Rede von Jürgen Stark, Mitglied des Direktoriums der EZB, Österreichische Bankwissenschaftliche
Gesellschaft, 15. September 2011
Wien (ecb) - Die Ausgangsfrage im Titel meines heutigen Vortrags lautet: Die Finanz- und Schuldenkrise:
Wo stehen wir? Bedauerlicherweise muss die kurze Antwort auf diese Frage lauten: noch immer mitten drin.
Die Krise nahm, wie Sie wissen, ihren Ursprung im Sommer 2007 in den Finanzmärkten auf der anderen Seite des
Atlantiks und hatte mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 ihren ersten Höhepunkt.
Die Finanzkrise führte sodann 2009 zu einer wirtschaftlichen Kontraktion in praktisch allen industrialisierten
Ländern. 2010 erholte sich das Wirtschaftswachstum wieder, es kamen jedoch akute Haushaltskrisen in vereinzelten
Ländern des Euroraums hinzu. Und heute stellen unsolide Staatsfinanzen ihrerseits eine Quelle systemischen
Risikos für die Stabilität der europäischen und internationalen Finanzmärkte dar. Dies stellt
uns vor große wirtschaftspolitische Herausforderungen.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, bedarf es entschlossenen politischen Handelns. Jedoch sollten sich alle
Maßnahmen, die wir zur Beendigung der Finanz- und Schuldenkrise in Europa ergreifen, an Prinzipien orientieren,
die die langfristige wirtschaftliche Stabilität im Euroraum sicherstellen. Es ist wenig gewonnen, wenn wir
durch unreflektiertes Handeln auf europäischer Ebene zwar kurzfristig den Druck in den Märkten lindern,
dadurch aber die langfristige Stabilität und somit ultimativ auch das Bestehen der Wirtschafts- und Währungsunion
(WWU) aufs Spiel setzen.
Die folgenden drei Elemente halte ich für die langfristige Stabilität der WWU für essentiell:
- Erstens, eine Geldpolitik, die unabhängig und uneingeschränkt ihr Mandat zur Wahrung der Preisstabilität
erfüllen kann. Die Wahrung von Preisstabilität und die solide Verankerung der Inflationserwartungen im
Euroraum, ist der wichtigste Beitrag den die EZB nicht nur zur Bewältigung der Krise, sondern generell für
Wachstum und Beschäftigung leisten kann. Für diese Aufgabe ist die EZB demokratisch legitimiert.
- Zweitens, benötigt der Euroraum ein effektives wirtschaftspolitisches Koordinierungssystem zur Überwachung
der fiskal- und strukturpolitischen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten. Die jüngste Krise hat eindrucksvoll
gezeigt, wie wirtschaftliche Ungleichgewichte in einem stark integrierten Währungsgebiet die Stabilität
eines gesamten Wirtschaftsraums bedrohen können.
- Und drittens, muss für eine stärkere politische und wirtschaftliche Integration des Euroraums sichergestellt
werden, dass diese Integrationsschritte Anreize für eine stabilitätsorientierte Wirtschafts- und Haushaltspolitik
in den Mitgliedsstaaten stärken und nicht schwächen.
Lassen Sie mich im Folgenden zunächst die Rolle der EZB in der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise
skizzieren. Ferner möchte ich die Schritte insbesondere hinsichtlich einer Reform der wirtschaftspolitischen
Koordinierungsinstrumente beleuchten, die die europäische Staatengemeinschaft in Reaktion auf die Finanz-
und Wirtschaftskrise unternommen hat. Schließlich werde ich auf die anhaltende Staatsschuldenkrise in einigen
Mitgliedsstaaten des Euroraums eingehen und erläutern, welche Maßnahmen aus Sicht der EZB zu ihrer Lösung
notwendig sind.
Die Rolle der EZB bei der Krisenbewältigung
Welche Rolle hat die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in der Krise oder besser gesagt in der
Krisenbekämpfung gespielt? Ich kann ihnen versichern, dass die EZB seit Beginn der Turbulenzen an den Finanzmärkten
im August 2007 einen sehr wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise im Rahmen ihres
Mandats und ihrer Möglichkeiten geleistet hat.
So hat der EZB-Rat in Anbetracht der Schwere der Finanzkrise und dem damit verbundenen abnehmenden Inflationsdruck
die EZB-Leitzinsen von Oktober 2008 bis Mai 2009, also in nur 7 Monaten, um 325 Basispunkte gesenkt. Der Zins für
die Hauptfinanzierungsgeschäfte wurde dabei auf das historisch niedrige Niveau von nur 1% ermäßigt,
und auf diesem Niveau für nahezu zwei Jahren belassen. Ein derart niedriges Niveau hatte es seit Jahrzehnten
in keinem der Euroländer gegeben.
Im Zuge unseres aktiven Krisenmanagements haben wir zudem eine Reihe von unkonventionellen Maßnahmen getroffen.
So waren wir am 9. August 2007 die erste Zentralbank weltweit, die auf die entstehenden Turbulenzen an den Finanzmärkten
sofort und entschieden reagiert hat. Seitdem haben wir weitere Maßnahmen ergriffen, um die Durchschlagskraft
unserer Geldpolitik zu erhöhen, da die Finanzmärkte nicht mehr richtig funktioniert haben. Da die Störungen
an den Finanzmärkten die Finanzierungsbedingungen von Banken, aber auch privaten Unternehmen und Haushalten,
verschlechtert haben, und die Kreditströme im Euroraum blockierten, war die geldpolitische Transmission behindert.
Die Sondermaßnahmen haben hauptsächlich auf den Bankensektor bzw. den Geldmarkt abgezielt, um der besonderen
Stellung der Banken im Wirtschaftssystem Rechnung zu tragen. Unter diese Sondermaßnahmen fallen die Refinanzierungsgeschäfte
mit vollständiger Zuteilung und längerer Laufzeit und Erweiterung des Katalogs der als Sicherheiten zugelassenen
Wertpapiere. In diesem Zusammenhang hat die EZB die normalerweise vom Geldmarkt ausgeübte Funktion als Intermediär
für die Liquiditätsversorgung der einzelnen Banken übernommen.
Solange notwendig, werden wir ein Liquiditätsmanagement betreiben, das dazu beitragen soll, funktionsfähige
Geldmärkte zu gewährleisten. Dies haben wir auch Anfang August mit unserer Entscheidung untermauert,
bis zumindest Ende 2011 weiterhin unbeschränkte Liquidität zum Festzins bereitzustellen und ein zusätzliches
längerfristiges Finanzierungsgeschäft mit einer Laufzeit von rund 6 Monaten durchzuführen.
Bei anhaltend hohem Liquiditätsüberschuss blieb in den letzten Wochen der Tagesgeldsatz mit rund 0.8%
in der Nähe des Zinssatzes für die Einlagenfazilität. Gleichzeitig ging infolge erneuter Spannungen
am Interbankenmarkt die Differenz zwischen unbesicherten und besicherten Geldmarktsätzen nach oben. Interpretiert
als Zeichen schwindenden Vertrauens der Banken untereinander erklärt diese Entwicklung die anhaltend hohe
Nachfrage nach Zentralbankliquidität.
Allerdings möchte ich auch unterstreichen, dass alle unsere Sondermaßnahmen im Einklang mit unserem
Ziel der Gewährleistung von Preisstabilität stehen. Sie sind zeitlich befristet und nur so lange gerechtfertigt,
wie außergewöhnliche Umstände es erfordern. Die Bereitstellung von Liquidität hilft solventen
Banken, vorübergehende Liquiditätsengpässe zu meistern. Das Problem einer möglicherweise zu
schwachen Kapitalisierung bestimmter Banken muss aber von den nationalen Regierungen gelöst werden.
Unsere Sondermaßnahmen haben entscheidend dazu beigetragen, die Lage der Banken zu stabilisieren und somit
die Kreditvergabe im Euroraum zu unterstützen. Müssten angesichts dieser Tatsache und hoher Bankenliquidität
die tatsächlichen Zuwachsraten bei den Krediten an private Haushalte nicht wesentlich höher sein, als
die zurzeit mageren 2½%? Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig zu verstehen, dass die relativ geringen
aktuellen Kreditwachstumsraten von zwei Hauptfaktoren bestimmt werden, die zurzeit in unterschiedliche Richtungen
wirken.
Auf der einen Seite spielt der Konjunkturverlauf für die Dynamik der Kreditentwicklung eine Rolle. Die derzeitige
Ausweitung bei der Kreditvergabe der Banken und anderer Finanzinstitutionen an private Haushalte und Unternehmen
steht weitgehend im Einklang mit Entwicklungen, die in vergangenen Konjunkturzyklen beobachtet wurden. In der Tat
entspricht die aktuelle Kreditentwicklung im Euroraum im Großen und Ganzen dem derzeitigen Stand im Konjunkturzyklus,
berücksichtigt man das typischen zeitliche Verlaufsmuster für die Kreditvergabe und der konjunkturellen
Entwicklung.
Auf der anderen Seite sind relative Bestandsgrößen entscheidend für das Kreditwachstum. So ist
die derzeitige Kreditexpansion als relativ langsam einzuschätzen im Vergleich zum aktuellen Einkommen. Vor
dem Hintergrund der Staatsschuldenkrise dürften das immer noch hohe Verschuldungsniveau steigende, aber insgesamt
noch günstige Finanzierungskosten, verschärfte Anforderungen an die Kreditvergabe und ein hohes Maß
an Unsicherheit das Kreditwachstum derzeit dämpfen.
Dies gilt insbesondere für die Länder, die vor dem Ausbruch der Krise ein sehr dynamisches Kreditwachstum
verzeichneten und in denen sich finanzielle und makroökonomische Ungleichgewichte aufgebaut haben. Zwar wurden
diese Übertreibungen schon teilweise korrigiert, doch das Verhältnis von Schulden der privaten Haushalte
und Firmen gemessen an ihrem Einkommen ist weiterhin hoch. Dies deutet nach wie vor auf die Notwendigkeit eines
weiteren Schuldenabbaus ( deleveraging) hin, was weiterhin das Kredit- und Geldmengenwachstum dämpfen dürfte.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die vor der Krise aufgebaute monetäre Liquidität trotz einiger Anpassungen
immer noch reichlich ist. Zugleich ist davon auszugehen, dass angesichts der Krise ein Großteil der monetären
Liquidität aus Vorsichtsgründen gehalten wird und nicht zu Transaktionszwecken.
Im Rahmen unserer Politik müssen wir auch im Auge behalten, dass eine Geldpolitik, die über einen sehr
langen Zeitraum die Zinsen auf zu niedrigem Niveau behält und gleichzeitig ein hohes Maß an Liquidität
bereitstellt, potentielle Gefahren hervorrufen kann. Anhaltend niedrige Zinsen und eine reichliche Liquiditätsausstattung
können die notwendigen Anpassungsmaßnahmen in den Bilanzen von Banken, Firmen und privaten sowie öffentlichen
Haushalten verzögern oder verhindern. Sie setzten negative Anreizeffekte, was wiederum das Wirtschaftwachstum
mittelfristig bremst.
Überreichliche Liquidität bei niedrigen Zinsen kann zudem zu einer zu niedrigen Einpreisung von Risiken
und einer übersteigerten und letztlich unverantwortlichen Risikobereitschaft auf Seiten der Investoren führen.
Eine lange Periode sehr niedriger Zinsens kann somit die Basis für neue finanzielle und ökonomische Ungleichgewichte
legen. Und wir haben global extrem niedrige Zinsen und eine regelrechte Liquiditätsschwemme.
In der Tat besteht Einigkeit darüber, dass die Finanzkrise zum Teil ihre Ursache in dem weltweit sehr niedrigem
Zinsniveau nach dem Platzen der Internetblase im Jahre 2001 und der daraus resultierenden reichlichen Liquiditätsausstattung
auf globaler Ebene hat. Eine vorausschauende und mittelfristig ausgerichtete Geldpolitik muss solche Risiken berücksichtigen.
Bei all unserem Tun müssen wir uns an nichts anderes als an unser Mandat, die Gewährleistung von Preisstabilität,
orientieren.
In diesem Zusammenhang ist zu sehen, dass der EZB-Rat Anfang April diesen Jahres und nochmals Anfang Juli die EZB-Leitzinsen
um jeweils 25 Basispunkte angehoben hat. Eine Anpassung des bis dato ausgesprochen akkomodierenden geldpolitischen
Kurses war notwendig, um die Inflationserwartungen innerhalb des Eurogebiets fest auf einem stabilitätskonformen
Niveau zu verankern. Insbesondere gilt es zu vermeiden, dass die durch stark ansteigende Rohstoffpreise ausgelösten
hohen Teuerungsraten, die wir seit Ende letzten Jahres beobachten, sich in einem länger andauernden Inflationsprozess
niederschlagen. Auch weiterhin wird der EZB-Rat alle Entwicklungen sehr genau beobachten.
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Die Architektur der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
Lassen Sie mich nun auf die Reform der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion zu sprechen
kommen und folgende Fragen voranstellen: Inwiefern sind die Ursachen der Krise im Euroraum in der Architektur der
europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu suchen? Wie sind die jüngsten Reformen der wirtschaftspolitischen
Steuerungsinstrumente zu bewerten?
Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich kurz auf die Gründe der Finanz- und Schuldenkrise eingehen.
Die Elemente der Krise sind zwar auf komplexe Weise miteinander verknüpft, haben aber doch unterschiedliche
primäre Ursachen.
Zu den Schlüsselfaktoren, die zunächst zu der destruktiven Finanzmarktvolatilität der vergangenen
Jahre geführt hat, zählt eine weit verbreitete Fehlbewertung finanzieller Risken, verbunden mit dem Einzug
immer undurchsichtigerer Finanzprodukte. Die Verantwortung für die Krise nur auf Finanzmarktakteure abzuwälzen
wie dies häufig getan wird greift jedoch zu kurz. Marktteilnehmer verhalten sich letztlich gemäß
der Anreize, die ihnen von den aufsichtsrechtlichen Behörden gesetzt werden. Klar ist heute, dass die Regulierung
und Aufsicht der Finanzmärkte auf europäischer und globaler Ebene unzureichend war, um ein nachhaltiges
Handeln in den Finanzmärkten sicherzustellen. Gleichzeitig fanden systemische Risiken im globalen Finanzsystem
nicht genug Beachtung, obwohl einige Beobachter darunter auch die EZB bereits Anfang 2006 vor möglichen,
starken Korrekturen in den Finanzmärkten gewarnt hatten.
Darüber hinaus brachte der Verlauf der Krise eine erhebliche Belastung für die Staatsfinanzen praktisch
aller industrialisierten Länder mit sich. Die haushaltswirksamen Effekte automatischer Stabilisatoren in den
Steuer- und Sozialleistungssystemen, die Konjunkturpakete, die von den Regierungen geschnürt wurden, um dem
Wirtschaftsabschwung entgegenzuwirken, und die Maßnahmen zur Stützung des Finanzsektors wirkten sich
negativ auf die Haushaltslage der Länder aus.
Fraglos hat also die Finanz- und Wirtschaftskrise zu den Haushaltsproblemen einiger Mitgliedsstaaten beigetragen.
Lassen Sie mich hier jedoch jedes Missverständnis aus dem Weg räumen: Die Haushaltskrise in Ländern
des Euroraums ist nicht primär auf die vorangehende Finanz- und Wirtschaftskrise zurückzuführen.
Es gibt hier keine unschuldigen Opfer der Krise. Denn viele Mitgliedsstaaten des Euroraums hatten bereits vor der
Krise große Ungleichgewichte in ihren Haushalten und anderen makroökonomischen Bereichen aufgebaut.
Die Probleme sind also in vielen Fällen hausgemacht.
Klar ist heute, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt der haushaltspolitische Überwachungsmechanismus
zur Gewährleistung von Stabilität in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion den
Regierungen nicht genügend Anreize einschließlich Sanktionen zu einer stabilitätsorientieren
Finanz- und Wirtschaftspolitik geboten hat. Dies ist insbesondere für die Zeit ab 2003 zutreffend, als Deutschland
und Frankreich sich weigerten, die Regeln anzuwenden. Und dies gilt insbesondere ab 2005, nachdem eine Reform des
Stabilitätspaktes zu einem Mehr an politischer Diskretion und Flexibilität geführt hat. Die EZB
hat sich seinerzeit höchst kritisch über die negativen Auswirkungen dieser Reformen auf das Funktionieren
der Wirtschafts- und Währungsunion geäußert.
Um auf meine eingangs gestellte Frage zurückzukommen, inwiefern die Ursachen der Krise im Euroraum in der
Architektur der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu suchen sind, so lautet die Antwort:
- die Konvergenzkriterien wurden zu lax angewandt,
- die Haushaltsregeln wurden nicht beachtet und letztlich bis zur Unkenntlichkeit verwässert.
Insgesamt war der Mechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht ausreichend, um die Tragfähigkeit
der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. Diese und das wissen wir nicht erst seit den Turbulenzen der
letzten Jahre ist aber absolut notwendig. Solide und ausgeglichene Staatsfinanzen mit ausreichenden Sicherheitsmargen
erlauben nicht nur, dass automatische Stabilisatoren ihre Wirkung entfalten können, sondern lassen den Regierungen
auch finanzielle Spielräume, in schwereren Wirtschaftskrisen wirkungsvoll eingreifen zu können.
Neben den unzureichenden Anreizen für eine solide Haushaltspolitik, haben dem Stabilitätspakt darüber
hinaus effektive Instrumente gefehlt, um makroökonomischen Ungleichgewichten, vor allem starke Abweichungen
in der Wettbewerbsfähigkeit, entgegenzuwirken. Bereits vor der Krise verzeichneten einige Länder des
Euroraums erhebliche binnen- und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und Inflationsraten, die dauerhaft
über dem Durchschnitt des Euroraums lagen. Diese Ungleichgewichte entwickelten sich vor allem auch aufgrund
von Lohn- und Gehaltsentwicklungen, die wesentlich stärker als die Produktivitätsgewinne stiegen. Die
resultierenden höheren Lohnstückkosten haben so der Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder geschadet.
Ausschlaggebend für diese Fehlentwicklung in einigen Ländern war, dass die Wirtschafts- und Strukturpolitik
insbesondere im Arbeitsmarkt nicht hinreichend auf die Mitgliedschaft in einer Währungsunion ausgelegt
war. Neben anderen wirtschaftspolitischen Faktoren mangelte es an der Umsetzung der notwendigen marktorientierten
Reformen.
Um dies weiter zu verdeutlichen: Während praktisch alle Industriestaaten in der Finanz- und Wirtschaftskrise
eine Rezession und ansteigende Arbeitslosigkeit erlitten, haben sich einige europäische Staaten schneller
erholt als andere. Insbesondere die Staaten, die verpasst haben, bereits vor der Krise dringend notwendige Strukturreformen
umzusetzen, verzeichneten auch nach der Krise schwächere Wachstumsaussichten und zunehmende Haushaltsprobleme.
Die grundlegenden Probleme resultierend aus unsoliden Staatsfinanzen und einem Mangel and wettbewerbsfähigen
Wirtschaften sind heute von den europäischen Regierungen besser verstanden, insbesondere die Tatsache, dass
die Lockerung des Stabilitäts- und Wachstumspakt durch die Reform von 2005 ein Irrweg war. In den vergangenen
Monaten wurden nicht unerhebliche Fortschritte bei der Reform unserer wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrumente
gemacht.
Die präventiven und korrektiven Komponenten des Stabilitätspaktes werden gestärkt. Nach Beschlüssen
des Europäischen Rates vom Oktober letzten Jahres soll der Pakt in seiner Anwendung wirksamer gestaltet werden.
Dazu sollen in Zukunft unter anderem über die Defizitregel hinaus die Staatsverschuldung und die Tragfähigkeit
der öffentlichen Finanzen stärker in den Blickpunkt der Überwachung rücken. Die Einhaltung
der Regeln soll, zum Beispiel durch neue Berichtspflichten für die Mitgliedstaaten, verbessert werden. Und
der Sanktionsmechanismus soll in Zukunft mehr Automatismus und weniger politische Diskretion bekommen.
Und es wird ein makroökonomisches Überwachungssystem eingeführt, das ökonomischen Ungleichgewichten
innerhalb des Euroraums aufdecken und ihnen entgegenwirken soll. Schon seit dem 1. Januar 2011 läuft das erste
Europäische Semester, das durch feste kalendarische Vorgaben zu einer Verstärkung der ex-ante Koordinierung
der Haushalts-, Makro- und Strukturpolitik führen soll.
Diese Reformen gehen aus Sicht der EZB noch nicht weit genug. Die jüngsten Reformen sind fraglos ein Schritt
in die richtige Richtung. Allerdings müssen die Anreize für Regierungen noch weiter gestärkt werden,
um eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben, die mit der Mitgliedschaft in einem Währungsraum
in Einklang steht.
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Erstens, müsste dazu der Automatismus in sämtlichen Überwachungs- und Sanktionsverfahren einschließlich
des Rahmens zur makroökomischen Überwachung weiter gestärkt werden. Mitgliedsstaaten, die sich
nicht an die Regeln des Gemeinwesens halten, müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und zwar mit so wenig
Spielraum für politische Diskretion und Flexibilität wie möglich.
Zweitens müssten die Sanktionsmechanismen weiter verschärft werden, um die Anreize für eine regelkonforme
Haushalts- und Wirtschaftspolitik zu erhöhen.
Drittens sollten die Zielvorgaben des Stabilitätspaktes verschärft werden, auch um Mitgliedsstaaten besser
auf schwere wirtschaftliche Schocks vorzubreiten. Die jüngsten Entwicklungen an den Anleihemärkten zeigen,
wie wichtig es ist, dass mittelfristige Haushaltsziele ambitionierter sind und eine ausgeglichene Haushaltsposition
schneller herbeigeführt wird.
Und viertens sollten die Haushaltsregeln als nationale Gesetze mit Verfassungsrang verabschiedet werden.
Die Finanzmarktregulierung und -aufsicht wurden sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene verschärft.
Wie Sie wissen, wurden dazu unter anderem den Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (European Systemic
Risk Board, ESRB) und das Europäische Finanzaufsichtssystem (European Supervisory Authorities, ESAs) eingerichtet.
Das Basel III Abkommen, welches die Liquiditätsanforderungen für Banken erhöht, befindet sich in
der Implementierungsphase. Dennoch: Die Regulierung der Bankensysteme und Finanzmärkte ist nur langsam fortgeschritten.
Dies liegt zum einen an der Komplexität der Materie, zum anderen am Widerstand wichtiger Finanzzentren.
Die Bewältigung der Haushaltskrise im Euroraum
Ich komme zur letzten Frage: Was muss zu einer Lösung der Staatsschuldenkrise im Euroraum getan werden?
Grundsätzlich müssen für den Staatsanleihenmarkt dieselben Regeln gelten, wie für jeden anderen
Bereich des Finanzmarktes auch. Investoren müssen Anreize haben, zwischen unterschiedlichen Kreditausfallrisiken
zu unterscheiden und einen angemessenen Risikoaufschlag auf ihre Investitionen zu verlangen.
Jedoch kommt bei dem Markt für Staatsanleihen eine starke systemische Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche
Stabilität hinzu. Die EZB hat aus diesem Grund früh gewarnt, dass ein ungeordneter Kreditausfall eines
Landes im Euroraum zu einer erneuten Finanzkrise führen könnte.
Vor diesem Hintergrund haben die europäischen Regierungen zusammen mit dem IWF seit Mai 2011 Hilfskredite
auf der Basis strikter Konditionalität an drei Staaten des Euroraums vergeben, die Schwierigkeiten haben,
sich am Markt zu finanzieren. Die Hilfsprogramme tragen dazu bei, einer ungeordneten Umschuldung in diesen Ländern
vorzubeugen, und ermöglichen den Ländern gleichzeitig, dringend notwendige Haushalts- und Strukturanpassungen
vorzunehmen.
In Politik und Medien werden derzeit weitergehende Maßnahmen diskutiert, um den jüngsten Ansteckungserscheinungen
der Haushaltskrise im Euroraum Einhalt zu gebieten. Vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen mit unsolider
Haushaltspolitik im Euroraum sind jedoch einige dieser Vorschläge beunruhigend kurzsichtig. Sie bergen die
Gefahr, den Marktmechanismus zu untergraben, der mit Risikoaufschlägen auf die Zinsen von Staatsanleihen
finanzpolitisch unvorsichtiger Staaten einen Anreizmechanismus für stabilitätsorientiere Haushaltspolitik
bietet. Gleichzeitig würden einige der vorgeschlagenen Maßnahmen wenig zur Lösung der Haushaltskrise
an sich beitragen.
Besonders problematisch ist im Hinblick auf Anreizkompatibilität der Vorschlag für Eurobonds, der jüngst
erneut aufgegriffen wurde.
Erstens, absorbieren anders als von Eurobond-Befürwortern dargestellt diese gemeinsam verbürgten
Staatsanleihen die Kosten einer Haushaltskrise nicht. Sie kaschieren sie lediglich. Die Kosten hoher Staatsschulden
würden nicht mehr von den Verursachern getragen, sondern von der Gemeinschaft der Mitgliedsstaaten. Eurobonds
implizieren so notwendigerweise einen Transfer von soliden Staaten, die vormals von niedrigeren Zinsen profitieren
konnten, an Staaten, die aufgrund unsolider Haushaltspolitik bisher einen höheren Zins bezahlen mussten.
Zweitens ist einfach nachzuvollziehen, dass mit einer Vergemeinschaftung von Staatsschulden im Euroraum Anreize
zur Haushaltsdisziplin wegfallen. Unsolide Haushaltspolitik geht nicht mehr individuell mit einer höheren
Risikoprämie einher. Was den Befürwortern als schnelle Lösung für die Staatsschuldenkrise im
Euroraum erscheint, würde so der langfristigen Stabilität des Euroraums erheblichen Schaden zugefügt.
Und drittens, ist vollkommen unklar, ob Eurobonds wirklich zu einer Überwindung der Schuldenkrisen beitragen
könnten. Sicher ist, dass zunächst nur ein Teil der Staatsschuld im Euroraum in gemeinschaftliche Anleihen
umgewandelt werden würde. Es ist aber fraglich, ob angesichts der derzeitig erhöhten Risikoaversion in
den Anleihemärkten überhaupt ein Markt für die verbleibenden, nationalstaatlichen und ungesicherten
Anleihen fortbestehen würde. Im schlimmsten Fall käme es zu einer Flucht aus diesen Schuldtiteln und
zu einer Verschärfung anstelle einer Entspannung der Haushaltskrise im Euroraum.
Kurzum, Eurobonds sind keine Lösung für die Schuldenkrise. Und auf absehbare Zeit sind sie auch kein
Modell für die Schuldenfinanzierung im Euroraum. Eurobonds setzen eine echte politische Union mit einem zentralen,
demokratisch legitimierten europäischen Finanzministerium voraus, das direkte Eingriffsrechte in die Fiskalpolitik
der Mitgliedsstaaten ausübt. Nur so könnte sichergestellt werden, dass alle Mitgliedsstaaten einen haushaltspolitisch
soliden Kurs einschlagen, der nicht zu permanenten Transfers und einer unkontrollierbaren Schuldenspirale führt.
Es gibt keine einfache, schnelle Lösung für die Schuldenkrise auf europäischer Ebene. Die Lösung
liegt bei den Regierungen der Mitgliedssaaten. Hier ist schnelles und entschiedenes Handeln gefordert.
Am 21. Juli diesen Jahres haben die Staats- und Regierungschefs weitere Modalitäten für Finanzhilfen
im Euroraum und eine Reform der Europäische Finanzstabilitätsfazilität (EFSF), insbesondere hinsichtlich
des Einsatzes zusätzlicher Instrumente, beschlossen. Die EFSF soll mit neuen Instrumenten, wie zum Beispiel
der Möglichkeit von Wertpapierankäufen am Sekundärmarkt, effektiver gemacht werden. Gleichzeitig
wäre es aber fatal, wenn diese Entscheidungen die Anreize der betroffenen Regierungen schwächen, ihre
Finanzposition nachhaltig zu verbessern. Deshalb muss sichergestellt werden, dass weitergehende Hilfsmaßnahmen
sei es in Form von Krediten oder Wertpapierankäufen auch weiterhin an strenge Konditionen für Haushalts-
und Strukturanpassungen geknüpft sind.
Konkret profitieren derzeit drei Länder des Euroraums Griechenland, Irland und Portugal von einem Hilfsprogramm
der EU und des IWF. Missionen zur Überprüfung der Programmländer zeigen, dass Irland und Portugal
gute Fortschritte hin zu einer Konsolidierung ihrer Staatsfinanzen und der Umsetzung dringend benötigter Strukturreformen
machen. Nun muss auch Griechenland seinen eingegangenen Verpflichtungen nachkommen und sein Wirtschafts- und Strukturanpassungsprogramm
rigoros umsetzen. Nur so kann es zu einer Umsetzung der von den Staats- und Regierungschefs am 21. Juli beschlossenen
Verlängerung der Hilfen für Griechenland kommen. Wenn Griechenland die Konditionen nicht erfüllt,
muss dies Konsequenzen haben!
Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass solide Haushaltspolitik und Strukturreformen nicht nur für Programmländer
wichtig sind. Die jüngsten Marktturbulenzen beweisen, dass alle Staaten des Euroraums die Finanzmärkte
davon überzeugen müssen, dass ihr wirtschaftspolitischer Kurs sie auf einen nachhaltigen Haushalts- und
Wachstumspfad bringen wird.
Dieser Weg zur Lösung der Schuldenkrise im Euroraum ist politisch und sozial alles andere als einfach. Aber
es gibt hier keine schmerzfreie Therapie. Mit den Finanzhilfen wird Zeit für die notwendige Anpassung gekauft.
Schluss
Ich komme zum Schluss. Die erste akute Phase der Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir, zumindest rückblickend,
relativ gut überstanden. Dazu beigetragen hat auch die EZB, die aufgrund der soliden Verankerung der Inflationserwartungen
im Euroraum akkomodierende Geldpolitik umsetzen und, darüber hinaus, beispiellose Maßnahmen zur Stabilisierung
der Finanzmärkte ergreifen konnte.
Noch ist die Krise nicht überwunden, insbesondere im Hinblick auf die mangelnde Solidität von Staatsfinanzen
in der Eurozone. Aber auch andere Industrienationen darunter insbesondere Japan, den Vereinigten Staaten und
Großbritannien haben mit hohen öffentlichen und privaten Schuldenständen zu kämpfen. Das
ist Anlass zu großer Sorge, denn von dieser Verschuldung gehen substantielle Risiken für die globale
Finanz- und Wirtschaftsstabilität aus. Die Probleme anderer Staaten dürfen jedoch nicht davon ablenken,
dass wir dringend unser eigenes Haus in Ordnung bringen müssen.
Die EU und die Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten haben einige wichtige erste Konsequenzen aus den Lehren der Finanz-
und Wirtschaftskrise gezogen. Die Finanzmarktregulierung und -überwachung wurde verschärft. Eine Stärkung
der wirtschaftspolitischen Instrumente auf europäischer Ebene zur Steuerung der Fiskal- und Strukturpolitik
in den Mitgliedsstaaten befindet sich derzeit im europäischen Gesetzgebungsverfahren.
Jetzt muss es darum gehen, die Haushaltskrise im Euroraum zu lösen, ohne dabei die Fortschritte hin zu einem
solideren wirtschaftspolitischen Steuerungssystem zu untergraben. Die akuten Haushaltsprobleme in einzelnen Mitgliedsstaaten
können nur von den Regierungen selber durch eine angemessene Haushaltskonsolidierung gelöst werden. Die
Vergemeinschaftung von Staatsschulden ist an dieser Stelle der vollkommen falsche Weg.
Dies soll aber nicht heißen, dass wir nicht gleichzeitig weitere Schritte zu einer tieferen wirtschaftlichen
und politischen Union in Europa gehen sollten. Ich begrüße sehr, dass einige führende europäische
Entscheidungsträger die Chance, die in der Krise liegt, nutzen wollen, um den Integrationsprozess voranzutreiben
und europäische Institutionen weiter zu stärken. Politisch betrachtet muss dieser Prozess aber durch
die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Staaten demokratisch legitimiert sein. Und aus ökonomischer
Perspektive, brauchen wir klare Anreize für solide Haushaltspolitik und wettbewerbsfähiges Wirtschaften.
Denn die wichtigste Lehre aus der Krise ist wohl, dass wir in Zukunft auf wirtschaftliche Schocks und Volatilität
besser vorbereitet sein müssen; in Europa und in jedem einzelnen Mitgliedsstaat. |