Wien (rk) - Vor zehn Jahren wurden sterbliche Überreste von Opfern der NS-Kindereuthanasie am Spiegelgrund
im Rahmen einer feierlichen Zeremonie am Zentralfriedhof bestattet. Am 09.05. erfolgte die Bestattung weiterer
medizinischer Präparate von PatientInnen, die durch die NS-Medizin in Wien ermordet wurden. Bundespräsident
Heinz Fischer, Bürgermeister Michael Häupl, Gesundheits- und Sozialstadträtin Sonja Wehsely, Bildungsstadtrat
Christian Oxonitsch und Dorothee Stapelfeldt, Zweite Bürgermeisterin von Hamburg, erweisen den Opfern die
Ehre. "Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind beispiellos. Und es wäre eine schreckliche Verharmlosung,
Vergleiche zwischen der NS-Zeit und aktuellen Ereignissen zu ziehen. Aber nur ein gefestigtes Bekenntnis zur Demokratie,
zur Solidargemeinschaft und die Überzeugung, dass jedes Menschenleben wertvoll ist und Respekt verdient, kann
uns als Gesellschaft davor schützen, dass neues Unrecht wachsen und an Boden gewinnen kann", erklärte
Fischer im Vorfeld. "Erinnern und gedenken, das können wir für die Opfer tun und uns der Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit stellen. Und als meine persönliche Verpflichtung sehe ich es, alles zu tun, damit so
etwas Unvorstellbares nicht mehr möglich wird", unterstrich Häupl.
"Wir gedenken der Opfer des NS-Terrors in ihrer Gesamtheit und in ihrer Individualität. Ein klares 'Wehret
den Anfängen!' sowie der universelle Einsatz für demokratische Werte und Menschenrechte - das sind die
wichtigsten Voraussetzungen für ein 'Nie wieder!", so Wehsely.
Am kommenden 14.05. werden im Rahmen der Veranstaltung "Spiegelgrund-Überlebende erzählen"
Videointerviews mit ZeitzeugInnen der Wiener Jugendfürsorge in der Gedenkstätte Steinhof im Otto-Wagner-Spital
präsentiert (10:00 Uhr, Otto-Wagner-Spital, V-Gebäude). Diese Veranstaltung findet in Kooperation mit
dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes statt, ebenso wie die heutige feierliche Bestattung
und der Vortrag des deutschen Experten Michael Wunder über "Die Geschichte der Euthanasie im Nationalsozialismus
und die Verantwortung für heutiges Handeln" im Rahmen der Wiener Vorlesungen am vergangenen Montag.
NS-Medizinverbrechen in Wien und der Umgang damit nach 1945
Die Medizin übernahm im Nationalsozialismus eine neue und besonders menschenverachtende Aufgabe: die
von den Nazis so genannte "Ausmerzung" von Menschen, die sie als "minderwertig" qualifizierten.
Für Personen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, psychisch Kranke und Unangepasste war in der nationalsozialistischen
Volks- und Leistungsgemeinschaft kein Platz. Sie wurden verfolgt, eingesperrt und der Vernichtung preisgegeben.
Das heutige Sozialmedizinische Zentrum Baumgartner Höhe stand während der NS-Zeit im Brennpunkt der verschiedenen
Tötungsaktionen des Regimes gegen PsychiatriepatientInnen und Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen.
Etwa 3.200 Menschen wurden in den Jahren 1940/41 im Rahmen der so genannten "Aktion T4" nach Schloss
Hartheim in Oberösterreich deportiert und dort in der Gaskammer getötet. Nachdem aufgrund zahlreicher
Proteste von Angehörigen und verschiedenen Institutionen diese verbrecherische Vernichtungsaktion Ende August
1941 offiziell gestoppt worden war, wurden die Ermordungen in die einzelnen Anstalten verlagert - "dezentralisiert".
Alleine für die Anstalt "Am Steinhof" ist in dieser Phase nach Schätzungen von ca. 3.500 zusätzlichen
Todesfällen bis 1945 auszugehen. Systematische Vernachlässigung, Unter- und Mangelernährung, mangelnder
Schutz vor Kälte sowie bewusst geförderte Infektionskrankheiten stellten die häufigsten Todesursachen
dar.
In der Anstalt "Am Spiegelgrund" wurden außerdem 789 Kinder und Jugendliche umgebracht, die meisten
davon als Opfer der so genannten "Kindereuthanasie". Von vielen der ermordeten Opfer wurden zur weiteren
wissenschaftlichen Ausbeutung Präparate angefertigt, an denen bis weit in die Nachkriegszeit hinein ohne Bedenken
wissenschaftlich-medizinisch geforscht wurde.
Aufarbeitung in den vergangenen Jahren
2002 wurden die Gehirnpräparate von über 400 in der NS-Zeit in der Klinik am Spiegelgrund ermordeten
Kindern im Rahmen einer feierlichen Zeremonie am Zentralfriedhof bestattet. Seit 2006 hat die Stadt Wien zahlreiche
Überlebende vom "Spiegelgrund" für deren wichtige Aufklärungs- und ZeitzeugInnenarbeit
über die Gräueltaten des Nazi-Regimes mit dem Goldenen Verdienstzeichen des Landes Wien ausgezeichnet.
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hat im Auftrag und in enger Zusammenarbeit mit
der Stadt Wien und dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus im Jahr
2008 die seit 2002 bestehende Ausstellung "Der Krieg gegen die 'Minderwertigen' - Zur Geschichte der NS-Medizin
in Wien" im Pavillon V des Otto-Wagner-Spitals neu gestaltet und erweitert. Die Ausstellung erläutert,
beginnend mit der Vorgeschichte, die nationalsozialistischen Medizinverbrechen in Wien und thematisiert auch den
Umgang mit diesen Verbrechen nach 1945.
In den letzten Jahren wurden im Zuge einer umfassenden Erhebung zu Relikten der NS-Geschichte in der Geschäftsgruppe
Gesundheit und Soziales der Stadt Wien weitere Unterlagen und histologisches Material von Opfern der NS-Psychiatrie
aufgefunden und einer Sichtung und Aufarbeitung durch das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
zugeführt. Unterlagen wie Fotos und Krankengeschichten wurden dem Wiener Stadt- und Landesarchiv übergeben,
die histologischen und anatomischen Präparate werden nun bestattet. |