Gedenken an die Opfer von Gewalt und Rassismus im Parlament
Wien (pk) - Der 5. Mai wird seit 1998 als "Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus" im Gedenken
an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Das Datum erinnert an jenen Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager
Mauthausen befreit wurde. Zu diesem Anlass fand auch heuer wieder im Historischen Sitzungssaal des Hohen Hauses
eine Gedenkveranstaltung statt. Neben den Abgeordneten von Nationalrat und Bundesrat nahmen an der Sitzung auch
zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland teil, an ihrer Spitze Bundespräsident Heinz Fischer mit Gattin
Margit sowie Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Michael Spindelegger.
Zum dritten Mal hatte im Vorfeld des Gedenktages das Parlament ein Jugendprojekt zur Auseinandersetzung mit einem
Teilaspekt der NS-Herrschaft initiiert. Seit Oktober 2011 befassten sich die SchülerInnen der Schule für
Gesundheits- und Krankenpflege am SMZ Ost/Donauspital in Wien, der HTL Steyr sowie Lehrlinge mehrerer Werkstätten
des Vereins Jugend am Werk mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und speziell mit der "NS-Euthanasie",
der Ermordung von Menschen mit Behinderungen. Die Ergebnisse waren heute in Form von Installationen in der Säulenhalle
des Parlaments zu sehen. SchülerInnen der Hauptschule Hartkirchen hatten sich außerdem mit Biografien
von Euthanasie-Opfern in Schloss Hartheim befasst.
Hammerl: Würde des Menschen ist unantastbar
Bundesratspräsident Gregor Hammerl stellte die Würde des Menschen in den Mittelpunkt seiner Rede. Er
erinnerte an die Zigtausenden Opfer der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik und wies auf den damaligen menschenverachtenden
Umgang mit behinderten Kindern und Erwachsenen hin. Die Beteiligten hätten nichts dabei gefunden, Menschen
zu Experimenten heranzuziehen, schlechter als Tiere zu behandeln und schließlich sogar zu töten. "Wie
konnten Menschen nur so etwas tun?" fragte er und machte in diesem Zusammenhang auch auf die Erniedrigungen
aufmerksam, die die Mitglieder des Mädchenorchesters von Auschwitz erdulden mussten.
Auch heute sei man nicht vor derartigen Verbrechen gefeit, mahnte Hammerl. "Wenn wir die Menschenrechte nicht
achten, im Alltag und in alltäglichen Begegnungen, wenn wir nicht den Weg der Menschenrechte gehen, wenn wir
vergessen und abstumpfen, werden wir in Menschenverachtung abgleiten, oft unbemerkt." Hammerl erachtet es
in diesem Sinn auch als wichtig und notwendig, dass es in Österreich Einrichtungen wie den Nationalfonds und
den Entschädigungsfonds gibt, die den Interessen und dem Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus und der
Förderung der Achtung der Menschenrechte dienen.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar", zitierte Hammerl aus dem Grundrechtskatalog der Europäischen
Union und setzte mit dem Text des von Franz Fiedler im Rahmen des Österreich-Konvents ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs
fort: "Sie ist zu achten und zu schützen. Das Recht jedes Menschen auf Leben ist geschützt".
Sich daran zu halten, liege in der Verantwortung jedes Einzelnen, unterstrich der Bundesratspräsident, "es
ist nicht der Arme, der Behinderte, der Verfolgte, sondern es ist der Mensch, der vor uns steht".
Prammer: Leistung darf nicht über den Wert von Leben entscheiden
Nationalratspräsidentin Barbara Prammer erinnerte an das gesellschaftliche Klima, das Sozialdarwinismus, Eugenik
und Rassenhygiene bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert geschaffen haben, und spannte einen Bogen von dieser Zeit
über die pervertierende Selektion im Nationalsozialismus bis in die Gegenwart. Die Geschichte lehre, wie sensibel
man zu jeder Zeit mit dem Begriff Leistung und der Bewertung von Leistung umgehen müsse, mahnte sie.
Leistung sei wesentlich und wertvoll für eine Gesellschaft, betonte Prammer, man stoße aber unweigerlich
an die Grenze der Menschenrechte, wolle man die Leistung eines Menschen an absoluten Zahlen oder Werten messen.
Es gebe auch eine große Bandbreite an Leistungen und an Leistungsfähigkeit, machte Prammer geltend,
davon abgesehen dürfe Leistung aber nie über den Wert von Leben entscheiden. Die Qualität einer
Gesellschaft messe sich daran, "wie deren Mitglieder miteinander umgehen, wie sie sich gegenseitig unterstützen
und ob sie solidarisch miteinander sind".
Anhand eines Beispiels aus ihrer näheren Heimat und in Anspielung auf einen Ausstellungstitel schilderte Prammer,
wie das NS-Regime "Krieg gegen die Minderwertigen" führte. Man wisse, dass Ärztinnen und Ärzte
in Anstalten wie Hartheim und dem Spiegelgrund gemeinsam mit dem Pflegepersonal durch Mangelernährung, Überdosierung
von Medikamenten oder das bewusste Herbeiführen von Krankheiten mordeten, skizzierte sie. Aber auch in der
Zweiten Republik, bis in die 1970er-Jahre habe es in der Psychiatrie noch menschenverachtende Methoden gegeben.
Erst langsam sei es zu einem notwendigen Umdenken gekommen.
Heute erscheine es selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderungen integriert in der Gesellschaft leben,
sagte Prammer. Trotz vieler positiver und nachhaltiger Initiativen in Österreich und einer weit fortgeschrittenen
rechtlichen Situation ist ihr zufolge die tägliche Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen aber
noch weit von einer tatsächlichen Gleichstellung entfernt. "Wir müssen Menschen mit Behinderungen
inkludieren und zu einem selbstverständlich geachteten und respektierten Teil unserer Gesellschaft machen",
forderte sie. Integration alleine sei zu wenig. Hierbei sieht sie nicht nur die Politik, sondern auch die einzelnen
Menschen gefordert.
Das gleiche gilt nach Überzeugung von Prammer auch für die Demokratie. "Demokratie ist kein Versprechen,
das uns irgendjemand geben könnte", bekräftigte sie, sie sei nur dann möglich, wenn sie jeder
und jede Einzelne mit Leben erfüllt. Demokratische Kultur, Menschenrechte und solidarisches Miteinander sind,
so Prammer, die Basis des Zusammenlebens. "Rassismus, Gewalt und Ausgrenzung sind ein Widerspruch zur Demokratie
und dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz finden."
Bailer: Das Recht auf ein Leben in Würde muss unteilbar sein
Brigitte Bailer, wissenschaftliche Leiterin des DÖW, führte die Zwangserziehung sowie den Mord an Kindern
und Jugendlichen im Nationalsozialismus auf eine Ideologie zurück, die sozial auffällige Menschen und
Menschen mit Behinderung als wertlos für die Volkswirtschaft und als bloß hemmenden Kostenfaktor betrachtete
und – getrieben von so genannten "erbbiologischen" Vorstellungen - eine rassenhygienische Selektion anstrebte,
an deren Ende Mord und Hungertod standen. Sie erinnerte an die Durchführung der nationalsozialistischen Kindereuthanasie
an der "Wiener städtischen Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund" – von der Erfassung und Registrierung
missgebildeter und behinderter Kinder über die Einweisung in die "Kleinkinder- und Säuglingsabteilung"
bis hin zur Tötung durch eine Überdosis des Schlafmittels Luminal - und gab dabei zu bedenken, dass der
Tod der Behinderten Ergebnis einer arbeitsteiligen Organisation war, die nur durch das Zusammenwirken und die Anpassung
vieler an die mörderischen Vorgaben des Regimes möglich wurde.
Auch nach der offiziellen Einstellung der Ermordung der Behinderten in Tötungsanstalten im Jahr 1941 – allein
am Spiegelgrund wurden 789 Todesopfer dokumentiert - ging das Sterben in den Heil- und Pflegeanstalten, wie Bailer
berichtete, jedoch weiter. Besonders die Wagner-Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof wurde zu einem Zentrum
dieses von Historikern als "dezentrale Anstaltsmorde" oder "wilde Euthanasie" bezeichneten
Sterbens. So haben Am Steinhof Vernachlässigung der Patienten, Kälte und Hunger zum Tod von mindestens
3500 Menschen geführt.
Bailer sprach aber auch die "Wiener städtische Erziehungsanstalt Am Spiegelgrund" an, in die Kinder
und Jugendliche eingeliefert wurden, die den Normen der NS-Pädagogik nicht entsprachen, als "schwererziehbar"
eingestuft wurden und grausamen Strafen, körperlichen Misshandlungen und psychischer Folter ausgesetzt waren,
unter denen sie den Rest ihres Lebens litten.
Nur wenige der Verantwortlichen wurden nach dem Ende des NS-Regimes bestraft. Während der Leiter der Kinderklinik
Am Spiegelgrund Dr. Ernst Illing 1946 hingerichtet wurde und sein Vorgänger Dr. Erwin Jekelius in sowjetischer
Gefangenschaft ums Leben kam, konnten andere, wie Dr. Heinrich Gross oder Dr. Hans Bertha nach einer kurzen Unterbrechung
ihre wissenschaftlichen Karrieren fortsetzen. Bailer rückte den Blick zudem auf die überlebenden Opfer.
Diese seien in Vergessenheit geraten, ihre Leiden habe die staatliche NS-Opferfürsorge nicht als anspruchsberechtigt
anerkannt. So habe es bis zur Gründung des Nationalfonds 1995 gedauert, bis die überlebenden Spiegelgrund-Kinder
eine Entschädigung erhalten konnten.
Bailer schloss mit einem Hinweis auf die aktuelle politische Situation und meinte, die Ideen der Kosten-Nutzen-Rechnung
für die Behandlung von Menschen und die Diskriminierung Behinderter würden uns auch heute immer wieder
begegnen. Sie rief zu Wachsamkeit auf, wenn Politik nur für die "Fleißigen" und die "Tüchtigen"
gemacht werden soll, und betonte, das Recht auf ein Leben in Würde müsse unteilbar sein – ungeachtet
auch von Gesundheit und vorgeblichem Nutzen für die Gesellschaft.
Kepplinger: Ideen, auf die sich die Mörder beriefen, sind noch da
Brigitte Kepplinger, stellvertretende Obfrau des Vereins Schloss Hartheim, betrachtete die Euthanasieverbrechen
als Ausdruck einer dem politischen und gesellschaftlichen System der Nationalsozialisten zugrunde liegenden Utopie,
die auf die Schaffung einer durch biologische Kriterien definierten und politisch harmonischen Volksgemeinschaft
aus rassereinen und erbgesunden Individuen abzielte. Neben den "Fremdrassigen" wurden auch erbkranke
arische Menschen als Gefährdung der Gesundheit und Stärke des "Volkskörpers" angesehen,
wobei es galt, ihre Exklusion zu planen und zu realisieren. Was schon 1933 nach der Machtergreifung in Verfolgung
der Ziele der internationalen eugenischen Bewegung mit zwangsweiser Sterilisation von Trägern bestimmter Erbkrankheiten
begann, wurde rasch zu "Euthanasie" bzw. zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Kepplinger
gab zu bedenken, dass der Nationalsozialismus auf eine gesellschaftspolitische Diskussion zurückgreifen konnte,
die sich seit dem Ersten Weltkrieg etabliert hatte, den "Gnadentod" für unheilbar psychisch kranke
bzw. behinderte Menschen in den Raum stellte und dabei vor allem das Kostenargument anführte.
Die Entscheidung für den Start des Euthanasieprogramms fiel, wie Kepplinger erinnerte, unmittelbar vor Kriegsbeginn
1939. Dies sei kein Zufall gewesen, meinte sie. Jeder Krieg verschiebe das Norm- und Wertesystem der betroffenen
Gesellschaft und mache Handlungen möglich, die in Friedenszeiten keine Akzeptanz gefunden hätten. In
diesem Sinn wurden kranke bzw. behinderte Kinder in "Kinderfachabteilungen" nach einem medizinisch-wissenschaftlichen
Procedere ermordet, bei dem das "therapeutische Töten" zu einem integralen Teil der ärztlichen
Praxis werden sollte. Neben den Kinderfachabteilungen, in denen bis Kriegsende mindestens 5000 Kinder getötet
wurden, kam es dann zur so genannten "Lösung des Problems der Heil- und Pflegeanstalten" – den zentral
gesteuerten Morden an unheilbar psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die von den Nationalsozialisten
als unproduktive, unnütze "Ballastexistenzen" gesehen wurden.
Kepplinger berichtete von einem rationalen Planungsprozess, der Tötungsmethode und Tötungsort festlegte,
ein ausgeklügeltes Verfahren der Geheimhaltung entwickelte und zu dessen Durchführung sechs Tötungsanstalten
etabliert wurden, wobei für das Gebiet der "Ostmark" die "Landesanstalt Hartheim" zuständig
war. In den Gaskammern der Tötungsanstalten wurden innerhalb von 18 Monaten mehr als 70 000 Menschen ermordet,
18 269 allein in Hartheim. Kepplinger wies weiters darauf hin, dass sich nach dem Abbruch des als Aktion T4 bezeichneten
Programms die Methode des Tötens geändert hatte und die Behinderten nunmehr durch Medikamente, gezielte
Vernachlässigung und Hunger ermordet wurden, wobei anzunehmen sei, dass die Zahl der Opfer dieser dezentralen
Euthanasie die Opferzahl der Aktion T4 deutlich übersteigt.
Resümierend stellte Kepplinger fest, es sei beunruhigend, wie leicht sich Personen finden ließen, die
völlig freiwillig bereit waren, eine Funktion im Tötungsprozess einzunehmen. Sie gab überdies zu
bedenken, dass das NS-Regime die Idee von einer "Verbesserung" der Bevölkerung nicht erfunden hatte,
sondern an entsprechende Konzepte anknüpfen konnte, die in der westlichen Welt intensiv diskutiert wurden,
aber in demokratischen politischen Systemen keine Mehrheit fanden. Diese Ideen seien nicht mit dem Zusammenbruch
des Nationalsozialismus verschwunden, warnte sie. Es liege an uns, in einem ständigen Prozess die Beeinträchtigung
und Beschädigung der Demokratie zu verhindern und andererseits moralische Grenzverschiebungen zu beobachten,
zu diskutieren und nötigenfalls zurückzuweisen.
Im Rahmen der Gedenkveranstaltung las Tobias Moretti aus historischen Dokumenten der beiden Euthanasie-Zentren
"Am Steinhof" und Schloss Hartheim. Die musikalische Umrahmung der Veranstaltung erfolgte durch das Adamas
Quartett sowie durch Otto Lechner mit seinem Akkordeon. |