Hier die ausführliche Erklärung zur Ratifizierung der beiden Staatsverträge
Erklärung des Bundespräsidenten anlässlich der Ratifizierung des Vertrages über
Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion („Fiskalpakt“) und des
Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)
Die österreichische Bevölkerung verlangt mit Recht von der Bundesregierung, vom Parlament, aber auch
vom Bundespräsidenten, dass wichtige Entscheidungen sachlich und möglichst verständlich erklärt
werden. Dies gilt auch für die Unterzeichnung (Ratifizierung) des Fiskalpaktes und des Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM) durch den Bundespräsidenten nach der Beschlussfassung in Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat.
Mit dieser Zielsetzung wurde die nachstehende Erklärung verfasst:
1. Die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass die Währungsunion nur funktioniert,
wenn die wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen den Staaten der Eurozone besser gestaltet wird. Als logische
Konsequenz wurde daher in allen Eurostaaten und darüber hinaus in weiten Teilen der Europäischen Union
das Bestreben nach einer verstärkten wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit und nach einem gemeinsamen Vorgehen
in der Bekämpfung der Krise immer lauter. Der ESM sowie der Fiskalpakt stellen dabei zwei Elemente eines umfassenden
Euro-Stabilisierungspaketes dar.
2. Mit dem ESM soll ein dauerhafter Schutzschirm eingerichtet werden, der letztlich verhindern soll, dass
auf den Bankrott von Staaten spekuliert und ein wirtschaftlicher Flächenbrand ausgelöst wird, der bis
zum Auseinanderbrechen der Währungsunion mit unvorhersehbaren ökonomischen Folgen führt. Der ESM
liegt somit im Interesse aller Mitgliedsstaaten des Euroraums. Dabei werden Finanzhilfen insbesondere in Form von
Krediten gewährt, die an strenge Konditionen gebunden sind.
3. Da mit dem ESM Haftungen der ESM-Mitglieder verbunden sind, ist die Gewährleistung einer soliden
Budgetpolitik notwendig. Der Fiskalpakt soll dabei die Haushaltsdisziplin stärken und die Wirtschafts-, Finanz-
und Haushaltspolitiken der Vertragsparteien dieses Staatsvertrages besser miteinander koordinieren. Darüber
hinaus steht fest, dass die konsolidierende Wirkung des Fiskalpaktes durch eine Politik der Wachstumsimpulse und
der Investitionen ergänzt werden muss.
4. Über den Fiskalpakt wurde zwischen 25 europäischen Staaten (alle EU-Staaten mit Ausnahme von
Großbritannien und der Tschechischen Republik), über den ESM zwischen den 17 Mitgliedstaaten der Eurozone
Einstimmigkeit erzielt und das Verhandlungsergebnis von hochrangigen Vertretern dieser Staaten – auch von Österreich
– unterzeichnet.
5. Nach der Erzielung dieses einvernehmlichen Ergebnisses begann der Ratifizierungsprozess, also der Prozess
der innerstaatlichen Genehmigung, in den einzelnen Vertragsstaaten. In allen 25 Fiskalpaktländern bzw. allen
17 ESM-Ländern haben die Regierungen dem Verhandlungsergebnis zugestimmt. In der Mehrzahl der Vertragsstaaten
liegt auch die parlamentarische Genehmigung bereits vor. Das ist auch in Österreich der Fall.
6. Die beiden nunmehr dem österreichischen Bundespräsidenten zur Ratifizierung vorliegenden Verträge
über Fiskalpakt und ESM sind Staatsverträge, die zwischen den genannten 25 bzw. 17 europäischen
Staaten abgeschlossen wurden. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Bundespräsident bei der Entscheidung
über die Ratifizierung eines Staatsvertrages – analog zur Regelung über die Beurkundung von Bundesgesetzen
in Art. 47 Abs. 1 B-VG – auch zur Prüfung der Frage verpflichtet ist, ob dieser verfassungsmäßig
zustande gekommen ist.
7. Beim Fiskalpakt wurden in der öffentlichen Debatte in Österreich unterschiedliche Rechtsmeinungen
zu der Frage geäußert, ob seine Genehmigung durch den Nationalrat einer einfachen oder einer qualifizierten
Mehrheit sowie einer qualifizierten Zustimmung des Bundesrates bedürfe beziehungsweise ob die Erlassung eines
eigenen Bundesverfassungsgesetzes zur Absicherung des Inhaltes notwendig wäre.
8. Die einstimmige Meinung der Bundesregierung – die diese Frage verneint – ist in den Erläuterungen
zur Regierungsvorlage dokumentiert. Sie stützt sich auf die eindeutigen Ausführungen des Verfassungsdienstes
im Bundeskanzleramt und des Völkerrechtsbüros im Bundesministerium für europäische und internationale
Angelegenheiten. Die Mehrheit des Nationalrates und des Bundesrates folgte dieser Rechtsauffassung.
9. Sowohl bestätigende, aber auch abweichende Meinungen wurden im Expertenhearing des Verfassungsausschusses
des Nationalrates am 28. Juni 2012 und in weiteren veröffentlichten Stellungnahmen geäußert. Von
den im Hearing im Verfassungsausschuss erörterten Rechtsfragen sind die beiden nachstehenden die wichtigsten:
- Handelt es sich beim Fiskalpakt um einen völkerrechtlichen Vertrag gemäß Art. 50 Abs. 1 Z 1
B-VG oder um eine Regelung, die gemäß Art. 50 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4
- B-VG als Änderung des EU-Primärrechts gesehen werden muss und für die eine qualifizierte Mehrheit
oder ein besonderes Bundesverfassungsgesetz notwendig wäre?
- Reicht Art. 9 Abs. 2 B-VG, der die „Übertragung einzelner Hoheitsrechte“ ermöglicht, als Rechtsgrundlage
aus, oder werden mehr als „einzelne Hoheitsrechte“ übertragen? Sind darüber hinaus die Unionsorgane „zwischenstaatliche
Einrichtungen“ im Sinne des Art. 9 Abs. 2 B-VG?
10. Die österreichische Bundesregierung und jene Verfassungsexperten, die den Rechtsstandpunkt der
Bundesregierung teilen, weisen darauf hin, dass ausdrücklich die Ausarbeitung eines speziellen Staatsvertrages
außerhalb des EU-Rechtes in Angriff genommen wurde. Beim gesamten Verhandlungsprozess sei darauf Bedacht
genommen worden, dass dieser Staatsvertrag einerseits mit dem EU-Recht nicht in Widerspruch steht (was auch vom
Rechtsdienst der Europäischen Kommission bestätigt wird), andererseits aber auch mit der österreichischen
Bundesverfassung vereinbar ist.
11. Die Rechtsmeinung der Bundesregierung ist durchaus schlüssig. Aber auch in den abweichenden kritischen
Äußerungen sind Überlegungen enthalten, die Aufmerksamkeit verdienen. Es stellt sich daher die
Frage, wie diese Umstände im Hinblick auf die notwendige Entscheidung über eine Ratifizierung des Fiskalpaktes
zu beurteilen sind. Dazu gibt es folgende Anhaltspunkte:
- Die herrschende Lehre zur Beurkundung durch den Bundespräsidenten wurde zuletzt von Univ.Prof. Dr. Hans
Peter Rill wie folgt prägnant formuliert: „Nach Art. 47 Abs. 1
- B-VG hat der Bundespräsident Gesetzesbeschlüsse nur dann zu beurkunden, wenn sie weder in verfahrensrechtlicher
noch in materiellrechtlicher Hinsicht offenkundig verfassungswidrig sind.“ (Die Rolle des Bundespräsidenten
als Hüter der Verfassung, in: ZfV 2008/581, 316). Auch die früheren Präsidenten des Österreichischen
Verfassungsgerichtshofes, Prof. Adamovich und Prof. Korinek haben diese Meinung immer wieder vertreten und vertreten
sie auch in diesem konkreten Fall.
- Eine offenkundige Verfassungswidrigkeit im Sinne der herrschenden Lehre liegt nicht vor. Es gibt bisher auch
keine einschlägige Vorjudikatur des Verfassungsgerichtshofes. Entsprechend der herrschenden Lehre liegt daher
kein Grund vor, der eine Verweigerung der Ratifizierung rechtfertigen würde.
- In der Praxis der II. Republik hat sich auch Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger mit der Zuständigkeit
des Bundespräsidenten bei der Prüfung des verfassungsmäßigen Zustandekommens von Bundesgesetzen
auseinandergesetzt. Dabei vertrat er die Auffassung, auch „im Zweifel“ habe der Bundespräsident die Verfassungsmäßigkeit
des Zustandekommens eines Bundesgesetzes zu beurkunden. Denn immer dann, wenn er die Beurkundung unterlasse, nehme
er der parlamentarischen Mehrheit die Möglichkeit, ihre Auffassungen durchzusetzen, während dann (und
nur dann), wenn er die Beurkundung vornehme, die Frage der Verfassungsmäßigkeit vom Verfassungsgerichtshof
geprüft und entschieden werden könne (vgl. Karl Korinek, Die Beurkundung der Bundesgesetze durch den
Bundespräsidenten, in: Alois Mock/Herbert Schambeck [Hg.], Verantwortung in unserer Zeit. Festschrift für
Rudolf Kirchschläger, Wien 1990, 124).
12. Für die Frage der Ratifizierung des Fiskalpaktes, dessen Anfechtung die Oppositionsparteien (FPÖ,
Grüne, BZÖ) schon angekündigt haben, lässt sich daher Folgendes festhalten:
- Wenn der Bundespräsident die Ratifizierung verweigert, dann verhindert er eine Überprüfung durch
den Verfassungsgerichtshof, da im Falle einer Verweigerung der Ratifizierung eine Anfechtung vor dem Verfassungsgerichtshof
in Österreich nicht möglich ist.
- Wenn der Bundespräsident aber die Ratifizierung im Sinne der herrschenden Lehre und im Sinne der Rechtsauffassung
von Regierung und Parlamentsmehrheit vornimmt, dann eröffnet er zugleich den Oppositionsparteien die Möglichkeit
ihren Standpunkt vor den Verfassungsgerichtshof zu bringen, der dann endgültig entscheidet.
13. Zum verfassungsmäßigen Zustandekommen des ESM wurden seitens der Staatsrechtslehrer, die
sich zum Fiskalpakt geäußert haben, keine ins Gewicht fallenden Bedenken geäußert und die
Mehrheit im Parlament war in Folge der Zustimmung der Grünen Parlamentsfraktion wesentlich größer.
Auch bei der Überprüfung durch die Präsidentschaftskanzlei sind keine entsprechenden Bedenken hervorgekommen.
14. In der Öffentlichkeit wurde auch die Frage aufgeworfen, warum der österreichische Bundespräsident
nicht so vorgehe wie der Bundespräsident in Deutschland; dieser hatte erklärt, die Genehmigungsgesetze
betreffend den ESM und den Fiskalpakt nicht vor der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts über
anhängige „Eilanträge“ betreffend die Untersagung der Unterzeichnung auszufertigen. Dazu ist festzuhalten,
dass nach deutschem Verfassungsrecht das Bundesverfassungsgericht ein Genehmigungsgesetz für einen Staatsvertrag
schon nach Vorliegen des Gesetzesbeschlusses, also noch vor der Ratifizierung durch den Bundespräsidenten
prüfen kann. In Österreich hingegen kann der Verfassungsgerichtshof die Rechtmäßigkeit eines
Staatsvertrages nur prüfen, wenn dieser im Bundesgesetzblatt kundgemacht wurde; dies wiederum setzt die Ratifikation
durch den Bundespräsidenten voraus (siehe den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 30.9.2008, SV2/08,
G80/08 ua).
15. Der Bundespräsident hat schon am 1. Oktober 2009 im Zusammenhang mit der Ratifikation des Vertrages
von Lissabon in einer Rede vor dem Österreichischen Verfassungstag den Standpunkt vertreten, dass die österreichische
Rechtslage in diesem Punkt verbessert werden sollte, indem man dem Bundespräsidenten die Möglichkeit
einräumt, im Zusammenhang mit der Prüfung des verfassungsmäßigen Zustandekommens eines Staatsvertrages
die Rechtsmeinung des Verfassungsgerichtshofes noch vor der Ratifizierung einzuholen. Er fühlt sich dabei
durch die in eine ähnliche Richtung gehenden Ausführungen des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes
in einer Pressekonferenz vom 12. Juli 2012 bestärkt.
16. Im Hinblick auf die obigen Überlegungen hat der Bundespräsident am 17. Juli 2012 die beiden
Verträge ratifiziert.
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