Wien (ak) - „Die jungen Leute in Österreich zweifeln an der Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Außerdem
sind viele der Meinung, sie müssten sich selber durchbeißen, sonst helfe ihnen heute keiner mehr.“ Auf
diesen Punkt brachte AK Präsident Herbert Tumpel am 30.05. die Ergebnisse der Jugendwertestudie, die das Institut
für Jugendkulturforschung im Auftrag der Arbeiterkammer durchgeführt hat.
Von der Gesellschaft erwarten sich die 14- bis 29-Jährigen wenig. Wichtig ist ihnen die eigene Tätigkeit,
also Schule oder Ausbildung, Arbeit und Weiterbildung. Rückhalt suchen sie bei der Familie und bei Freunden.
Gleichzeitig sehen sie hohe Anforderungen an sich selbst.
Die wichtigsten Aussagen
- Zweifel an der Gerechtigkeit: Fast drei Viertel der Jugendlichen und der jungen Erwachsenen sagen, die Schere
zwischen Reich und Arm öffnet sich. Mehr als die Hälfte sieht, dass immer mehr an den Rand gedrängt
werden. Und fast die Hälfte der Befragten sagt: „Wir Jungen müssen für uns selbst sorgen, uns hilft
heute keiner mehr.“
- Hohe Anforderungen: Mehr als die Hälfte der jungen Menschen sagt, sie stehen in Arbeit, Schule, Ausbildung
oder Studium stark unter Druck. Dabei ist das Interesse der jungen Menschen an Politik gestiegen. Und sie haben
sowohl in ihrem eigenen Umfeld als auch in der Gesellschaft Wünsche nach Veränderung. In der Gesellschaft
wollen sie mehr Gerechtigkeit.
- Drei Viertel sagen: Wer mehr besitzt soll auch einen größeren Beitrag leisten. In Schule und Ausbildung
fordern die Jungen mehr individuelle Betreuung und Förderung. „Wir müssen die Sorgen und Wünsche
der Jungen ernst nehmen“, sagt Tumpel. Die Fakten, die die Jungen kritisieren, kritisiert auch er. Tumpel teilt
die Forderung nach Gerechtigkeit: „Tatsächlich ist der Beitrag der Reichen zur Bewältigung der Krisenfolgen
zu gering.“
Schule, Ausbildung, Studium und Arbeitswelt: Tumpel fordert Initiativen für individuelle Betreuung und
Förderung in der Schule, mehr wertschätzenden Umgang mit Lehrlingen und gegen das Ausnutzen Junger in
Praktika.
Gerechtigkeit in der Gesellschaft: Ein düsteres Bild
Für die Jungendwertestudie wurde eine repräsentative Stichprobe von 1.500 Jugendlichen und jungen Erwachsenen
im Alter von 14 bis 29 Jahren befragt. Vorbereitet und ergänzt wurde die Studie mit qualitativen Interviews.
Besonders emotionalisiert hat die Jugendlichen die Bankenkrise, zeigt sich in den qualitativen Interviews zur Studie.
Viele empfinden eine tiefe Machtlosigkeit gegenüber den Vorgängen in Staat und Wirtschaft. Zum überwiegenden
Teil meinen sie, die Börsen wären eigentlich das Zentrum der Macht. Dieses Bild bestätigt sich in
der repräsentativen Befragung.
- Die Jungen wollen mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft: Drei Viertel der Befragten sind der Meinung, dass
jene, die mehr besitzen, auch einen größeren Beitrag leisten sollten. 44 Prozent können dem „voll
und ganz“ zustimmen, nur eine kleine Minderheit von 6 Prozent stimmt „überhaupt nicht“ zu.
- Mit der jetzigen Situation sind die Jungen allerdings unzufrieden: 69 Prozent sagen, dass sich die Schere zwischen
Reich und Arm immer weiter öffnet. 55 Prozent sind der Meinung, dass in Österreich immer mehr Menschen
an den Rand gedrängt werden.
Verschärft wird das düstere Bild der Jungen von der Gesellschaft in Österreich durch die verhältnismäßig
hohe Zahl der Befragten, die der Aussage zustimmen: „Wir Jungen müssen für uns selbst sorgen, uns hilft
heute keiner mehr.“ Die Studi-enautoren bezeichnen diese Gruppe als die Alleingelassenen. Sie sind auch jene, die
in der Gesellschaft die schlechteren Karten haben.
Die Hälfte der Alleingelassenen macht eine Ausbildung ohne Matura oder ist ohne Matura berufstätig. Umgekehrt
sind zwei Drittel der „Eingebundenen“ (die der Aussage nicht zustimmen) in einer Ausbildung mit Matura, oder sie
sind mit Matura oder mit einem akademischen Abschluss berufstätig.
Stark unter Druck
Trotz Kritik an der Gesellschaft: Für sich selbst sehen die Jugendlichen und die jungen Erwachsenen
die Aussichten eher positiv. Sie glauben daran, sich auch in Krisenzeiten durchsetzen zu können, wenn sie
sich nur anstrengen. Wichtig sind ihnen demnach die eigene Tätigkeit, also Arbeit, Schule, Ausbildung und
Weiterbildung (jeweils für 89 Prozent) – Rückhalt suchen sie bei Freunden, Bekannten (für 98 Prozent
wichtig) und der Familie (für 97 Prozent wichtig).
Allerdings stehen die Jungen unter Druck, wie die Befragung zeigt:
- „In der Arbeit/in der Schule/im Studium stehe ich stark unter Druck“: Das sagen bereits 56 Prozent der Befragten.
Zusätzlich meint rund die Hälfte, dass der Druck weiter ansteigen wird.
- Viele müssen neben Schule oder Studium Geld verdienen: 15 Prozent der SchülerInnen ab 15 Jahren arbeiten
ganzjährig neben der Schule, über 40 Prozent in den Schulferien. Von den Studierenden arbeiten drei Viertel
neben dem Studium, rund die Hälfte ist ganzjährig berufstätig, ein Viertel jedenfalls in den Ferien.
Hauptgrund für Arbeit neben Schule oder Studium ist die eigene finanzielle Lage. Je schlechter SchülerInnen
und Studierende ihre finanzielle Lage beurteilen, desto häufiger sind sie neben Schule oder Studium berufstätig.
- In Praktika fühlt sich die Mehrheit der Jungen ausgenützt: „Die meisten Betriebe benutzen Praktikanten
nur als billige Arbeitskräfte“, sagen gut zwei Drittel der Befragten. Freilich spricht das für die meisten
nicht gegen Praktika an sich, sondern gegen die Praxis der Praktika.
- Die Zufriedenheit mit Ausbildung oder Beruf ist eher durchwachsen: Fast die Hälfte der SchülerInnen
(48 Prozent) geht „sehr ungern“, „nicht so gern“ oder „teils gern, teils ungern“ in die Schule. Unter den Lehrlingen
beträgt der entsprechende Anteil 30 Prozent, unter den Berufstätigen 29 Prozent und unter den Studierenden
22 Prozent.
- Unter den Berufstätigen regt sich Unmut über die Bezahlung: Nur 46 Prozent fühlen sich leistungsgerecht
bezahlt, 38 Prozent nicht (16 Prozent machten dazu keine Angabe).
- In Schule und Ausbildung fordern die Jugendlichen mehr individuelle Betreuung und Förderung, vor allem
mehr Menschlichkeit von LehrerInnen und AusbildnerInnen. Die Schulausbildung sollte mehr individuelle Spielräume
und Wahlmöglichkeiten bieten. Viele meinen, dass es in Schule, Ausbildung und an der Uni auch um Menschen-
und Persönlichkeitsbildung gehen sollte. Auch die Lehrausbildung sollte nicht nur auf die Vermittlung von
Fachwissen reduziert werden.
Einstellung zu Politik und Institutionen
Für Politik interessieren sich die 14 bis 29-Jährigen durchaus. 16 Prozent sind sehr an Politik interessiert,
38 Prozent etwas. Die Werte sind im Vergleich zum Jahr 1990 gestiegen und liegen auf dem gleichen Niveau wie in
der Gesamtbevölkerung in Österreich. Die Jugendlichen haben auch eine relativ große Bereitschaft,
sich außerhalb der Lebenswelt von Familie und FreundInnen zu engagieren, freilich eher punktuell und außerhalb
der traditionellen Institutionen.
Mehrheitlich stufen sich die 14 bis 29-Jährigen eher als „links“ ein, wobei das Unterscheidungskriterium zwischen
links oder rechts in der Hauptsache „für Ausländer“ oder „gegen Ausländer“ ist.
Hohes Vertrauen haben die Jungen in das Gesundheitssystem (75 Prozent), die Arbeiterkammer (61 Prozent), die Polizei
(60 Prozent) und in Rechtsprechung/Gerichte (59 Prozent).
Weniger vertrauen die Jungen in große Wirtschaftsunternehmen (27 Prozent), Regierung (27 Prozent), Religionsgemeinschaften
(21 Prozent) und politische Parteien (19 Prozent).
Sorgen und Wünsche der Jungen ernst nehmen
„Für mich ist es ein Alarmsignal, wie stark sich die jungen Menschen in Österreich heute unter Druck
gesetzt fühlen“, sagt AK Präsident Herbert Tumpel. Ernst zu nehmen sei auch die Forderung der Jungen
nach mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft: „Bei der Kritik und den Forderungen der Jungen müssen wir ansetzen,
wenn wir nicht eine ganze Generation enttäuscht zurücklassen wollen.“
Wunsch nach Gerechtigkeit
„Ich verstehe, dass die Jungen nach der Krise eine tiefe Machtlosigkeit gegenüber den Vorgängen
in Staat und Wirtschaft empfinden,“ sagt Tumpel. Tatsächlich laufe etwas schief: „Arbeit wird in Österreich
hoch besteuert, Vermögen kaum. Mit unserem Geld zahlen wir alle für die Verluste der Spekulanten. Und
die hohen Preise machen vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Leben kaum leistbar.“
Tumpel unterstützt die Forderung der Jungen, dass jene, die mehr besitzen, auch einen größeren
Beitrag leisten müssen. „Öffentliche Investitionen für Wachstum und Beschäftigung sollen durch
eine deutliche Erhöhung der Steuern auf Vermögen und Spitzeneinkommen gegenfinanziert werden. Gleichzeitig
brauchen wir wirksame Maßnahmen gegen Steuerbetrug und ein Ende des Steuersenkungswettlaufs um die niedrigste
Unternehmensbesteuerung in Europa.“
Was die Jungen betrifft, geht es für Tumpel „um nichts weniger, als das Vertrauen in die gesellschaftliche
Entwicklung wieder herzustellen. Wir müssen die Sorgen der Jungen ernst nehmen. Wir brauchen ja auch ihr Engagement
und ihren Einsatz, wenn wir mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft wollen.“
Schule, Berufsausbildung, Studienbedingungen verbessern
„Für mehr individuelle Betreuung und Förderung in der Schule haben wir einiges erreicht“, sagt
Tumpel, „als die mittlerweile beschlossene modulare Oberstufe erprobt wurde, waren wir von Anfang an dabei.“
Zur Förderung in der Schule sei freilich noch einiges zu tun:
- Individuelle Förderung, wenn in der Schule das Scheitern droht: Läuft ein Kind Gefahr, zum Schulschluss
negativ abzuschließen, sollen Lernförderung und sozialpsychologische Betreuung in der Schule verpflichtend
sein. Dafür brauchen die Schulen die nötigen Fachkräfte.
- Schule soll Jugendliche bei der Entwicklung von Autonomie und Selbstverwirklichung unterstützen. Daher
fordert die Arbeiterkammer das verpflichtende Unterrichtsfach Bildungs- und Berufsorientierung in der 7. und 8.
Schulstufe und in den Oberstufenschulen.
- Wichtig ist eine reelle zweite Chance, wenn jemand einen Abschluss nicht auf den ersten Anlauf schafft: Auch
das Nachholen von Lehrabschlüssen und der Matura soll kostenlos werden.
- In der betrieblichen Lehrausbildung tritt die Arbeiterkammer für mehr Qualität ein. Sie fordert die
gesetzliche Einführung eines Qualitätsmanagements für die Ausbildung. Nötig ist auch mehr Aus-
und Weiterbildung für AusbildnerInnen.
- An den Hochschulen muss endlich Rücksicht darauf genommen werden, dass immer mehr Studierende gleichzeitig
berufstätig sein müssen. Verbessert werden muss das System der Studienbeihilfen, ausgebaut werden müssen
berufsbegleitende Studienangebote und insbesondere der Fachhochschulsektor.
Forderung: Schluss mit dem Ausnutzen junger Menschen beim Berufseinstieg
„Wir brauchen Initiativen gegen den Wildwuchs bei Praktika und für die Beschäftigung der jungen
Leute entsprechend ihrer Qualifikation“, sagt Tumpel.
- Bei Pflichtpraktika soll in den Lehr- und Studienplänen verankert werden, dass sie nur im Rahmen von echten
Dienstverhältnissen zulässig sind.
- Bildungsabschlüsse müssen beim Berufseinstieg auch anerkannt werden. Auf den Abschluss einer berufsbildenden
Schule (zum Beispiel HAK) soll nicht mehr, wie derzeit, eine fachgleiche Lehre (zum Beispiel Bürokauffrau/mann)
folgen dürfen.
Daten zur Jugendwertestudie: durchgeführt vom Institut für Jugendkulturforschung im Jahr 2011; Fragebogenerhebung
auf Basis einer repräsentativen Stichprobe von n=1.500; Altersegment: 14- bis 29-Jährige; qualitative
Interviews: 8 Focus-Gruppen mit 14- bis 29-Jährigen, 13 fokussierte Interviews mit 14- bis 29-Jährigen;
im Auftrag der Arbeiterkammer Wien; weitere Fördermittel von AK Niederösterreich, Bundeskanzleramt, Sozialministerium,
Unterrichtsministerium, OMV
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