WIFO-Studie: Über das BIP hinaus  

erstellt am
13. 07. 11

Österreich auf dem Prüfstand erweiterter Wohlfahrtsmaße
Wien (wifo) - Nicht nur die Ökonomie hinterfragt die Bedeutung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) als alleinige Maßzahl für Wohlstand und Lebensqualität eines Landes. Für einige zusätzliche Indikatoren, wie sie eine umfassende und differenzierte Sicht auf den Erfolg der Wirtschaftspolitik erfordert, legt das WIFO einen Vergleich über ein Jahrzehnt und über die EU-Länder vor. Demnach nimmt Österreich innerhalb der EU nicht nur gemessen am BIP, sondern auch in Bezug auf das Nettonationaleinkommen und Indikatoren zur Lebensqualität und zu den materiellen Lebensbedingungen eine gute Position ein. Der Vergleich über die Zeit hinweg deckt allerdings Schwächen auf, etwa im Umweltbereich. Um die gute Position Österreichs zu halten und auszubauen, sind zügige Reformschritte nötig.

Vom Bruttoinlandsprodukt zum Pro-Kopf-Nettonationaleinkommen
Im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) werden neben dem BIP weitere Kennzahlen ermittelt, die eine genauere und aussagekräftigere Sicht auf den Erfolg der Wirtschaftspolitik ermöglichen:

  • Jener Teil der Produktion, der in den Erhalt des Kapitalstocks fließt (Abschreibungen), erhöht den Wohlstand nicht. Unter diesem Gesichtspunkt liefert der Indikator "Nettoinlandsprodukt (NIP)" ein aussagekräftigeres Bild.
  • Teile der Produktion fließen in Form von Gewinnen und Löhnen als Faktoreinkommen ins Ausland ab, sodass die gesamtwirtschaftliche Produktion nicht vollständig dem Inland als Einkommen zur Verfügung steht. Monetäre Transfers vom und an das Ausland müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Die so berechnete Kennzahl "verfügbares Nettonationaleinkommen" misst daher zutreffender, welches Einkommen der Bevölkerung in einem Land für Konsum, Zusatzinvestitionen und Sparen zur Verfügung steht.
  • Da Produktionskapazität und Nachfrage einer Volkswirtschaft mit steigender Bevölkerung zunehmen, ist im Ländervergleich die Betrachtung von Pro-Kopf-Einkommen sinnvoll.


Wieweit die Messung der Wirtschaftsentwicklung durch diese Indikatoren von jener durch das BIP abweicht, zeigen die folgenden Beispiele:

  • Vergleich Irland-Österreich: Irlands BIP stieg zwischen 2000 und 2010 real um 2,5% pro Jahr (Österreich +1,5% p. a.). Bereinigt um das Bevölkerungswachstum, d. h. pro Kopf, beträgt dieser Anstieg nur 0,9% pro Jahr (Österreich +1,1% p. a.). Das real verfügbare Nettonationaleinkommen stagnierte aber in diesem Zeitraum in Irland praktisch (+0,1% pro Jahr). Auch in Österreich zeigt diese Kennzahl aufgrund der Bevölkerungszunahme mit +1,0% (2000/2010) ein etwas niedrigeres Wirtschaftswachstum an als das BIP; der Unterschied ist aber wegen der relativ niedrigeren Einkommens- und Transferflüsse ins Ausland geringer als in Irland.
  • Vergleich USA-Japan: Für die USA ergibt sich unter Berücksichtigung des starken Bevölkerungswachstums bei einer Zunahme des BIP um real 1,7% eine Steigerung des BIP pro Kopf um nur 0,7% pro Jahr. Der Anstieg entsprach damit genau jenem in Japan, dessen Bevölkerung im Untersuchungszeitraum stagnierte. Das reale verfügbare Nettonationaleinkommen erhöhte sich in beiden Ländern noch schwächer, und zwar um 0,4% in den USA und um 0,5% in Japan.


Lebensqualität und materielle Lebensbedingungen
Im Jahr 2010 waren in Österreich 71,7% der Bevölkerung im Erwerbsalter beschäftigt; dies war der vierthöchste Wert in der EU 27. Zur guten Position Österreichs trägt primär die vergleichsweise hohe Erwerbsintegration von Männern bei (zweithöchster Wert der EU 27). Bezüglich der Beschäftigungsquote der Frauen liegt Österreich auf dem 5. Rang.

Allerdings sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Beschäftigungsquote in Österreich nach wie vor hoch. Die Quote der Männer ist um 10,7 Prozentpunkte höher als die der Frauen. Damit liegt Österreich unter den Ländern der EU 27 nur auf dem 15. Rang. Auch hinsichtlich der Arbeitsmarktintegration der Älteren nimmt Österreich trotz des Aufholprozesses stets eine Position im Mittelfeld der EU 27 ein.

Die Arbeitslosenquote ist in Österreich mit 4,4% die niedrigste innerhalb der EU 27. Über die tatsächlichen Lebensbedingungen und Lebenschancen geben Beschäftigungsindikatoren aber nicht ausreichend Aufschluss. Dazu bedarf es zusätzlicher Informationen zu qualitativen Aspekten und zur Verteilung:

  • Kennzahlen zur Einkommensverteilung der Haushalte zeigen zwischen 2000 und 2009 eine leichte Zunahme der Ungleichheit der Verteilung.
  • Das Armutsgefährdungsrisiko (nach Sozialtransfers) verringerte sich zwischen 2000 und 2009, Österreich rückte vom 9. auf den 5. Rang vor. Dennoch gelten nach wie vor 12% der Bevölkerung als armutsgefährdet. Würde die Sozialpolitik durch Transfers nicht gegensteuern, wären 2009 doppelt so viele Menschen armutsgefährdet gewesen.


Ressourcenverbrauch und Emissionen
Österreich setzt im EU-27-Vergleich viel an physischen Ressourcen ein, um sein hohes Wohlstandsniveau zu erreichen. Zwar erhöhte sich der Einsatz der physischen Ressourcen wie etwa Erze, Gestein und Biomasse geringfügig schwächer als das reale Bruttoinlandsprodukt, die erwünschte Situation einer wachsenden Wirtschaft bei gleichbleibendem Materialeinsatz wurde aber bei weitem nicht erreicht. Andere EU-Länder sind auf diesem Weg viel erfolgreicher.

Österreich zählt zu den Ländern mit dem geringsten Ausstoß von Treibhausgasen bezogen auf das BIP. Die Ziele aus der EU-Klimapolitik konnten allerdings bisher nicht realisiert werden. Am deutlichsten ist die Abweichung in Bezug auf die Emissionen von Treibhausgasen: Das Kyoto-Protokoll gibt eine Verringerung der Emissionen um 13% des Niveaus von 1990 im Durchschnitt der Jahre 2008/2012 vor, tatsächlich war der Ausstoß im Jahr 2009 um 16,4% höher als die Zielvorgabe (2009: 80,1 Mio. t; Zielvorgabe 2008/2012: 68,8 Mio. t p. a.). Zu den Erfolgen zählt der hohe Anteil der erneuerbaren Energie am Gesamtverbrauch. Generell nimmt Österreich hinsichtlich der meisten Umweltindikatoren eine gute Position ein, kann aber den einstigen Vorsprung nicht halten und büßt damit auch Marktchancen im Bereich der Umwelttechnologien ein, die eine führende Position mit sich bringen würde.

Zum Halten und Ausbau der guten Stellung Österreichs bedarf es zügiger Reformschritte
Eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung ist nur möglich, wenn die Kapitalstöcke einer Volkswirtschaft bewahrt und ausgebaut werden: die natürlichen Ressourcen, das vom Menschen geschaffene Kapital wie etwa Infrastruktur, das Humankapital und das Sozialkapital. Österreich ist nicht allzu reich mit natürlichen Ressourcen ausgestattet. Zuwächse der Wirtschaftsleistung und des Einkommens können daher nur von einer wohlüberlegten Balance zwischen Investitionen in Sachkapital und der Steigerung und besseren Nutzung des Sozial- und Humankapitals kommen. Dazu zählt, möglichst vielen Menschen, vor allem Frauen, den Zugang zur Erwerbstätigkeit zu erleichtern, sie möglichst lange in Beschäftigung zu halten, durch Abbau geschlechts- und herkunftsspezifischer Barrieren sowie durch Investitionen in bessere Bildung und durch eine Steigerung der Ressourcen- und Energieeffizienz der Kapitalstöcke ein überdurchschnittliches Einkommen zu ermöglichen.


 

Rudas: Österreich auch bei Lebensqualität und Wohlstand top
WIFO-Studie bestätigt Regierungspolitik: In Beschäftigung, Bildung, neue Energieformen investieren
Wien (sk) - Das Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) hat heute eine Studie präsentiert, die die materiellen Lebensbedingungen und die Lebensqualität in Österreich abseits des reinen BIP misst. Demnach nimmt das Land auch beim "verfügbaren pro-Kopf-Nettonationaleinkommen" eine sehr gute Position ein. Für SPÖ-Bundesgeschäftsführerin Laura Rudas ist die WIFO-Studie - so wie auch der jüngste OECD-Länderbericht - Beleg für die richtige Politik der Regierung Faymann. "Die von der SPÖ geführte Regierung hat in der Krise so gegengesteuert, dass wir jetzt eine hervorragende Ausgangsbasis für den Aufschwung haben", so Rudas gegenüber dem Pressedienst der SPÖ.

Es sei grundsätzlich gut, dass das WIFO das Bruttoinlandsprodukt als alleinige Maßzahl für Wohlstand hinterfragt und mit erweiterten Indikatoren misst, ob der Wohlstandszuwachs auch bei den Menschen ankommt, ob Verteilung und Lebensbedingungen gerecht sind. Das WIFO zeigt dabei, dass Österreich erstens im EU-Vergleich hervorragend liegt, und dass zweitens die Regierung auf die richtigen Reformen setzt.

So empfiehlt die Studie, Frauenbeschäftigung zu fördern, in Bildung und in erneuerbare Energien zu investieren und auf Verteilungsgerechtigkeit zu achten. "Genau das sind auch die Schwerpunkte der Regierung Faymann: Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen und Ganztagsbetreuung in der Schule, Oberstufe Neu, Ausbau der Neuen Mittelschule, Ökostromförderung, Offensivmittel für thermische Sanierung", nennt Rudas die wichtigsten Maßnahmen. "WIFO und OECD bestätigen: Die Regierung hat Österreich hervorragend durch die Krise gesteuert und setzt jetzt auf die notwendigen Reformen, die die Top-Position des Landes sichern."

 

 Foglar: Mit erweiterten Kennzahlen Politik treffsicherer machen
Wirtschaftlicher Erfolg ist mehr als BIP
Wien (ögb) - "Volkswirtschaftliche Kennzahlen über Wirtschaftsleistung, Produktivität, Beschäftigungsquoten und dergleichen geben ein Gesamtbild, sagen aber wenig darüber aus, wie es um Wohlstand, Verteilung, wirtschaftlichen Erfolg oder die Arbeitsplatzsituation einzelner Gruppen wirklich bestellt ist", sagt ÖGB-Präsident Erich Foglar zum vom WIFO präsentierten erweiterten Messkonzept für wirtschaftlichen Erfolg. "Den Blick zu erweitern ist ein richtiger Ansatz, um Ungleichheiten und Fehlentwicklungen aufzudecken und politische Schritte zu deren Beseitigung einleiten zu können."

Foglar begrüßt den Ansatz von immer mehr Wirtschaftsexperten, den heute auch das WIFO erläutert hat, dass die bisher gängigen Messzahlen alleine zu wenig sind, um daraus den wirtschaftlichen Erfolg einer Gesellschaft in seinen unterschiedlichen Facetten - und folglich die nötigen politischen Maßnahmen, ableiten zu können. "Österreich gehört zu den zehn reichsten Staaten der Erde, das heißt aber noch lange nicht, dass wir keine Armut haben oder unsere Systeme der sozialen Sicherheit zurückschrauben können", bringt Foglar ein Beispiel.

"Gesamtzahlen in Verbindung mit spezifischen Daten zu betrachten ist genau jene Vorgangsweise, die Gewerkschaften bei den jährlichen Lohn- und Gehaltsverhandlungen wählen", sagt Foglar. "Neben der Entwicklung der Produktivität und der Inflation wird auch ein genauer Blick auf die Situation der Branchen, für die gerade verhandelt wird, geworfen. Nur so können die Gewerkschaften für bestimmte Bereiche oder Gruppen konkrete Forderungen ableiten, zum Beispiel das stärkere Anheben von niedrigen Einkommensgruppen und Frauenlöhnen, oder Weiterbildungsmaßnahmen in Branchen, die sich technologisch rasch weiterentwickeln."

Der Ansatz, die Messzahlen zur Beschreibung des Zustands und der Entwicklung einer Volkswirtschaft zu erweitern, sei ganz besonders in verteilungspolitischen Fragen wichtig, sagt Foglar. "In der Frage von mehr Steuergerechtigkeit wird gerne behauptet, wir seien schon ein Hochsteuerland. Das ist korrekt, wir sind ein Hochsteuerland, was die Arbeitseinkommen betrifft, die den größten Teil der Steuerlast tragen. Jene, die gegen einen Systemwechsel im Steuersystem sind - weniger Belastungen auf Arbeit, mehr Beiträge von großen Vermögen - tragen am wenigsten bei."

Foglar teilt die Analyse des WIFO, dass eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung nur möglich sei, wenn man möglichst vielen Menschen den Zugang zu Erwerbsarbeit erleichtert. "Beste Ausbildung ohne Barrieren, Abbau von geschlechts- und herkunftsbedingten Unterschieden in der Arbeitswelt, mehr Frauen in Beschäftigung - das alles sind politische Maßnahmen, die sich aus einer erweiterten Betrachtung der wirtschaftlichen Kennzahlen unweigerlich ergeben", so Foglar.
     

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