Erster Schritt zu europäischer Straftrechtspolitik    

erstellt am
20. 09. 11

Durch vernünftigen Einsatz des Strafrechts EU-Vorschriften besser durchsetzen und Steuergelder besser schützen
Brüssel (ec,europa) - Die Bekämpfung der Kriminalität ist den Unionsbürgern ein wichtiges Anliegen (siehe Anhang). Sie erwarten, dass es einem Straftäter nicht möglich sein soll, sich durch Flucht in einen anderen Mitgliedstaat der Justiz zu entziehen oder sich Unterschiede zwischen den nationalen Rechtssystemen zunutze zu machen. Dabei ist das Strafrecht als Betätigungsfeld der EU noch recht neu.

Es ist deshalb unerlässlich, eine klare europäische Strafrechtspolitik zu entwerfen, auf deren Grundlage die Europäische Union entscheiden kann, ob, wann und wie das Strafrecht im Interesse einer wirksameren Durchführung einer bestimmten Politik eingesetzt werden sollte. Der Vertrag von Lissabon ermöglicht dies, denn er sieht vor, dass die EU die Umsetzung einer Politik oder Regelung mithilfe des Strafrechts durchsetzen darf.

Strafrechtliche Sanktionen sind zwar nicht für alle Politikbereiche das optimale Durchsetzungsinstrument, doch können sie helfen, bestimmte EU-Regelungen, z. B. zur Verhinderung von Finanzmarktmanipulationen oder zum Schutz der EU-Steuergelder vor Betrug, besser durchzusetzen. Allerdings sollten sie nur bei besonders schweren Straftaten und nur nach einer eingehenden Prüfung eingesetzt werden.

In einer am 20.09. veröffentlichten Mitteilung mit dem Titel „Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik“ hat die Europäische Kommission erstmals ihre diesbezüglichen Strategien und Grundsätze dargelegt.

„Europas Bürger erwarten von der EU, dass sie bei der Verbrechensbekämpfung mithilft. Wir müssen uns dieser Aufgabe stellen, gleichzeitig aber auch der entscheidenden Rolle, die die nationalen Parlamente im Bereich des Strafrechts spielen, in vollem Umfang Rechnung tragen,“ so die Vizepräsidentin der Kommission und EU-Justizkommissarin Viviane Reding. „Der Vertrag von Lissabon stellt das nötige Instrumentarium bereit, um den Herausforderungen, die das Strafrecht an uns stellt, maßvoll und im Einklang mit den Grundrechten von Freiheit und Sicherheit begegnen zu können. Der neue Vertrag setzt aber auch klare Grenzen und sieht Kontrollen vor: Jeder Beschluss unterliegt der vollen demokratischen Kontrolle durch das Europäische Parlament und der Aufsicht durch die nationalen Parlamente, die im Beschlussfassungsprozess eine wichtige Stimme haben.“

Die Kosten, die der Gesellschaft insgesamt durch Straftaten entstehen, werden in der EU auf 233 Mrd. EUR jährlich geschätzt. Eine klar definierte EU-Strafrechtspolitik kann dazu beitragen, dass EU-Vorschriften in wichtigen Bereichen der EU-Politik – z. B. zur Verhinderung von Finanzmarktmanipulationen wie Insidergeschäften, zum Schutz des EU-Haushalts und damit des Gelds des Steuerzahlers vor Betrug oder zum Schutz der Umwelt – wirksam durchgesetzt werden.

In ihrer Mitteilung legt die Kommission dar, wie die Europäische Union und die Mitgliedstaaten gemeinsam eine kohärente, einheitliche EU-Strafrechtspolitik ins Leben rufen können.

Wichtige Leitprinzipien einer EU-Strafrechtspolitik:

  • Das Strafrecht darf nur als ultima ratio eingesetzt werden.
  • Strafrechtliche Sanktionen sind besonders schweren Straftaten vorbehalten.
  • Strafrechtliche Maßnahmen sind in Bezug auf die Grundrechte besonders heikel: Neue Strafrechtsvorschriften sind an die strikte Einhaltung der Grundrechte gebunden, wie sie in der EU-Grundrechtecharta und in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert sind.
  • Jeder Beschluss über die Art der zu erlassenden strafrechtlichen Maßnahme oder Sanktion muss sich auf klare Fakten stützen und den Grundsatz der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachten.


Strafrechtliche Maßnahmen, die das Europäische Parlament und der Ministerrat auf EU-Ebene erlassen, unterscheiden sich von nationalem Strafrecht in einem wichtigen Punkt: Sie können Einzelnen keine direkten Pflichten auferlegen. Strafrechtliche Vorschriften der EU können erst dann Sanktionen für den Einzelnen zur Folge haben, wenn sie von einem nationalen Parlament in einzelstaatliches Recht umgesetzt worden sind. Deshalb ist die Beteiligung der nationalen Parlamente an der EU-Strafgesetzgebung in den Augen der Europäischen Kommission auch so wichtig.

Hintergrund
Die EU ist im Bereich des Strafrechts seit über einem Jahrzehnt gesetzgeberisch tätig, um besser gegen Straftaten vorgehen zu können, die zunehmend international ausgerichtet sind und immer raffinierter werden. Die früheren Regelungen wurden allerdings ohne eine kohärente politische Grundlage ausgearbeitet und sind nicht immer wirksam umgesetzt worden. Im März 2010 hatte EU-Justizkommissarin Viviane Reding die Notwendigkeit eines ausgewogenen und kohärenten Konzepts für die Strafrechtspolitik erläutert und angekündigt, dass sie in dieser Richtung tätig werden wollte. Mit der heutigen Mitteilung „Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik“ kommt die Kommission dieser Ankündigung sowie diversen Aufforderungen aus Praxis und Lehre wie dem Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik aus dem Jahr 2009 nach, die auf ein kohärenteres Strafrechtskonzept auf EU-Ebene gerichtet sind.

Die Mitteilung wird dem Kollegium von Vizepräsidentin Viviane Reding im Einvernehmen mit Vizepräsident Siim Kallas und den Kommissionsmitgliedern Janez Potoc(nik, Olli Rehn, Michel Barnier und Algirdas Šemeta vorgelegt.

2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union in einem Grundsatzurteil, dass das Europäische Parlament und der Rat befugt sind, strafrechtliche Sanktionen zu beschließen, wenn diese wesentlich sind, um die Durchsetzung des EU-Rechts zu erleichtern. Der Vertrag von Lissabon (insbesondere die Artikel 83 und 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) ermächtigt die EU, unter bestimmten Voraussetzungen Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftatbeständen und Sanktionen in den Fällen einzuführen, in denen EU-Recht nicht effektiv durchgesetzt wird.

Der Vertrag von Lissabon hat auch den Rechtsrahmen für EU-Strafrechtsmaßnahmen verändert: Ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments können solche Maßnahmen nicht erlassen werden, und der Gerichtshof der Europäischen Union übt jetzt eine uneingeschränkte gerichtliche Kontrolle aus. Der neue Vertrag hat auch die Position der nationalen Parlamente ganz erheblich gestärkt, da sie zu Legislativentwürfen Stellung nehmen und die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes kontrollieren können. Der Rat kann einen Vorschlag annehmen, wenn die Mitgliedstaaten ihn mit qualifizierter Mehrheit unterstützen. Ein EU-Strafrecht erweist sich unter anderem in folgenden Bereichen als notwendig: Schutz der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte, Schutz des Euro vor Fälschung und Bekämpfung von Betrug im Zusammenhang mit EU-Geldern. Zu Letzterem hat die Kommission bereits im Mai konkrete Pläne vorgelegt.

Strafrechtsmaßnahmen der EU können definieren, welche Rechtsverstöße in der Europäischen Union als Straftat gelten. Sie können auch wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Strafen für solche Straftaten vorschreiben und z. B. für Geldstrafen oder Freiheitsentzug ein bestimmtes Strafmaß vorsehen. Dies kann ein wichtiges Instrument sein, um Straftäter abzuschrecken und neuen Straftaten vorzubeugen.

Bevor sie Legislativvorschläge in diesem Bereich vorlegt, wird die Kommission prüfen, ob strafrechtliche Maßnahmen erforderlich sind und – wenn ja – welche Maßnahmen am besten geeignet sind, um Probleme bei der Durchführung des EU-Rechts in einem bestimmten Politikbereich zu beheben. Die Kommission wird in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und dem Rat gemeinsame Standardformulierungen erarbeiten, die in der Strafgesetzgebung künftig verwendet sollen, um Kohärenz und Einheitlichkeit zu wahren. Sie wird darüber hinaus eine Expertengruppe einsetzen, die Fakten zur grenzübergreifenden Dimension bestimmter Straftaten oder zu grenzübergreifenden Wirkungen solcher Straftaten zusammentragen soll.

     
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