Neue Tieftemperatur-Messungen an der TU Wien widerlegen bisherige Theorien zum „Kondo-Effekt“.
Wien (tu) - Die Elektronen sind schuld: Materialeigenschaften hängen oft davon ab, wie beweglich
die Elektronen in einem Material sind und welche Energien sie annehmen können. Bei extremer Kälte, nur
knapp über dem absoluten Nullpunkt, untersucht Prof. Silke Bühler-Paschen die quantenmechanischen Vorgänge,
die für außergewöhnliches Materialverhalten verantwortlich sind. Von ihren neuen Ergebnissen zum
sogenannten „Kondo-Effekt“ werden bisherige Theorien nun über den Haufen geworfen – ein grundlegendes Umdenken
ist nötig. Ihre Untersuchungen publizierte Bühler-Paschen im Fachjournal „Nature Materials“.
Wenn viele Leute in einem Saal stehen und miteinander reden, wenden sie sich einander zu – benachbarte Menschen
blicken also bevorzugt in entgegengesetzte Richtungen. So ähnlich kann man sich auch Elektronen vorstellen,
die ihre magnetische Richtung – den Elektronenspin – aneinander ausrichten. „Beim Kondo-Effekt ist die Spin-Richtung
eines Elektrons aber von außen gar nicht mehr sichtbar, weil sie von anderen Elektronen abgeschirmt wird“,
erklärt Silke Bühler-Paschen. „Ungefähr wie ein prominenter Partygast, der sofort von allen Seiten
umringt wird, so dass man von außen nicht mehr feststellen kann, in welche Richtung er sich wendet.“
Elektronen mit Quanten-Korrelationen
Dieser Kondo-Effekt wurde in verschiedenen Materialien bei extrem tiefen Temperaturen (im Millikelvin-Bereich)
gemessen. Allerdings zeigte sich, dass er durch zusätzliche äußere Einflüsse zusammenbrechen
kann – etwa durch ein äußeres Magnetfeld. Wenn im Saal mit den Partygästen das Buffet eröffnet
wird und sich die Besucher rund um den Stargast plötzlich zu den Tischen hingezogen fühlen, dann ist
es mit dem Abschirmungseffekt auch schnell wieder vorbei. Freilich darf man solche Analogien mit der Alltagswelt
nicht zu wörtlich nehmen: Die Verbindung zwischen den Elektronen im Festkörper ist viel tiefer und komplizierter
als wir das von Alltagsobjekten kennen. Die Elektronen sind quantenmechanisch korreliert – unter gewissen Bedingungen
(z.B. wenn der Kondo-Effekt greift) verlieren sie in gewissem Sinn ihre Individualität und lassen sich (im
Gegensatz zu Partygästen oder Cocktailkirschen) nicht mehr getrennt voneinander beschreiben.
Neues Material – überraschende Ergebnisse
Viele theoretische Berechnungen über den Kondo-Effekt wurden in den vergangenen Jahren veröffentlicht.
Von besonderem Interesse ist dabei, wie der Kondo-Effekt entsteht, oder wie er zerstört wird. Die Abschirmung
der magnetischen Momente hängt von verschiedenen Parametern ab – beispielsweise von der Temperatur. Während
Temperaturänderungen die Abschirmung aber kontinuierlich ändern, kann die Änderung anderer Parameter
– etwa des Magnetfeldes – die Abschirmung an einem bestimmten Punkt (dem sogenannten quantenkritischen Punkt) ganz
abrupt zusammenbrechen lassen.
„Bisher dachte man, dass das Zusammenbrechen des Kondo-Effektes, das zuvor in einem stark anisotropen Material
beobachtet wurde, mit zweidimensionalen Quanten-Fluktuationen zu tun hat“, berichtet Silke Bühler-Paschen.
Die Ursache wurde also in der Geometrie der Kristallstruktur gesucht. Andererseits wurden auch andere Erklärungsversuche
vorgeschlagen, die die beobachteten Effekte auf subtile Eigenheiten des untersuchten Materials zurückführen
– doch Silke Bühler-Paschen und ihrem Team gelang es nun, das selbe Verhalten in einem ganz anders gearteten
Material nachzuweisen. „Unsere Messungen führten wir an einer Verbindung aus Cer, Palladium und Silizium durch“,
sagt Bühler-Paschen, „und hier haben wir es mit einem kubischen Kristall zu tun, der in allen drei Raumrichtungen
gleich aussieht.“ Das Verhalten der Elektronen muss also dreidimensional beschrieben werden – mit zweidimensionalen
Modellen lässt sich das nicht erklären.
Zwischen Materialforschung und Quantenphysik
„Wir stoßen mit unseren Ergebnissen die theoretische Forschung nun wieder an“, meint Bühler-Paschen.
„Mit den bisherigen Erklärungen war man schon ganz zufrieden, nun muss man wieder ganz neu nachdenken.“ Silke
Bühler-Paschen arbeitet in einem Bereich, der zwei Forschungsschwerpunkte der TU Wien miteinander verbindet:
Materialwissenschaft und Quantenphysik. „Das waren früher eher getrennte Gebiete – doch heute wird den Leuten
klar, dass man beides gemeinsam behandeln muss“, findet Bühler-Paschen. Viele Materialeigenschaften lassen
sich nur erklären, wenn man sich auf die fundamentalsten Ebenen der Physik begibt – und umgekehrt lässt
sich für die Quantentheorie viel Neues lernen, indem man Vorgänge im Inneren von Festkörpern studiert.
Vielseitigkeit statt Outsourcing
Einen internationalen Wettbewerbsvorteil sieht Bühler-Paschen darin, dass die Forschung an der Schnittstelle
zwischen Materialwissenschaft und Quantenphysik in den letzten Jahren gerade in Wien deutlich an Bedeutung gewonnen
hat: „Wir vereinen wichtige Kooperationspartner unter einem Dach: Theoretische Forschung, Tieftemperatur-Messungen,
und auch die chemische Synthese der Untersuchungsobjekte.“ Andere Gruppen, die ihre Proben nicht selbst herstellen
können, sind eben auf die Materialien angewiesen, die sie von anderswo bekommen – und Forschungsteams, die
in der Synthese führend sind, haben oft weder Ressourcen noch Interesse, quantenphysikalische Effekte in ihren
Proben zu untersuchen. „Wir haben hier das Glück, auf der Schnittstelle arbeiten zu können“, findet Silke
Bühler-Paschen. Offene Fragen gibt es noch genug: Das Ziel ist, auf ganz grundlegendem quantenmechanischen
Niveau endlich Erklärungen für wichtige Effekte zu finden, die man bis heute nicht richtig verstanden
hat - etwa das Rätsel der Hochtemperatur-Supraleitung. |