Evaluierungsbericht der Justizministerin liegt dem Parlament vor
Wien (pk) - Mit der Vorlage des Evaluierungsberichts zur Umsetzung des Strafprozessreformgesetzes
entspricht Justizministerin Beatrix Karl einer Entschließung des Nationalrats, in der um eine eingehende
Analyse der Auswirkungen der Reform des strafgerichtlichen Vorverfahrens ersucht wurde. Die Ergebnisse dieses Unterfangens,
die nun in Form eines rund 500 Seiten starken Buches vorliegen, gewähren dementsprechend tiefe Einblicke in
die Verfahrenswirklichkeit nach Inkrafttreten der Prozessreform.
Die Evaluierung erfolgte sowohl in Form einer quantitativen und qualitativen Analyse sowie einer Untersuchung des
rechtswissenschaftlichen Meinungsstandes. Dabei wurden 5.000 Akten systematisch ausgewertet, 86 Interviews mit
KriminalbeamtInnen, StaatsanwältInnen, RichterInnen und RechtsanwältInnen geführt und die zum reformierten
Strafverfahren veröffentlichten Fachbeiträge eingesehen.
Zur Notwendigkeit der Durchführung der Strafprozessreform
Kern der Strafprozessreform ist die Ablöse des Untersuchungsrichtermodells durch ein einheitliches Ermittlungsverfahren,
das unter Leitung der Staatsanwaltschaft in Kooperation mit der Kriminalpolizei geführt wird. Eine diesbezügliche
Veränderung des Prozedere war, wie der Bericht ausführt, notwendig geworden, da das Konzept des direkten
Einschreitens des Untersuchungsrichters scheitern musste: Es wurde deshalb auch niemals in der Intention des historischen
Gesetzgebers verwirklicht.
Obgleich die Judikatur aber bald zu einem weiteren Beweisbegriff fand und damit sämtliche Ermittlungen der
Sicherheitsbehörden als Beweis zuließ, blieb ein "unerträgliches Regelungsdefizit" zurück:
Die Art und Weise der Ermittlungen der Polizei wurden vor dem Hintergrund der Tatsache, dass diese Vorerhebungen
kein Strafverfahren darstellen sollten, keiner Regelung zugeführt. Dementsprechend waren in diesem Verfahrensstadium
auch keine Verteidigungsrechte für Verdächtigte vorgesehen, skizziert der Bericht.
Die Neuerungen im Überblick
Mit der Strafprozessreform, die am 1.1.2008 in Kraft trat, schuf der Gesetzgeber nicht nur ein einheitliches Ermittlungsverfahren
unter Leitung der Staatsanwaltschaft, sondern sorgte auch für eine klare Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft,
Kriminalpolizei und Gerichten. Mit der Übertragung der Ermittlungsaufgabe an die Exekutive, der nun auch zeitgemäße
Befugnisse zur Erfüllung dieser Aufgabe zur Verfügung stehen, trug man außerdem der Ermittlungsrealität
Rechnung. Die rechtliche Kompetenz der Staatsanwaltschaft, Ermittlungen zu steuern und auf das Verfahrensziel auszurichten,
wurde gestärkt, heißt es im Bericht.
Zentrale Rechtsschutzaufgaben fielen nach Reform des Strafprozesses an die Gerichte. Die Verteidigungsrechte wurden
außerdem durch Schaffung des materiellen Beschuldigtenbegriffs ausgebaut. Was das Opfer anbelangt, so erfuhr
es eine Aufwertung zum Subjekt des Verfahrens mit eigenständigen Verfahrensrechten.
Zentrale Ergebnisse der quantitativen Analyse
Um ihre neue Leitungspflicht entsprechend wahrnehmen zu können, muss die Staatsanwaltschaft von Straftaten,
die Gegenstand eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens sind, auch Kenntnis erlangen. Daher bestehen für
die Kriminalpolizei gewisse Berichtspflichten, die mit der Schwere der vorgeworfenen Tat korrelieren.
Bei den strafbaren Handlungen, deren Aburteilung den Landesgerichten obliegt, wurde in 80 % Fälle jedoch keine
Anlassberichterstattung verzeichnet, sodass der Staatsanwaltschaft (StA) die "Anzeige" erst durch den
Abschlussbericht zur Kenntnis gebracht wurde. Dies legt nahe, dass bis dahin für die StA keine Möglichkeit
bestand, in das Verfahren gestaltend einzugreifen. Relativiert wird dieser Befund allein dadurch, dass diesbezügliche
Informationen auch durch persönliche und telefonische Kontakte weitergegeben werden können: Gehe man
von einem solch weiten Kommunikationsbegriff aus, so gelange man schließlich zum Ergebnis, dass in knapp
58 % dieser Fälle keine Kommunikation zwischen StA und Kriminalpolizei stattfand. Bei den strafbaren Handlungen,
deren Aburteilung den Bezirksgerichten obliegt, beträgt dieser Wert sogar 86 %, was nahelege, dass hier die
faktische Ermittlungsmacht in noch größerem Umfang bei der Kriminalpolizei liege.
Kooperationsverletzungen zwischen StA und Kriminalpolizei sind jedoch nur in etwa 4 % der Fälle, deren Aburteilung
den Landesgerichten, und knapp einem Prozent der Fälle, deren Aburteilung den Bezirksgerichten obliegt, zu
verzeichnen.
Der Anteil der durch die StA durchgeführten Vernehmungen ist mit 0,6 % "verschwindend gering". Dies
entspreche jedoch der Intention des Gesetzes, da die Möglichkeit der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung nur
als Ausnahme konzipiert werden sollte. Die StA könne sich aber nicht nur passiv, sondern über die Erteilung
konkreter Vernehmungsaufträge an die Kriminalpolizei auch aktiv in diesen Prozess einbringen: Allerdings sind
in der Mehrzahl der Fälle keine konkreten diesbezüglichen Aufträge dokumentiert.
Was die Praxis der Verhängung von Zwangsmitteln anbelangt, dominiere in Hinblick auf die Maßnahme Festnahme
die Rolle der Polizei: Bei den Fällen, in denen die Aburteilung den Landesgerichten oblag, verhängte
die Exekutive dieses Zwangsmittel sogar vorwiegend autonom (78 %). Bei der Hausdurchsuchung spielt die autonome
Durchführung durch die Kriminalpolizei hingegen nur eine geringe Rolle.
In Hinblick auf die Art der Beendigung der Ermittlungsverfahren sei festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft
überwiegend als "Einstellungsbehörde" fungiere: Mehr als die Hälfte der Ermittlungsverfahren
wurde schließlich ohne Sanktionsalternativen eingestellt (52,5 %), weitere fünf Prozent fanden durch
Diversion seitens der StA Erledigung. Im Bereich der Straftaten, deren Aburteilung den Landesgerichten obliegt,
erfolgt die Einstellung in zwei Drittel der Fälle mangels hinreichender Beweise. Bei den Fällen, die
vor dem Bezirksgericht abgeurteilt werden, kommt es am häufigsten mangels gerichtlicher Strafbarkeit des Verhaltens
zu einer Einstellung.
Dem Gericht komme im strafprozessualen Ermittlungsverfahren, wie vom Gesetzgeber intendiert, nur ausnahmsweise
eine Funktion zu. Ermittlungsaufträge an die Polizei gab es aber immerhin bei vier Prozent aller untersuchten
Verfahren, die vor dem Landesgericht abgeurteilt wurden: Dabei handelte es sich vorwiegend um Festnahmen, Verhängung
einer U-Haft oder Hausdurchsuchungen.
Die neuen Rechtsschutzinstrumente Einspruch und Beschwerde werden, wie der Bericht ausführt, in der Praxis
kaum genutzt: Verschwindend gering sei außerdem auch die Bedeutung von Anträgen auf Verfahrenseinstellung.
In der weit überwiegenden Zahl der Fälle komme es im Ermittlungsverfahren auch zu keiner Verteidigerbeziehung:
Zumeist (70 % der Fälle) verzichteten die Beschuldigten auf die Namhaftmachung eines Verteidigers. Dabei falle
jedoch auf, dass österreichische Beschuldigte tendenziell häufiger einen solchen zuziehen als nicht-österreichische,
heißt es im Bericht. Informationen hinsichtlich des anwaltlichen Notdienstes und der Voraussetzungen der
Verfahrenshilfe erhalten die Beschuldigten überwiegend durch das Aushändigen eines Formblattes.
Akteneinsicht werde im Zuge des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens von den Beschuldigten nur äußerst
selten genommen. Wurde sie aber beantragt, gewährte man sie fast immer. Die Vornahme einer Akteneinsicht korreliert
dabei meist mit dem Umstand des Bestehens einer anwaltlichen Vertretung, heißt es im Bericht: Ohne derartige
Unterstützung werde diese Möglichkeit fast nie in Anspruch genommen.
Obgleich ihre Erfolgsquote im Ermittlungsverfahren hoch liege, stellten Beschuldigte außerdem nur äußerst
selten Beweisanträge.
Eine Vertretung von Opfern durch einen Rechtsbeistand kommt laut Bericht in knapp über sieben Prozent der
untersuchten Fälle vor. Juristische und/oder psychosoziale Prozessbegleitung werde jedoch relativ selten in
Anspruch genommen. Akteneinsicht hätten drei Prozent aller Opfer beantragt: Sie wurde durchgehend gewährt
und erfolgte fast ausschließlich durch einen Rechtsbeistand. Die Untergruppe der Privatbeteiligten bringe
jedoch häufiger Beweisanträge ein, als dies bei den Beschuldigten der Fall sei. In etwa drei Viertel
der Fälle werde diesen auch entsprochen.
Anträge auf Fortführung eines eingestellten Ermittlungsverfahrens sind laut Bericht überaus selten.
Die Strafprozessreform aus Sicht der Praxis
Die mit PolizistInnen durchgeführten Interviews weisen darauf hin, dass die Regelungen hinsichtlich der Vertretung
von Opfern zustimmend bewertet werden. Was die Beschuldigtenrechte anbelangt, wird neben einer betont rechtsstaatlichen
Position aber auch eine ablehnende Haltung manifest: So stufen sie einige der Befragten sogar als übertrieben,
zeitkonsumierend und den Beschuldigten zu sehr schützend ein. Einigkeit herrscht hingegen darüber, dass
vom Journaldienst der RechtsanwältInnen kaum Gebrauch gemacht werde. Was die Leitung des Ermittlungsverfahrens
anbelangt, gelangt die Untersuchung zum Befund, dass diese Kompetenz in Standardfällen (leichte bis mittlere
Kriminalität ohne den Einsatz von Zwangs- und Ermittlungsmaßnahmen verbunden mit Grundrechtseingriffen)
vornehmlich bei der Polizei liege. Die StA erfahre über diese Fälle erst durch den Abschluss- bzw. Zwischenbericht.
Diese Situation wird von den PolizistInnen grundsätzlich positiv bewertet, wenngleich vereinzelt der Wunsch
bestehe, dass die StA auch Vernehmungen von Beschuldigten in diesem Deliktsbereich vornehme. Zu einer verdichteten
formellen wie informellen Kommunikation komme es laut Bericht vor allem in Hinblick auf die Spezialgebiete der
Drogen- und Wirtschaftsstrafsachen.
Die befragten StaatsanwältInnen stehen (mit einer Ausnahme) durchwegs zur neuen Strafprozessordnung, die sie
zum "dominus litis" des Ermittlungsverfahrens mache. In Standardfällen obliege die Leitung der Ermittlungen
aber auch aus Sicht der StA der Polizei. Eine diesbezügliche Kompetenzverschiebung trete allerdings in Hinblick
auf Wirtschafts- und Drogendelikte ein. In letzteren Fällen käme es auch zu einer dichteren Kommunikation
zwischen den Behörden. Die Kooperation zwischen StA und Polizei habe sich dabei weitgehend eingespielt. Was
allerdings die Dokumentation der Polizeikontakte anbelange, manifestiere sich eine heterogene Praxis, heißt
es im Bericht. Als Gründe dafür, dass die Beschuldigten ihre Rechte in aller Regel wenig nutzten, benennt
man die antizipierte wahrscheinliche Erfolglosigkeit der eingebrachten Rechtsbehelfe, Schuldeinsicht, Scham und
die korrekte Praxis der Sicherheitsbehörden wie der StA. Die Rechte der Opfer im Ermittlungsverfahren werden
aus Sicht der befragten StaatsanwältInnen als günstig betrachtet. Eine ambivalente bis kritische Haltung
sei jedoch in Hinblick auf Details erkennbar, heißt es im gegenständlichen Bericht.
Die befragten RichterInnen beurteilen die staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit und die unter ihrer
Leitung geleistete Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei überwiegend kritisch: Verwiesen wird in diesem Zusammenhang
auf nicht zielführende Vernehmungen und Erhebungen der Kriminalpolizei und das passive Leistungsverständnis
der StA. Die RichterInnen berichten in diesem Zusammenhang sogar über Folgeprobleme für die Hauptverhandlung.
Aus Sicht dieser Berufsgruppe kann von einer eingespielten Kooperation zwischen StA und Kriminalpolizei daher noch
nicht durchwegs die Rede sein. Die neue Rolle als Haft- und Rechtsschutzrichter werde unterschiedlich bewertet
und von einem Teil sogar als Bedeutungsverlust klassifiziert: Die Ausübung der gerichtlichen Kontrollfunktion
schätzten die Befragten allerdings durchgängig als wichtig ein. Diese werde jedoch durch eine uneinheitliche
Aktenführung erschwert, heißt es im Bericht. In Zweifel ziehen die befragten RichterInnen, ob die gängigen
Praktiken der Rechtsbelehrung tatsächlich leisteten, was sie zu leisten vorgeben. Bei den Opferrechten gibt
vor allem der weit gefasste Opferbegriff Anlass zu Kritik.
Die befragten AnwältInnen zeichnen ein heterogenes Bild des Prozedere um die Akteneinsicht bei der Polizei
und kritisieren – zum Großteil vehement – die Praxis der Rechtsbelehrung durch die Exekutive: In einzelnen
Fällen erfolge dabei sogar eine Fehlinformation der betroffenen Beschuldigten und Opfer, beanstanden die Befragten.
Zufrieden zeigen sich die RechtsanwältInnen in Hinblick auf den Umstand, dass sie nunmehr über das Recht
verfügten, bei den polizeilichen Vernehmungen anwesend sein zu dürfen. Vereinzelte kritische Anmerkungen
betreffen dabei die unwürdige (rassistische) Behandlung von MandantInnen, die einem migrantischen Milieu entstammen.
Was die Bewertung der Opferrechte anbelangt, teilen sich die Meinungen in Abhängigkeit davon, ob der jeweilige
Anwalt Beschuldigte oder Opfer vertritt. Einig ist man sich jedoch in Hinblick auf die Bewertung der derzeitigen
Regelung von Fortführungsanträgen: Dass man den AntragstellerInnen kein Kostenrisiko auferlegt, wird
von allen befragten AnwältInnen begrüßt. |