Das Fahrverbot für Lastkraftwagen, die bestimmte Güter befördern, auf der Inntalautobahn
in Tirol ist mit dem freien Warenverkehr nicht vereinbar
Die Ungeeignetheit der von der Kommission als weniger einschränkende Maßnahmen
angeführten wichtigsten Alternativmaßnahmen wurde nämlich nicht eindeutig nachgewiesen
Luxemburg (curia.europa.eu) - Die Autobahn A 12 im Inntal in Tirol (Österreich) ist einer der
wichtigsten Verbindungswege zwischen Süddeutschland und Norditalien. Nachdem Österreich festgestellt
hatte, dass der durch zwei europäischen Richtlinien1 festgelegte Jahresgrenzwert für Stickstoffdioxid
(NO2) auf dieser Autobahn überschritten worden war, ergriff es Maßnahmen, um die Schadstoffbelastung
auf das in diesen Richtlinien vorgeschriebene Niveau zu reduzieren. Zu diesem Zweck erließen die österreichischen
Behörden 2003 ein Fahrverbot für Lastkraftwagen über 7,5 t, die bestimmte Güter befördern
(Abfälle, Steine, Erden, Kraftfahrzeuge, Rundholz und Getreide), auf einem 46 km langen Abschnitt der Autobahn
A 12.
Auf eine Klage der Kommission entschied der Gerichtshof jedoch mit Urteil vom 15. November 20052, dass dieses
Verbot mit dem Grundsatz des freien Warenverkehrs unvereinbar war, da es zu dem verfolgten Zweck, dem Schutz der
Luftqualität, nicht in einem angemessenen Verhältnis stand.
Auf dieses Urteil hin brachten die österreichischen Behörden schrittweise neue Maßnahmen auf
den Weg, um die Einhaltung des durch die Richtlinien festgelegten Grenzwerts für Stickstoffdioxid sicherzustellen.
Diese Maßnahmen umfassten u. a. eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h auf einem Teilstück der
A 12, die später durch eine variable Geschwindigkeitsbegrenzung ersetzt wurde, und ein Fahrverbot für
Lastkraftwagen bestimmter Euro-Klassen3.
Da sich die Luftqualität auf der Autobahn A 12 nicht verbesserte, erließen die österreichischen
Behörden ein Fahrverbot für Lastkraftwagen über 7,5 t, die bestimmte Waren befördern, diesmal
auf einem 84 km langen Abschnitt der Autobahn. Ihrer Auffassung nach sollte nämlich der Transport dieser Waren
– die nahezu identisch mit denjenigen sind, die unter das 2003 eingeführte Verbot fielen – im österreichischen
Hoheitsgebiet über alternative und umweltfreundlichere Verkehrsträger wie die Schiene durchgeführt
werden.
Die Kommission war jedoch der Ansicht, dass dieses neue sektorale Fahrverbot auf der Autobahn A 12 ebenfalls
eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs darstelle. Daher hat sie
sich mit dem Antrag an den Gerichtshof gewandt, diese behauptete Vertragsverletzung festzustellen.
In seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Mitgliedstaaten dafür
zu sorgen haben, dass der in den Richtlinien festgelegte Grenzwert für Stickstoffdioxid in ihrem Hoheitsgebiet
nicht überschritten wird. In diesem Zusammenhang erlauben die Richtlinien es den Mitgliedstaaten, die zur
Einhaltung des Grenzwerts erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Zwar verfügen die Mitgliedstaaten für
den Erlass dieser Maßnahmen über ein Ermessen, dieses muss jedoch unter Beachtung der Unionsvorschriften,
u. a. unter Beachtung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, ausgeübt werden.
Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass das sektorale Fahrverbot dem Transport bestimmter Güter
auf der Straße im Inntal entgegensteht. Eine solche Maßnahme stellt somit bezüglich dieser Waren
eine Beschränkung des freien Warenverkehrs dar. Dass es Ausweichlösungen für die Beförderung
dieser Waren gibt – etwa den Schienenverkehr oder andere Autobahnen –, vermag das Bestehen einer Beschränkung
nicht auszuschließen. Denn dadurch, dass das sektorale Fahrverbot die betroffenen Unternehmen zwingt, nach
wirtschaftlich vertretbaren Ersatzlösungen für den Transport der betreffenden Güter zu suchen, ist
es geeignet, den Warenverkehr zwischen dem nördlichen Europa und Norditalien erheblich zu beeinträchtigen.
Eine Beschränkung des freien Warenverkehrs kann jedoch gerechtfertigt sein, sofern sie eine geeignete und
erforderliche Maßnahme zur Erreichung eines Gemeinwohlziels, wie etwa des Umweltschutzes, darstellt. Insoweit
weist der Gerichtshof darauf hin, dass die österreichische Regelung tatsächlich zum Schutz der Umwelt
beiträgt, da sie es ermöglicht, die Emission von Luftschadstoffen zu reduzieren, und zu einer Verbesserung
der Luftqualität im Inntal führt. Somit stellt das streitige Verbot eine geeignete Maßnahme zur
Verwirklichung des Gemeinwohlziels dar.
Sodann prüft der Gerichtshof, ob dieses Ziel durch weniger einschränkende Maßnahmen hätte
erreicht werden können. Wie er in seinem Urteil aus dem Jahr 2005 hervorgehoben hat, haben die Mitgliedstaaten
vor Erlass einer so radikalen Maßnahme wie der eines völligen Fahrverbots auf einem Autobahnabschnitt,
der eine überaus wichtige Verbindung zwischen bestimmten Mitgliedstaaten darstellt, sorgfältig zu prüfen,
ob nicht auf Maßnahmen zurückgegriffen werden könnte, die den freien Verkehr weniger beschränken,
und dürfen solche nur ausschließen, wenn ihre Ungeeignetheit im Hinblick auf den verfolgten Zweck eindeutig
feststeht.
Was die von der Kommission vorgeschlagenen Lösung betrifft, das Fahrverbot für Lastkraftwagen bestimmter
Euro-Klassen auf solche anderer Klassen auszuweiten, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese Normen die
tatsächlichen Emissionen von Fahrzeugen in Bezug auf die Stickstoffoxide zuverlässig wiedergeben. Es
ist nicht nachgewiesen, dass eine solche Ausweitung nicht ebenso wirksam zur Erreichung des angestrebten Ziels
hätte beitragen können wie die Einführung des sektoralen Fahrverbots.
Was schließlich die Lösung angeht, die variable Geschwindigkeitsbegrenzung durch eine ständige
Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h zu ersetzen, folgt der Gerichtshof dem Argument der österreichischen
Regierung nicht, wonach diese Maßnahme in der Praxis von den Benutzern der Straße nicht befolgt werde.
In diesem Zusammenhang kann Österreich nicht die tatsächlich in dieser Zone gemessene Durchschnittsgeschwindigkeit
von 103 km/h zugrunde legen, um die Auswirkungen der Einführung einer ständigen Geschwindigkeitsbegrenzung
auf 100 km/h zu beurteilen. Vielmehr sei Österreich verpflichtet, die tatsächliche Befolgung dieser Begrenzung
durch – erforderlichenfalls sanktionsbewehrte – Zwangsmaßnahmen zu gewährleisten. Daher weist die von
der Kommission vorgeschlagene Lösung ein Verringerungspotenzial für Stickstoffdioxidemissionen auf, das
Österreich nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Folglich stellt der Gerichtshof fest, dass Österreich den freien Warenverkehr dadurch unverhältnismäßig
beschränkt hat, dass es ein sektorales Fahrverbot erlassen hat, ohne die Möglichkeit, auf weniger einschränkende
Maßnahmen zurückzugreifen, ausreichend zu prüfen.
HINWEIS: Eine Vertragsverletzungsklage, die sich gegen einen Mitgliedstaat richtet, der gegen
seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, kann von der Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat
erhoben werden. Stellt der Gerichtshof die Vertragsverletzung fest, hat der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil
unverzüglich nachzukommen.
Ist die Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann sie erneut
klagen und finanzielle Sanktionen beantragen. Hat ein Mitgliedstaat der Kommission die Maßnahmen zur Umsetzung
einer Richtlinie nicht mitgeteilt, kann der Gerichtshof auf Vorschlag der Kommission jedoch bereits mit dem ersten
Urteil Sanktionen verhängen.
- Richtlinie 96/62/EG des Rates vom 27. September 1996 über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität
(ABl. L 296, S. 55) und Richtlinie 1999/30/EG des Rates vom 22. April 1999 über Grenzwerte für Schwefeldioxid,
Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft (ABl. L 163, S. 41) in der durch die Entscheidung
2001/744/EG der Kommission vom 17. Oktober 2001 (ABl. L 278, S. 35) geänderten Fassung. Diese Richtlinien
wurden mit Wirkung vom 11. Juni 2010 durch die Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. L 152, S. 1) aufgehoben. In
Anbetracht des entscheidungserheblichen Zeitraums bleiben sie jedoch auf die vorliegende Rechtssache anwendbar.
- Urteil des Gerichtshofs vom 15. November 2005, Kommission/Österreich (C-320/03), vgl. auch Pressemitteilung
97/05.
- Europäische Emissionsnormen („Euro-Normen“).
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