Wie modern ist die Sozialenzyklika "Rerum Novarum" von 1891?
Nationalratspräsident Neugebauer: Die Botschaften leidender Menschen hören!
Wien (pk) - "Wenn Du den Frieden willst, dann schaffe Gerechtigkeit", formulierte heute
der Zweite Präsident des Nationalrats, Fritz Neugebauer, eine zentrale Aufgabe der Politik anlässlich
der Festveranstaltung in Erinnerung an die erste Sozialenzyklika "Rerum Novarum", die Papst Leo XIII.
vor 120 Jahren verfasst hat. Die Enzyklika sei so alt und mit ihren Grundsätzen zugleich so neu und aktuell,
sagte Nationalratspräsident Fritz Neugebauer und wies auf zentrale Prinzipien des Dokuments wie Personalität,
Subsidiarität und Solidarität hin. Wer als Person akzeptiert werden und nicht in der Vermassung aufgehen
möchte, der müsse für Personalität sein; wer gegen Zentralismus auftritt, müsse sich für
Subsidiarität einsetzen; wer politischem Egoismus oder dem Motto "Geiz ist geil" eine Absage erteile,
der müsse für Solidarität kämpfen.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sei durch die Industrielle Revolution geprägt gewesen, durch die
Abkehr vom Feudalismus und das Elend der Massen. Die Politik habe verschiedene Lösungen angeboten: den ungebremsten
Liberalismus und den die menschliche Würde nicht respektierenden Kapitalismus einerseits und die radikalen
Angebote des Sozialismus andererseits. Leo XIII. habe einen dritten Weg der Erneuerung gewiesen.
Auch heute sei der Geist der Erneuerung gefordert, konstatierte Neugebauer, sowie die Fortsetzung des sozialen
Dialogs und der sozialen Partnerschaft. Mit Hinweis auf ein Zitat des Festredners, Paul Michael Zulehner, wonach
soziale Lehren und politische Prozesse von unten wachsen, warnte der Zweite Nationalratspräsident davor, die
Botschaften leidender Menschen nicht zu hören. Das sehe man heute nicht nur an den Entwicklungen in Nordafrika,
auch in Europa herrsche ein weit verbreitetes Unverständnis der Menschen für die Politik.
Die Sozialenzyklika "Rerum Novarum"
Vor 120 Jahren, am 15. Mai 1891, nahm Papst Leo XIII. mit der ersten Sozialenzyklika "Rerum Novarum"
umfassend zur sozialen Frage Stellung und legte damit den Grundstein für die "Christliche Soziallehre".
Er ging deshalb auch als "Arbeiterpapst" in die Geschichte ein. Die Sozialenzyklika beruht auf vier Grundsätzen:
einem "JA zur Industriewirtschaft", einem "JA zur Industriegesellschaft", einem "JA zum
Sozialstaat" und einem "JA zu einer neuen Werte- und Pastoralkultur" und besitzt damit bis heute
Gültigkeit.
Ende des 19. Jahrhunderts stand die Gesellschaft inmitten großer politischer, sozialer und wirtschaftlicher
Umwälzungen und damit vor großen Herausforderungen, insbesondere auch durch die Entwicklung der Technik
und der Wissenschaft. Die große Masse der ArbeiterInnen lebte in Elend und Not, die Kluft innerhalb der Gesellschaft
war enorm, die soziale Frage enthielt revolutionären Sprengstoff. Der Papst erkannte dies und nahm sich der
"neuen Dinge" an. Darin trat er für eine gerechte Entlohnung der Arbeiterschaft ein und forderte
seitens der Kapitalisten, den Arbeitenden Respekt und Achtung entgegenzubringen. "Dem Arbeiter den ihm gebührenden
Verdienst vorenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit", schreibt das Oberhaupt der katholischen
Kirche. Es gehe "wider göttliches und menschliches Gesetz", "Notleidende zu drücken und
auszubeuten um des eigenen Vorteils willen". Papst Leo XIII. sprach sich für eine staatliche Sozialpolitik
aus und wandte sich gegen das Spiel der freien Kräfte genauso wie gegen die sozialistische Theorie der damaligen
Zeit.
Präsident Neugebauer nahm das Jubiläum zum Anlass, der Wirkungsgeschichte dieses Dokuments von 1891 bis
in die Gegenwart nachzugehen. Der Einladung zur Festveranstaltung "120 Jahre Rerum Novarum - Christliche Soziallehre
gestern – heute – morgen", sind zahlreiche prominente Gäste und Vortragende gefolgt, darunter auch Bundespräsident
Heinz Fischer und der em. Bischof der Diözese Linz, Maximilian Aichern. Den Festvortrag hielt der Theologe,
Univ.-Prof. Paul Michael Zulehner. Zu den ReferentInnen des Abends zählten weiters der Präsident des
Europäischen Zentrums für Arbeitnehmerfragen, Raf Chanterie, die Nationalratsabgeordnete und ÖGB-Vizepräsidentin
Sabine Oberhauser und der Bundesvorsitzende der FCG und ÖGB-Vizepräsident Norbert Schnedl. Für die
Moderation zeichnete die Journalistin Martina Salomon verantwortlich.
Präsident Neugebauer konnte im dicht gefüllten Sitzungssaal des Nationalrats nicht nur den Bundespräsidenten
begrüßen. Unter den Gästen waren auch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, der ehemalige Vizekanzler
Alois Mock, die Präsidentin des OGH, Irmgard Griss, der Vizepräsident des Verwaltungsgerichtshofs, Rudolf
Thienel, der ehemalige Bundesratspräsident Herbert Schambeck, ÖVP-Klubobmann Karlheinz Kopf und Weihbischof
Franz Scharl.
Musikalisch wurde die Festveranstaltung von Elisabeth Hasenburger (Geige), Gabriel Hasenburger (Cello) und Matthias
Frauenknecht (Bratsche) umrahmt.
Fischer: Es gibt noch viele ungelöste soziale Probleme
Der Bundespräsident ging auf das politische und soziale Umfeld ein, in der die Sozialenzyklika "Rerum
Novarum" entstanden ist, und wies darauf hin, dass aus Teilen der Arbeiterschaft der Vorwurf gekommen ist,
dass sie das gegebene Gesellschaftsmodell einschließlich der uneingeschränkten Verfügungsmacht
der Eigentümer der Produktionsmittel als gegeben hingenommen habe. Adressat sei der von der kapitalistischen
Wirtschaftsweise als Massenerscheinung hervorgebrachte Arbeiter gewesen, der in dieser Gesellschaftsordnung leben
musste und sich in ihr als Mensch und als Christ bewähren sollte. Somit sei "Rerum Novarum" eine
starke und richtungsweisende Stütze für die katholische Soziallehre gewesen, sagte Fischer. Ihre Grundeinstellung
zur Gesellschaft und zur weiteren gesellschaftlichen Entwicklung sei von der nichtkatholischen Arbeiterbewegung
als ungenügend betrachtet und teilweise scharf kritisiert worden. Es stelle sich daher die interessante Frage,
ob und in welchem Ausmaß man die weitere Entwicklung der Christlichen Soziallehre und die weitere Entwicklung
der Europäischen Arbeiterbewegung als ein Aufeinanderzugehen aus den damals noch sehr weit entfernten Positionen
beschreiben kann, bzw. wo heute die Hauptunterschiede bestehen. Seit der Enzyklika habe es jedenfalls enorme Fortschritte
gegeben, aber es gebe noch immer viele ungelöste Probleme, bemerkte der Bundespräsident.
Chanterie: Sozialenzyklika hat auch in Zukunft hohen Wert
Der Präsident des Europäischen Zentrums für Arbeitnehmerfragen (EZA), Raf Chanterie, erinnerte daran,
dass mit der ersten Sozialenzyklika die soziale Frage von der Kirche als gesellschaftspolitisches Anliegen erkannt
wurde und die Verantwortlichen in die Pflicht genommen werden sollten. Chanterie griff drei Elemente heraus, die
heute noch Gültigkeit haben und dem EZA als Quelle der Inspiration dienten: Die Forderung nach Lohngerechtigkeit
sei heute angesichts der Leiharbeit und der Arbeitsmigration noch immer aktuell. Die Forderung nach staatlicher
Verantwortung und staatlichem Handeln im Hinblick auf ungerechte Zustände werde vom Kapitalismus ignoriert.
Europa werde nur dann Erfolg haben, wenn sich die Menschen von der EU ernst genommen fühlen, wenn der soziale
Zusammenhalt in den Vordergrund gerückt werde, mahnte Chanterie. Schließlich sei der Aufruf zur Gründung
von Arbeitnehmerorganisationen für viele Ermutigung und Initialzündung gewesen.
Die Herausforderungen seien nicht kleiner geworden, auch heute gehe es um Personalität, Solidarität und
Subsidiarität, um das Gemeinwohl, betonte Chanterie. In diesem Sinne habe die Sozialenzyklika nicht nur in
der Vergangenheit hohen Wert gehabt, sie habe ihn auch für die Gegenwart und die Zukunft.
Oberhauser: Im ÖGB steht das Gemeinsame im Vordergrund
Dass sich die Kirche mit "Rerum Novarum" mit der Arbeiterfrage in der industrialisierten Welt auseinandersetzt,
sei keine Selbstverständlichkeit gewesen, stellte Nationalratsabgeordnete und ÖGB-Vizepräsidentin
Sabine Oberhauser in ihren Grußworten fest und betonte vor allem das Ja zum Sozialstaat als einen der vier
Grundsteine. Aus diesen seien die vier Prinzipien der christliche Soziallehre entstanden, wobei sich Oberhauser
mit jenen der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit näher auseinandersetzte. Beide Prinzipien seien
in der gesamten Gewerkschaftsbewegung, unabhängig von der fraktionellen Zugehörigkeit, stark verankert,
bekräftigte sie.
"Solidarität ist für uns die Grundlage der Demokratie", so Oberhauser, das Gemeinsame sei von
den GewerkschafterInnen nach 1945 als Lehre aus dem Krieg in den Vordergrund gestellt worden, und das sei auch
heute noch der Fall. Im Mittelpunkt stehe die Arbeit für die Beschäftigten. Soziale Sicherheit sei Teil
des sozialen Commitments und kein Almosen, unterstrich Oberhauser abschließend.
Schnedl: Soziale Bewegung bedingt Soziallehre und umgekehrt
Man muss gemeinsam darum kämpfen, "dass Globalisierung für alle Menschen positiv erlebbar wird und
dass in diesem Prozess nicht die Wirtschaft, nicht das Finanzkapital, sondern das Wohl aller Menschen im Mittelpunkt
steht", appellierte der Bundesvorsitzende der FCG und Vizepräsident des ÖGB, Norbert Schnedl am
Ende seines Beitrags, in dem er einen weiten Bogen von der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts bis heute
spannte. Nicht wenige Menschen verglichen die Tendenzen der Industriellen Revolution mit jenen der Globalisierung,
sagte Schnedl. Damals stellte der rasante technische Fortschritt alle bisherigen Produktions- und Handelsstrukturen
in Frage, Massen von Männern, Frauen und Kindern lebten in unvorstellbarem Elend. Diese Not sei der Ausgangspunkt
für die erste Sozialenzyklika "Rerum Novarum" gewesen.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeige eindrucksvoll, wohin Wirtschaft und Finanzwirtschaft ohne Werte führten.
Das sei "modernes Raubrittertum". Wir brauchen daher eine werteorientierte Gesellschaft, eine ausgewogene
Balance zwischen sozialer Gerechtigkeit, gesunder Umwelt und wirtschaftlichem Erfolg, um so mehr Nachhaltigkeit
zu erreichen, forderte Schnedl. Die Würde des Menschen sowie dessen Grund- und Freiheitsrechte seien unveräußerlich.
Die Fraktion Christlicher Gewerkschafter, die heuer ihren 60. Geburtstag feiere, habe von Anfang an die Soziallehre
in den Vordergrund gestellt. Soziale Bewegung bedinge Soziallehre und umgekehrt.
Aichern: Eine bessere Welt ist möglich
Als einen "Skandal" bezeichnete Bischof Maximilian Aichern die Tatsache, dass es trotz hohen Wohlstands
noch immer große und weit verbreitete Armut gibt, dass Überstunden geleistet werden müssen, während
viele arbeitslos sind, dass viele wegen Überbelastung unter Stress litten, während andere der Langzeitarbeitslosigkeit
ausgeliefert seien. Aichern sprach auch die Finanzmärkte mit ihren verheerenden Auswirkungen an, kritisierte
scharf, dass vielfach alles Menschliche ökonomisiert werde und forderte angesichts der Umweltkrise eine nachhaltigen
Umweltpolitik ein.
Man müsse das Gewissen und die Aufmerksamkeit schärfen, zum Engagement für eine gerechtere Welt
einladen und das Vertrauen schaffen, dass sich Engagement lohnt, rief Aichern auf und zeigte sich überzeugt
davon, dass eine bessere Welt möglich ist.
Die Sozialenzyklika "Rerum Novarum" sei ein Impuls für die Kirche gewesen, der modernen Welt mehr
Rechnung zu tragen und diese mehr mitzugestalten. Damit habe sie das zweite Vatikanum vorweggenommen. Die Kirche
selbst mache nicht Politik, sondern sei in Korrespondenz mit den Verantwortlichen, erläuterte er. Aichern
wies auf die zahlreichen sozialen Vereinigungen und Aktivitäten der Kirche hin und nannte unter anderem die
katholische Arbeiterbewegung, die katholische Arbeiterjugend, die katholische Sozialakademie und die Caritas. Sie
alle hätten immer wieder Impulse zu Sozialhirtenbriefen und Enzykliken gegeben. Daraus sei auch das Engagement
für die Dritte Welt und die Ökologie entstanden, sagte Aichern, aber auch für Initiativen in Österreich
selbst. |
Soziallehren fallen nicht vom Himmel
Zulehner über Entstehungsgeschichte und Wirkung von "Rerum Novarum"
Wien (pk) - Der österreichische Theologe Paul Michael Zulehner skizzierte in einer Festrede,
die er am 23.05. im Rahmen der Veranstaltung "120 Jahre Rerum Novarum" im Parlament hielt, welche Lehren
heute noch aus der Sozialenzyklika des Jahres 1891 sowie ihrer Vor- und Wirkungsgeschichte gezogen werden können.
Das päpstliche Schreiben, dessen 120. Erscheinungsjubiläum man in diesem Jahr begeht, charakterisierte
der Redner dabei als zukunftsweisendes und immer noch gültiges Dokument.
Soziallehren wachsen "von unten"
Die Entstehungsgeschichte von "Rerum Novarum" illustriere vor allem, dass Soziallehren "nicht vom
Himmel fallen", erklärte Zulehner: Leo XIII. habe sie schließlich nicht "auf Grund einer einsamen
Inspiration am Betschemel" verfasst, sondern vor dem Hintergrund eines Besuchs der "Freiburger Vereinigung"
beim Heiligen Stuhl. Nach der Audienz der internationalen Arbeitsgemeinschaft, der auch Freiherr Karl von Vogelsang
angehörte, habe der Papst ein Memorandum erbeten, das als Grundlage der Sozialenzyklika fungierte.
Soziallehren und politische Programme wachsen, so Zulehner, stets "von unten", weshalb man die leidenden
Menschen selbst als ihre Autoren bezeichnen müsse. Um vom erlittenen Leiden zum politischen bzw. kirchlichen
Text zu gelangen, brauche es aber "Nach-Denker", die in die Lebenswelt der Betroffenen eintauchten und
in politischer Anstrengung Abhilfe zu schaffen versuchten. Ohne diese Versenkung in das alltägliche Leiden
der Menschen könnten die von diesen Denkern formulierten Programme keinerlei Wirkung entfalten, zeigte sich
Zulehner überzeugt. Wie das Proletariat zur Erscheinungszeit der Sozialenzyklika gelitten habe, sei erschütternd
und angesichts zeitgenössischer sozialstaatlicher Errungenschaften kaum vorstellbar: In der "Wiener Kirchenzeitung"
und der Monatsschrift "Vaterland" erschienene Beschreibungen der Lebensumstände der Arbeiterschaft
legten davon beredtes Zeugnis ab.
Wer Unrecht nachhaltig beheben will, muss beständig lernen
Wer durch konkretes sozialpolitisches Engagement Unrecht nachhaltig beheben wolle, müsse, wie die
Vor- und Nachgeschichte von "Rerum Novarum" illustriere, dazu bereit sein, beständig zu lernen.
Die Katholische Kirche sei jedoch seit Mitte des 19. Jahrhunderts vielfältig daran behindert gewesen, die
soziale Herausforderung angemessen wahrzunehmen und auf ihre Lösung hinzuwirken, führte Zulehner aus,
die "beharrenden Kräfte", die sie umklammerten, wären stark gewesen. Dass vor ihren Augen eine
tiefgreifende soziale, politische und geistige Revolution stattfand, wollten, so Zulehner, viele nicht wahrhaben.
Das Rundschreiben "Rerum Novarum" verhalf der Anerkennung der neuen Realität schließlich zum
Durchbruch und holte die Kirche "aus sozialromantischen Träumen auf den Boden der realen Entwicklung".
Doch auch dieser Schritt war nur eine Momentaufnahme innerhalb eines nie endenden Lernprozesses, wie die lange
Liste weiterer Lehrschreiben illustriere, die diese Enzyklika nach sich zog: Mit "Laborem exercens" knüpfte
Papst Johannes Paul II. 1981 schließlich unmittelbar an "Rerum Novarum" an, erklärte Zulehner.
Lernen spiele sich, wie der Redner ausführte, aber auch stets vor dem Hintergrund der technologischen, sozialen
und politischen Bedingungen ab, die sich zunehmend rascher veränderten. Den "Quantensprung von der Dampfmaschine
zum Microchip" habe man sozialethisch und –politisch aber längst nicht aufgearbeitet, gab Zulehner zu
bedenken: Naturwissenschaft und Finanzmärkte hätten eine immense Eigendynamik entwickelt, deren Tempo
ökologisch wie sozialpolitisch kaum einzuholen sei.
Soziale Frage ist eine globale
Ständig zu lernen, bedeute im sozialpolitischen Bereich aber auch, voneinander zu lernen, führte Zulehner
aus. Das setze wiederum wechselseitigen Respekt, Wertschätzung, Stärke und Demut voraus. Interessen seien
stets begrenzt. Der sozialpolitische Fortschritt könne nur gewinnen, wenn zwar alle Seiten ihre Eigeninteressen
erkennen und vertreten, zugleich sich aber deren Begrenztheit bewusst sind. Auch gelte es zu begreifen, dass die
soziale Frage längst keine nationale oder europäische, sondern eine globale geworden ist.
Die katholische Soziallehre, die seit ihren Anfängen den Menschen, seine unantastbare Würde und sein
Recht auf Arbeit und Überlebensgüter ins Zentrum gestellt hat, trage der wichtigen und sensiblen Balance
zwischen den Polen Freiheit und Gerechtigkeit mit den zeitlosen und für alle lehrreichen Prinzipien der Subsidiarität
und Solidarität Rechnung. Es sei schließlich nicht einfach, "der Freiheit Gerechtigkeit abzuringen",
stellte Zulehner in Anlehnung an den französischen Dominikaner Jean B. Lacordaire fest. "Es gibt keine
Freiheit ohne Solidarität", zitierte er Johannes Paul II., aber man sollte auch lernen, dass es auf Dauer
auch keine Gerechtigkeit ohne Freiheit gibt.
Jubiläen: Alterung oder Erneuerung von Visionen?
Wie der amerikanische Forscher Martin F. Saarinen festgestellt hat, setze das Altern einer Organisation mit dem
Verlust ihrer Visionen ein – einem Moment, der just dazu verwendet werde, Jubiläen zu begehen. Wisse man aber
um diese Tatsache, so könnten Gedenken auch dazu genutzt werden, "alternde Visionen" – wie jene
einer gerechteren Welt – zu erneuern, zeigte sich Zulehner überzeugt. Es gelte schließlich in gemeinsamer
Anstrengung, abseits aller ideologischen Grenzen, eine "Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit"
herzustellen.
Die Katholische Soziallehre könne für die ständige Erneuerung dieser Vision, der – wie allen sozialen,
kirchlichen Botschaften - ein tiefes Wissen um die Einheit der ganzen Welt und der Menschheit zugrunde liege, eine
bleibende Motivation darstellen, schloss Zulehner. |