Wien (öaw) - Trotz Zeiten moderner Informations- und Kommunikationstechnologien ist das räumliche
Umfeld des Wohnviertels nach wie vor ein wichtiger Ort der gesellschaftlichen Integration. Das geht aus einem aktuellen
Forschungsbericht des Instituts für Stadt- und Regionalforschung der ÖAW hervor.
Spielt das räumliche Umfeld des Wohnviertels in Zeiten moderner Informations- und Kommunikationstechnologien
noch eine Rolle für gesellschaftliche Integrationsprozesse? Forscherinnen und Forscher des Instituts für
Stadt- und Regionalforschung (ISR) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) haben die wahrgenommene
Qualität der Nachbarschaftsbeziehungen in Abhängigkeit von der städtebaulichen und sozialen Struktur
in drei verschiedenen, aber für Wien typischen Untersuchungsgebieten (Am Schöpfwerk, in der Josefstadt
und in Ottakring) untersucht. Die Ergebnisse wurden im ISR-Forschungsbericht „Neighbourhood Embeddedness and Social
Coexistence. Immigrants and Natives in Three Urban Settings in Vienna“ publiziert.
Lokal gebundene soziale Netzwerke entscheidend
„Unsere Ergebnisse belegen eindeutig die Bedeutung des Wohnumfeldes als ‚Ermöglichungsraum‘ für
ungeplante Begegnungen und Interaktionen und liefern damit eine klare Bestätigung der sozialökologischen
Annahmen über die Relevanz des räumlichen Kontextes“, sagen die Studien-Autor(inn)en Josef Kohlbacher,
Ursula Reeger und Philipp Schnell. Die Forscher(innen) konnten nachweisen, dass auch moderne Städter(innen)
einen klaren Bezug zu ihrem Wohnumfeld haben. Lokal gebundene soziale Netzwerke sind demnach nach wie vor entscheidend
für das Ausmaß der nachbarschaftlichen Einbettung. Neben engen Sozialbeziehungen wie Freundschaften
oder verwandtschaftlichen Kontakten sind auch die zufälligen und oberflächlichen Kontakte im Wohnumfeld
sehr wichtig.
Größte nachbarschaftliche Verbundenheit in der Josefstadt
Im Vergleich der drei Untersuchungsgebiete zeigt sich, dass das bürgerliche Wohnviertel in der Josefstadt
(Laudongasse) das höchste Ausmaß an Verbundenheit mit der Nachbarschaft aufweist – unabhängig davon,
ob die Bewohner(innen) Zuwanderer sind oder nicht. In den beiden anderen Wohnvierteln ist das Ausmaß der
Einbettung in die Nachbarschaft bei weitem geringer als im Grätzl rund um die Laudongasse, wobei sich rund
um den Ludo-Hartmann-Platz Migrant(inn)en etwas stärker zugehörig fühlen als Nichtmigrant(inn)en.
In der Wohnhausanlage Am Schöpfwerk erzeugen die spezifische bauliche und soziale Situation mit einer unausgewogenen
Mischung von armutsgefährdeten in- und ausländischen Haushalten sowie die periphere Lage eher ein Gefühl
der Fremdheit. Im zentraler gelegenen Wohnviertel Ludo-Hartmann-Platz, das vom gründerzeitlichen Altbaubestand
dominiert wird, ist zwar der Zuwandereranteil mit 63 Prozent (Personen mit Migrationshintergrund) fast doppelt
so hoch wie Am Schöpfwerk, trotzdem bewerten beide Bevölkerungsgruppen die Verbundenheit mit dem Wohnviertel
und auch die Zufriedenheit mit dem Zusammenleben etwas positiver. „Die Reduktion der Bewertung der Zufriedenheit
mit dem Leben vor Ort auf ein Merkmal, nämlich den lokalen Ausländeranteil, ist also eine zu simple Vereinfachung“,
betonen die ForscherInnen.
Erste umfassende empirische Untersuchung zum Thema
Bislang fehlten ernsthafte empirische Untersuchungen darüber, in welchem Ausmaß das soziale und infrastrukturelle
Umfeld die Integrationsprozesse der zugewanderten und der schon länger oder immer anwesenden Bevölkerung
prägen. Mit ihren Ergebnissen belegen die Forscher(innen), dass das Wohnumfeld nach wie vor eine wichtige
Rolle für gesellschaftliche Integrationsprozesse spielt und widersprechen damit der ebenfalls diskutierten
These, dass das sozialökologische Umfeld in Zeiten, in denen moderne Informations- und Kommunikationstechnologien
neue und virtuelle Räume prägen, keinen Einfluss mehr hat.
Der Forschungsbericht basiert auf dem von der EU finanzierten Projekt GEITONIES (Generating Interethnic Tolerance
and Neighbourhood Integration in European Urban Spaces), an dem Projektteams aus Bilbao, Lissabon, Rotterdam, Thessaloniki,
Warschau und Wien beteiligt sind. Im Rahmen des Projekts wurden 3.600 Interviews mit Personen mit und ohne Migrationshintergrund
in den sechs genannten europäischen Städten durchgeführt, 600 davon in Wien. Ziel von GEITONIES
ist unter anderem die Erarbeitung eines Empfehlungskatalogs für Entscheidungsträger(innen) aus der Politik.
Publikation
Josef Kohlbacher, Ursula Reeger und Philipp Schnell (2012), Neighbourhood Embeddedness and Social Coexistence.
Immigrants and Natives in Three Urban Settings in Vienna. ISR-Forschungsbericht 37, Verlag der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften. Wien |