwitz längst schon nicht.
Blick zur roten Flamme hin:
Einzig wahr ist der Kamin.
Auschwitz liegt in seiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.
Mancher lebte einst voll Grauen
Vor der drohenden Gefahr.
Heut' kann er gelassen schauen,
Bietet ruh'g sein Leben dar.
Jeder ist zermürbt von Leiden,
Keine Schönheit, keine Freuden,
Leben, Sonne, sie sind hin,
Und es lodert der Kamin.
Auschwitz liegt in seiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.
Hört ihr Ächzen nicht und Stöhnen,
Wie von einem, der verschied?
Und dazwischen bittres Höhnen,
Des Kamines schaurig Lied:
Keiner ist mir noch entronnen,
Keinen, keine werd ich schonen.
Und die mich gebaut als Grab
Schling ich selbst zuletzt hinab.
Auschwitz liegt in meiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.
Was in den Lagern vorging, war ihr und den anderen Kindern klar, berichtete Ruth Klüger. "Wir Kinder
waren hellwach, vielleicht nie wieder so hellwach wie damals." – Es verringere den Respekt vor den Kindern
und lenke von der Ungeheuerlichkeit dessen ab, was sie erlebten, wenn man von "verlorener Kindheit" oder
"geraubten Spielplätzen und Spielsachen" spricht. Die Rednerin verwahrte sich auch gegen die Unterstellung,
"wir hätten gar nicht gewusst, was los war, oder es sei gar nicht so arg gewesen, da man ja die Mutter
dabei hatte". Solche Reaktionen reichten nicht an das Gefühl der Zwölfjährigen in Auschwitz-Birkenau
und der Dreizehnjährigen in Groß-Rosen heran, das Klüger mit folgenden Worten ausdrückte:
"Ich hab ein Leben, es ist meins, es hat erst angefangen, nehmt es mir nicht, es gehört mir; was ihr
alles sonst genommen habt, die Wohnung, aus der wir rausgeschmissen wurden, das Geld der Eltern in der Bank und
alle unsere Sachen, der schöne Garten der Großeltern, das könnt ihr alles haben, wer will das schon,
ihr könnt es behalten, es ist egal, aber dieses Leben, ich gebe es nicht auf, ich hab Angst, ich will noch
was lernen - und auch eine große Wut habe ich. Das war das Grundgefühl". Und wenn ich heute von
Respekt rede, fügte Ruth Klüger hinzu, "meine ich nicht Respekt, den Sie vor mir, der Erwachsenen,
Altgewordenen, haben sollten – den müsste ich mir schon durch eigene Leistung verdienen -, sondern den ich
vor dem Kind bewahre, das ich damals war und das ganz gut denken konnte und sich trotzig bewährte und bestand."
Ihr Gedicht erschien dann verkürzt, in seiner Aussage verstümmelt und mit einer Zeichnung illustriert,
"die nicht ich war, sondern der Sammelbegriff, wie so ein Kind auszusehen hatte, mit weitaufgerissenen Augen,
vermutlich schreiend". In einem larmoyanten und unlogischen Kommentar hieß es in der Zeitung: "Einzelne
Strophen eigneten sich nicht zur Veröffentlichung", denn sie eröffneten das ganze unbeschreibliche
Elend, in das die Seele eines Kindes gestoßen wurde. – Sie hatte "auf ein Wort der Anerkennung gehofft,
nun genierte sie sich aber und kam sich durch diese Veröffentlichung vereinnahmt, ja sogar an den Pranger
gestellt vor", erzählte Ruth Klüger.
Frühe Holocaust-Bewältigung: Gerede und Rührseligkeit statt Trauer
Für die Überlebende des Holocaust ist es eine Verdrehung des Geschehens, "wenn man die Zeugen
nicht befragt, oder, wenn man sie befragt, ihnen dann nicht zuhört, sobald sie ausführlich werden wollen,
sondern den eigenen Gefühlen den Vorrang gibt." Noch lange nach dem Krieg seien selbst die erwachsenen
Überlebenden und mehr noch die Kinder für unzuverlässig gehalten worden, weil angeblich zu sehr
geschädigt durch das Erlebte. "Mit meinem Ärger und meiner Beschämung über diese erste
Veröffentlichung hatte ich etwas Richtiges erfasst. Das Desinteresse an der Autorin, die nur eine Quelle war
für die Erschütterungsfähigkeit der Herausgeber, war nicht zufällig, sondern typisch. Kinder
hatten keine rechte Identität, deshalb musste man sich auch nicht für ihre Beiträge bedanken, schon
in dieser frühen Phase der Erinnerung war mehr Gerede als Sprache und nicht so sehr Trauer als rührseliges
Gewäsch", konstatierte Ruth Klüger.
Während und nach dem Krieg, führte Ruth Klüger weiter aus, "hat man die Ermordung einer ganzen
nichtpolitischen Zivilbevölkerung wenn nicht beiseitegeschoben, so doch irgendwie komprimiert, vielleicht
weil der Gedanke unerträglich war, aber vielleicht auch, weil man mit Trauer über die Gefallenen und
mit Stolz über die Politischen, die Widerstandskämpfer im KZ, reden konnte - aber was ließ sich
schon über jüdische Hausfrauen und Kinder sagen, als dass sie Pech gehabt hatten?"
Wie starb Anne Frank?
"Als dann in den fünfziger Jahren mit Anne Frank ein ermordetes Kind lebhaft vor das Auge der Öffentlichkeit
trat, musste sich mit ihr niemand auseinandersetzen, weil sie keine Überlebende war. Man musste sich nicht
einmal mit den KZ-Erfahrungen Anne Franks auseinandersetzen, denn das Tagebuch handelt nicht davon, sondern vom
Versteck vor ihrer Verschleppung. Der enorme Erfolg des Buches hing vom Wissen ab, dass Anne Frank ein Opfer des
Massenmords war, aber gerade das machte es möglich, ihre überaus scharfsinnigen Aufzeichnungen zu sentimentalisieren.
Sie war ein Opfer, vor dem man nicht zurückschrecken musste. Was ihr nach dem Versteck im Amsterdamer Hinterhaus
zustieß, wurde erst Jahre nach der Veröffentlichung des Tagebuchs recherchiert und die Details, die
zu ihrem Tod führten, wurden nie so bekannt und hatten nie dieselbe Ausstrahlung wie ihre eigenen Worte über
das enge Zusammenleben vor der Entdeckung. Man konnte sie beweinen und man konnte bereuen. Die Vorstellung ihrer
Verschickung und ihres frühen Todes konnte man dazu denken oder auslassen, mit so vielen oder so wenigen Einzelheiten,
wie man wollte. Von ihr kam keine Gegenrede mehr - und doch hat sie es mit ihrem schriftstellerischen Talent und
ihrer akuten Beobachtungsgabe allen Kindern von damals leichter gemacht zu sprechen und gehört zu werden."
Wie Unfassbares verdrängt wird
"Vergessen", "erinnern", "verzeihen" seien die Wörter, "die uns immer einfallen,
wenn wir über das Gedenken an die Shoah sprechen", sagte Ruth Klüger und zitierte – hier in Wien
– Sigmund Freud, um "versuchsweise" ein anderes Wort einzuführen. Freud hat die "Verdrängung"
als einen Prozess beschrieben, in dem "ein Mensch, der mit dem, was ihm oder ihr zugestoßen ist (oder
was er getan hat) nicht zurechtkommt, es auf eine Weise beiseiteschiebt, die es nicht etwa zerstört – denn
das geht nicht – es aber so aufbewahrt, dass es sich nicht dem Bewusstsein und der in solchen Fällen hilflos
gewordenen Vernunft zur Verfügung stellt".
Aber nicht nur der Einzelne, auch eine Gesellschaft kann Teile ihrer Vergangenheit verdrängen, meinte Ruth
Klüger. Der Versuch, das Geschehene zu vergessen, gelinge nicht, weil das, was geschehen ist, nicht verschwindet,
"es geistert nur", formulierte die Autorin. Man leugnet und verdrängt, womit man nicht fertig wird,
schiebt es beiseite, das Beiseitegeschobene bleibt aber "nachbarlich anwesend". Streitet man es pauschal
ab, wird man entlarvt, daher waren die Holocaustleugner von Anfang an unglaubwürdig, sagte Klüger, weil
das Beweismaterial überwältigend war. "Der Massenmord war keine verborgene Leiche im Keller. Er
war nicht zu übersehen".
Aber auch jene, die die Faktizität des Geschehenen anerkennen, versuchen, es so zu deuten, dass es erträglich
wird, verfälschen und entschärfen es, zum Beispiel durch Sentimentalisieren. Das betreffe vor allem Kinder,
tote wie überlebende. "Ein weinerliches, rückgewandtes Mitgefühl nimmt dem Entsetzen über
das Vorgefallene den Stachel und verwandelt es in eine Stärkung der eigenen moralischen Überlegenheit".
Zeugen wurden verfremdet und angefeindet, berichtete Ruth Klüger. "Wenn wir Kinder die Geschichte unserer
Jahre unter den Nazis anders erzählten, als es sich die Erwachsenen zurecht gelegt hatten oder unerwünschte
Fragen über das Verhalten eben dieser Erwachsenen stellten, dann wurde man, wenn man Glück hatte, nicht
ernst genommen und beiseite geschoben ("verdrängt"), mundtot gemacht, weil man annahm, dass wir
nicht genug wissen konnten und sowieso keine Meinung zu haben hatten; oder wir wurden sogar beschimpft: "Du
hast’s faustdick hinter den Ohren", sagte mir eine Deutsche verächtlich noch in den frühen fünfziger
Jahren, berichtete Ruth Klüger. Man hat die Opfer seither zu Märtyrern stilisiert. Daran dachte man anfangs
noch nicht. Auch das nannte Ruth Klüger "eine Form der Verdrängung, indem man der äußersten
Sinnlosigkeit einen Sinn abgewinnt."
Die Motive der Massenmörder: Menschenhass und Menschenverachtung
Eine andere Art der Bewältigung, die der Verdrängung Vorschub leistet, ist die Relativierung. "Wir
reihen das Verbrechen ein, finden ihm einen Platz in der Geschichte der Untaten. Doch das Ausmaß des Holocaust
sprengt alle Rahmen und Raster", hielt die Zeitzeugin demgegenüber fest. Dabei wies sie auf das "Euthanasieprogramms"
hin, das "am Anfang des großen Blutbads stattfand und es von anderen Massakern durch den Aspekt der
nationalen oder völkischen Selbstzerfleischung unterscheidet". Seine Opfer wurden in die unerhörte
Kategorie "unnütze Esser" eingestuft. Die ersten experimentellen Gaskammern kann man in der Gedächtnisstätte
Hartheim bei Linz besichtigen, wo Behinderte aus dem eigenen Volk, Deutsche und Österreicher, von ihren Landsleuten
beseitigt wurden, darunter auch viele Kinder, behinderte, autistische oder auch nur schwer erziehbare Kinder, die
Krach in der Schule gemacht haben.
"Unnütze Esser": Man habe den eigenen Kindern den Bissen im Mund nicht gegönnt. Entgegen dem
normalen Instinkt, Kinder zu beschützen und ihnen zu helfen, wurden während der Naziherrschaft nicht
nur "andersrassige" Kinder getötet, sondern auch sehr viele eigene Kinder. Hier setzt Ruth Klügers
Verständnis aus. Denn Schoßhunde waren auch unnütze Esser, wurden im Nazi-Europa aber nicht vernichtet.
Haustiere waren nicht verboten – obwohl man ihnen zu essen geben musste. Was sich als Sparsamkeit und notwendige
Maßnahme zur Erhaltung der Rassenzucht tarnte und in den Massenmord an Zivilisten mündete, war laut
Klüger "in Wahrheit Menschenhass und Menschenverachtung, die man mit Schlagwörtern wie 'niemals
wieder', mit Mahnmalen, Sühnezeichen oder Gedenktagen, wie wir hier einen abhalten, nicht in den Griff bekommt".
Das schöne und berühmte jüdische Sprichwort "Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt"
gelte nicht angesichts des Massenmords, den sie als eine von wenigen überlebt hat. "Unzählige tapfere
Menschen haben gefährdete Kinder gerettet und verdienen es, dass wir sie ehren und feiern, aber eine Welt,
in der ein Kind leben bleibt und neunhundertneunundneunzig Kinder mit voller Absicht ermordet werden, eine solche
Welt ist nicht 'gerettet'", hielt Ruth Klüger entschieden fest. Sie kenne keine Erleichterung - ihr Überleben
wiegt das Grausen am Mord ihrer Altersgenossen nicht auf und widerlegt es nicht. "Solche Widersprüche
bleiben für meinesgleichen im Gedächtnis eintätowiert".
Der Völkermord bleibt unbegreiflich und unerklärbar
"Wie kam es zum Völkermord?" - Der Kern der Sache bleibt für Ruth Klüger unbegreiflich.
Wir brauchen all die nüchtern wissenschaftlichen und passioniert dichterischen Analysen, die seither erschienen
sind. Aber sie genügen nicht. Wirtschaftliche Gründe reichten nicht hin, denn es gab ärmere Länder,
wo so etwas nicht passierte. Unwissenheit erklärt die Handlungsweise der Täter nicht, denn sie hatten
ein relativ hohes Bildungsniveau. Sie waren keine Analphabeten und hatten entweder eine religiöse oder eine
humanistische Erziehung gehabt, die leider nicht standhielt. Dass sie aus einer Gesellschaft kamen, die fünfzehn
oder zwanzig Jahre zuvor einen Krieg verloren hatte, erklärt diese Umkehrung aller Werte mitten in Europa
nicht, denn Verlierer gibt es in jedem Krieg.
"Weder andächtiges Schweigen noch Reue, Andacht oder auch Hass und Verachtung geben uns Antwort auf die
Fragen, die die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts uns stellt. Und so belassen wir es bei der festen Überzeugung,
dass jetzt alles anders ist. Das stimmt sogar, ich muss mich nur umschauen und das Wien meiner Kindheit denken",
sagte Klüger. "Es war eine düstere, feindselige Stadt, wo man als Jude wie in einem Belagerungszustand
vegetierte, wo ich alles verlor, auch den Vater und den Bruder und schließlich in den Tod abtransportiert
wurde, dem ich dann ausnahmsweise entging, bin ich heute hier willkommen, ich darf sogar im Parlament darüber
sprechen." Dennoch bleiben für Ruth Klüger viele Fragen offen: Wo und was sind die Quellen des Damals
und des Jetzt? - Was hat sich im Denken geändert? - Was der Ursprung des Genozids war und wie der Holocaust
möglich war, bleibt für Ruth Klüger ein ungelöstes Rätsel.
Das Zwiespältige der menschlichen Freiheit
Die Autorin spricht vom Rätsel der menschlichen Freiheit: "Wir sind nicht vorprogrammiert, ein Rechtsstaat
bleibt nicht unbedingt ein Rechtsstaat, seine Bewohner können ihre Vorstellungen und Absichten jederzeit auch
anders überlegen. Meistens sind wir stolz auf dieses Selbstbestimmungsvermögen und meinen, es führt
zum Fortschritt und zum Guten. Manchmal führt es ins abgrundtief Böse. Der Holocaust gähnt wie ein
schwarzes Loch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Ich habe im Laufe eines langen Lebens einiges darüber
gelesen, auch ein bisschen darüber geschrieben, bin aber zu keinen Schlussfolgerungen gekommen und fand gewiss
keinen Trost."
Am Schluss ihrer Rede zum Gedenken an die Opfer von Nationalsozialismus und Rassismus entlässt Ruth Klüger
die Zuhörer dennoch nicht ohne Hoffnung, "dass weiteres Forschen, Dichten, Nachdenken und Diskutieren
zu einer Erhellung unseres Tuns und Lassens und der Möglichkeiten und Grenzen unserer zwielichtigen, zweideutigen
und zwiespältigen menschlichen Freiheit" führen mögen.
Die Autorin, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger
Die international renommierte Autorin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger wurde 1931 in Wien geboren.
Sie stammt aus einer jüdischen Familie, wurde während der nationalsozialistischen Herrschaft deportiert,
überlebte die Internierung in verschiedene Konzentrationslager und wanderte 1947 in die USA aus, wo sie Anglistik
und Germanistik studierte und an mehreren Universitäten deutsche Sprache und Literatur unterrichtete.
Ruth Klüger wurde vor allem durch ihre in viele Sprachen übersetzte Biographie "weiter leben. Eine
Jugend" (Göttingen 1992) bekannt. Sie schrieb auch "Frauen lesen anders. Essays", "Katastrophen.
Über deutsche Literatur", "Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik", "Gelesene Wirklichkeit.
Fakten und Fiktionen in der Literatur", "unterwegs verloren. Erinnerungen", "Was Frauen schreiben"
und vieles mehr. Ruth Klüger ist Trägerin zahlreicher Auszeichnungen.
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