Österreich auf dem Prüfstand erweiterter Wohlfahrtsmaße
Wien (wifo) - Nicht nur die Ökonomie hinterfragt die Bedeutung des Bruttoinlandsproduktes (BIP)
als alleinige Maßzahl für Wohlstand und Lebensqualität eines Landes. Für einige zusätzliche
Indikatoren, wie sie eine umfassende und differenzierte Sicht auf den Erfolg der Wirtschaftspolitik erfordert,
legt das WIFO einen Vergleich über ein Jahrzehnt und über die EU-Länder vor. Demnach nimmt Österreich
innerhalb der EU nicht nur gemessen am BIP, sondern auch in Bezug auf das Nettonationaleinkommen und Indikatoren
zur Lebensqualität und zu den materiellen Lebensbedingungen eine gute Position ein. Der Vergleich über
die Zeit hinweg deckt allerdings Schwächen auf, etwa im Umweltbereich. Um die gute Position Österreichs
zu halten und auszubauen, sind zügige Reformschritte nötig.
Vom Bruttoinlandsprodukt zum Pro-Kopf-Nettonationaleinkommen
Im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) werden neben dem BIP weitere Kennzahlen ermittelt, die
eine genauere und aussagekräftigere Sicht auf den Erfolg der Wirtschaftspolitik ermöglichen:
- Jener Teil der Produktion, der in den Erhalt des Kapitalstocks fließt (Abschreibungen), erhöht den
Wohlstand nicht. Unter diesem Gesichtspunkt liefert der Indikator "Nettoinlandsprodukt (NIP)" ein aussagekräftigeres
Bild.
- Teile der Produktion fließen in Form von Gewinnen und Löhnen als Faktoreinkommen ins Ausland ab,
sodass die gesamtwirtschaftliche Produktion nicht vollständig dem Inland als Einkommen zur Verfügung
steht. Monetäre Transfers vom und an das Ausland müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Die so
berechnete Kennzahl "verfügbares Nettonationaleinkommen" misst daher zutreffender, welches Einkommen
der Bevölkerung in einem Land für Konsum, Zusatzinvestitionen und Sparen zur Verfügung steht.
- Da Produktionskapazität und Nachfrage einer Volkswirtschaft mit steigender Bevölkerung zunehmen,
ist im Ländervergleich die Betrachtung von Pro-Kopf-Einkommen sinnvoll.
Wieweit die Messung der Wirtschaftsentwicklung durch diese Indikatoren von jener durch das BIP abweicht, zeigen
die folgenden Beispiele:
- Vergleich Irland-Österreich: Irlands BIP stieg zwischen 2000 und 2010 real um 2,5% pro Jahr (Österreich
+1,5% p. a.). Bereinigt um das Bevölkerungswachstum, d. h. pro Kopf, beträgt dieser Anstieg nur 0,9%
pro Jahr (Österreich +1,1% p. a.). Das real verfügbare Nettonationaleinkommen stagnierte aber in diesem
Zeitraum in Irland praktisch (+0,1% pro Jahr). Auch in Österreich zeigt diese Kennzahl aufgrund der Bevölkerungszunahme
mit +1,0% (2000/2010) ein etwas niedrigeres Wirtschaftswachstum an als das BIP; der Unterschied ist aber wegen
der relativ niedrigeren Einkommens- und Transferflüsse ins Ausland geringer als in Irland.
- Vergleich USA-Japan: Für die USA ergibt sich unter Berücksichtigung des starken Bevölkerungswachstums
bei einer Zunahme des BIP um real 1,7% eine Steigerung des BIP pro Kopf um nur 0,7% pro Jahr. Der Anstieg entsprach
damit genau jenem in Japan, dessen Bevölkerung im Untersuchungszeitraum stagnierte. Das reale verfügbare
Nettonationaleinkommen erhöhte sich in beiden Ländern noch schwächer, und zwar um 0,4% in den USA
und um 0,5% in Japan.
Lebensqualität und materielle Lebensbedingungen
Im Jahr 2010 waren in Österreich 71,7% der Bevölkerung im Erwerbsalter beschäftigt; dies
war der vierthöchste Wert in der EU 27. Zur guten Position Österreichs trägt primär die vergleichsweise
hohe Erwerbsintegration von Männern bei (zweithöchster Wert der EU 27). Bezüglich der Beschäftigungsquote
der Frauen liegt Österreich auf dem 5. Rang.
Allerdings sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Beschäftigungsquote in Österreich nach
wie vor hoch. Die Quote der Männer ist um 10,7 Prozentpunkte höher als die der Frauen. Damit liegt Österreich
unter den Ländern der EU 27 nur auf dem 15. Rang. Auch hinsichtlich der Arbeitsmarktintegration der Älteren
nimmt Österreich trotz des Aufholprozesses stets eine Position im Mittelfeld der EU 27 ein.
Die Arbeitslosenquote ist in Österreich mit 4,4% die niedrigste innerhalb der EU 27. Über die tatsächlichen
Lebensbedingungen und Lebenschancen geben Beschäftigungsindikatoren aber nicht ausreichend Aufschluss. Dazu
bedarf es zusätzlicher Informationen zu qualitativen Aspekten und zur Verteilung:
- Kennzahlen zur Einkommensverteilung der Haushalte zeigen zwischen 2000 und 2009 eine leichte Zunahme der Ungleichheit
der Verteilung.
- Das Armutsgefährdungsrisiko (nach Sozialtransfers) verringerte sich zwischen 2000 und 2009, Österreich
rückte vom 9. auf den 5. Rang vor. Dennoch gelten nach wie vor 12% der Bevölkerung als armutsgefährdet.
Würde die Sozialpolitik durch Transfers nicht gegensteuern, wären 2009 doppelt so viele Menschen armutsgefährdet
gewesen.
Ressourcenverbrauch und Emissionen
Österreich setzt im EU-27-Vergleich viel an physischen Ressourcen ein, um sein hohes Wohlstandsniveau
zu erreichen. Zwar erhöhte sich der Einsatz der physischen Ressourcen wie etwa Erze, Gestein und Biomasse
geringfügig schwächer als das reale Bruttoinlandsprodukt, die erwünschte Situation einer wachsenden
Wirtschaft bei gleichbleibendem Materialeinsatz wurde aber bei weitem nicht erreicht. Andere EU-Länder sind
auf diesem Weg viel erfolgreicher.
Österreich zählt zu den Ländern mit dem geringsten Ausstoß von Treibhausgasen bezogen auf
das BIP. Die Ziele aus der EU-Klimapolitik konnten allerdings bisher nicht realisiert werden. Am deutlichsten ist
die Abweichung in Bezug auf die Emissionen von Treibhausgasen: Das Kyoto-Protokoll gibt eine Verringerung der Emissionen
um 13% des Niveaus von 1990 im Durchschnitt der Jahre 2008/2012 vor, tatsächlich war der Ausstoß im
Jahr 2009 um 16,4% höher als die Zielvorgabe (2009: 80,1 Mio. t; Zielvorgabe 2008/2012: 68,8 Mio. t p. a.).
Zu den Erfolgen zählt der hohe Anteil der erneuerbaren Energie am Gesamtverbrauch. Generell nimmt Österreich
hinsichtlich der meisten Umweltindikatoren eine gute Position ein, kann aber den einstigen Vorsprung nicht halten
und büßt damit auch Marktchancen im Bereich der Umwelttechnologien ein, die eine führende Position
mit sich bringen würde.
Zum Halten und Ausbau der guten Stellung Österreichs bedarf es zügiger Reformschritte
Eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung ist nur möglich, wenn die Kapitalstöcke einer Volkswirtschaft
bewahrt und ausgebaut werden: die natürlichen Ressourcen, das vom Menschen geschaffene Kapital wie etwa Infrastruktur,
das Humankapital und das Sozialkapital. Österreich ist nicht allzu reich mit natürlichen Ressourcen ausgestattet.
Zuwächse der Wirtschaftsleistung und des Einkommens können daher nur von einer wohlüberlegten Balance
zwischen Investitionen in Sachkapital und der Steigerung und besseren Nutzung des Sozial- und Humankapitals kommen.
Dazu zählt, möglichst vielen Menschen, vor allem Frauen, den Zugang zur Erwerbstätigkeit zu erleichtern,
sie möglichst lange in Beschäftigung zu halten, durch Abbau geschlechts- und herkunftsspezifischer Barrieren
sowie durch Investitionen in bessere Bildung und durch eine Steigerung der Ressourcen- und Energieeffizienz der
Kapitalstöcke ein überdurchschnittliches Einkommen zu ermöglichen.
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Rudas: Österreich auch bei Lebensqualität und Wohlstand top
WIFO-Studie bestätigt Regierungspolitik: In Beschäftigung, Bildung, neue Energieformen
investieren
Wien (sk) - Das Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) hat heute eine Studie präsentiert, die die materiellen
Lebensbedingungen und die Lebensqualität in Österreich abseits des reinen BIP misst. Demnach nimmt das
Land auch beim "verfügbaren pro-Kopf-Nettonationaleinkommen" eine sehr gute Position ein. Für
SPÖ-Bundesgeschäftsführerin Laura Rudas ist die WIFO-Studie - so wie auch der jüngste OECD-Länderbericht
- Beleg für die richtige Politik der Regierung Faymann. "Die von der SPÖ geführte Regierung
hat in der Krise so gegengesteuert, dass wir jetzt eine hervorragende Ausgangsbasis für den Aufschwung haben",
so Rudas gegenüber dem Pressedienst der SPÖ.
Es sei grundsätzlich gut, dass das WIFO das Bruttoinlandsprodukt als alleinige Maßzahl für Wohlstand
hinterfragt und mit erweiterten Indikatoren misst, ob der Wohlstandszuwachs auch bei den Menschen ankommt, ob Verteilung
und Lebensbedingungen gerecht sind. Das WIFO zeigt dabei, dass Österreich erstens im EU-Vergleich hervorragend
liegt, und dass zweitens die Regierung auf die richtigen Reformen setzt.
So empfiehlt die Studie, Frauenbeschäftigung zu fördern, in Bildung und in erneuerbare Energien zu investieren
und auf Verteilungsgerechtigkeit zu achten. "Genau das sind auch die Schwerpunkte der Regierung Faymann: Ausbau
von Kinderbetreuungsplätzen und Ganztagsbetreuung in der Schule, Oberstufe Neu, Ausbau der Neuen Mittelschule,
Ökostromförderung, Offensivmittel für thermische Sanierung", nennt Rudas die wichtigsten Maßnahmen.
"WIFO und OECD bestätigen: Die Regierung hat Österreich hervorragend durch die Krise gesteuert und
setzt jetzt auf die notwendigen Reformen, die die Top-Position des Landes sichern." |
Foglar: Mit erweiterten Kennzahlen Politik treffsicherer machen
Wirtschaftlicher Erfolg ist mehr als BIP
Wien (ögb) - "Volkswirtschaftliche Kennzahlen über Wirtschaftsleistung, Produktivität,
Beschäftigungsquoten und dergleichen geben ein Gesamtbild, sagen aber wenig darüber aus, wie es um Wohlstand,
Verteilung, wirtschaftlichen Erfolg oder die Arbeitsplatzsituation einzelner Gruppen wirklich bestellt ist",
sagt ÖGB-Präsident Erich Foglar zum vom WIFO präsentierten erweiterten Messkonzept für wirtschaftlichen
Erfolg. "Den Blick zu erweitern ist ein richtiger Ansatz, um Ungleichheiten und Fehlentwicklungen aufzudecken
und politische Schritte zu deren Beseitigung einleiten zu können."
Foglar begrüßt den Ansatz von immer mehr Wirtschaftsexperten, den heute auch das WIFO erläutert
hat, dass die bisher gängigen Messzahlen alleine zu wenig sind, um daraus den wirtschaftlichen Erfolg einer
Gesellschaft in seinen unterschiedlichen Facetten - und folglich die nötigen politischen Maßnahmen,
ableiten zu können. "Österreich gehört zu den zehn reichsten Staaten der Erde, das heißt
aber noch lange nicht, dass wir keine Armut haben oder unsere Systeme der sozialen Sicherheit zurückschrauben
können", bringt Foglar ein Beispiel.
"Gesamtzahlen in Verbindung mit spezifischen Daten zu betrachten ist genau jene Vorgangsweise, die Gewerkschaften
bei den jährlichen Lohn- und Gehaltsverhandlungen wählen", sagt Foglar. "Neben der Entwicklung
der Produktivität und der Inflation wird auch ein genauer Blick auf die Situation der Branchen, für die
gerade verhandelt wird, geworfen. Nur so können die Gewerkschaften für bestimmte Bereiche oder Gruppen
konkrete Forderungen ableiten, zum Beispiel das stärkere Anheben von niedrigen Einkommensgruppen und Frauenlöhnen,
oder Weiterbildungsmaßnahmen in Branchen, die sich technologisch rasch weiterentwickeln."
Der Ansatz, die Messzahlen zur Beschreibung des Zustands und der Entwicklung einer Volkswirtschaft zu erweitern,
sei ganz besonders in verteilungspolitischen Fragen wichtig, sagt Foglar. "In der Frage von mehr Steuergerechtigkeit
wird gerne behauptet, wir seien schon ein Hochsteuerland. Das ist korrekt, wir sind ein Hochsteuerland, was die
Arbeitseinkommen betrifft, die den größten Teil der Steuerlast tragen. Jene, die gegen einen Systemwechsel
im Steuersystem sind - weniger Belastungen auf Arbeit, mehr Beiträge von großen Vermögen - tragen
am wenigsten bei."
Foglar teilt die Analyse des WIFO, dass eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung nur möglich sei, wenn man
möglichst vielen Menschen den Zugang zu Erwerbsarbeit erleichtert. "Beste Ausbildung ohne Barrieren,
Abbau von geschlechts- und herkunftsbedingten Unterschieden in der Arbeitswelt, mehr Frauen in Beschäftigung
- das alles sind politische Maßnahmen, die sich aus einer erweiterten Betrachtung der wirtschaftlichen Kennzahlen
unweigerlich ergeben", so Foglar. |