Wien (universität) - Wie Zusehende die Aussagen von PolitikerInnen in TV-Streitgesprächen verstehen
und bewerten, wurde nun im Rahmen eines Projekts des Wissenschaftsfonds FWF detailliert untersucht. Software-unterstützte
Gesprächsanalysen zeigten dabei, wie das individuelle soziale Wissen von ZuseherInnen zur Deutung - und Umdeutung
- politischer Aussagen führt. So gelang es erstmals, die Rolle unterschiedlicher "Deutungsrahmen"
für unser Verständnis der politischen Wirklichkeit realistisch und im Detail zu erfassen.
Wie PolitikerInnen Ihre Positionen und Deutungen bei Zusehenden verankern können, wurde wissenschaftlich bis
heute kaum zufriedenstellend analysiert. Zu komplex schienen die Anforderungen an eine Methodik zum Nachvollziehen
der Wahrnehmungsprozesse von potenziellen WählerInnen. Genau hier setzte nun ein vom FWF unterstütztes
und soeben abgeschlossenes Projekt an. Die dreijährige Forschungsarbeit des "Frame Project" zeichnet
anhand von sogenannten "Deutungsrahmen" nach, wie Verstehen und Wahrnehmung im Kontext politischer TV-Debatten
funktionieren.
Diskurspolitik
So lassen sich Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse von TV-ZuseherInnen mithilfe von Deutungsrahmen sehr gut rekonstruieren
und verstehen. Projektleiter Dr. Emo Gotsbachner vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität
Wien: "Unsere Art des politischen Verstehens ist sozial erlernt. Das Erlernte stellt ein Repertoire an bekannten
Mustern bereit, innerhalb derer wir neue Informationen interpretieren. Aus ihnen bilden wir unsere Deutungsrahmen.
Wenn nun Deutungsmuster anderer Parteien nicht zu unserem Deutungsrahmen passen, so nehmen wir diese als Äußerungen
des gegnerischen politischen Lagers wahr und schalten unsere Aufnahmebereitschaft ab."
Das Frame Project zeigt anschaulich, wie PolitikerInnen in TV-Diskussionen versuchen, mit ihren Botschaften möglichst
viele Zusehende zu überzeugen. Sie versuchen, Blockaden in der Aufnahmebereitschaft von weniger parteiaffinen
Zusehenden geschickt zu durchbrechen. Durch eine Art publikumsorientierter Sprechweisen - vor allem durch die Verwendung
heteroglotter Deutungsrahmen - versuchen sie, auch abseits ihres Klientels zu punkten. Das wurde unter anderem
anhand der Analyse einer Fernsehdiskussion gezeigt, die zwischen Heinz Christian Strache (FPÖ) und Eva Glawischnig
(Grüne) geführt wurde. Dazu Dr. Gotsbachner: "In vielen rhetorischen Strategien lässt sich
der Versuch beobachten, Anhänger und Anhängerinnen des anderen politischen Spektrums anzusprechen. Um
ihre Botschaften auch abseits von parteiaffinen Zusehenden erfolgreich zu verankern, nutzten beide PolitikerInnen
heteroglotte Deutungsrahmen." So verwendete z. B. die linksliberale Politikerin Glawischnig auch konservativ
gefärbte Sprachmuster, um ihren eigenen Deutungsrahmen für konservativ eingestellte Zusehende attraktiv
zu machen. Ziel dabei war es, dass Zusehende diesen Deutungsrahmen übernehmen und neue Informationen danach
interpretieren.
Umdeutungen von Deutungen
Eine detaillierte Diskursanalyse zeigte bei diesem Fallbeispiel erstaunliche Resultate: So übernahmen eher
konservativ eingestellte ZuseherInnen zwar den Deutungsrahmen der linksliberalen Politikerin. Die Bewertung der
konservativ eingestellten Zusehenden fiel jedoch an zentraler Stelle anders aus als von der Politikerin intendiert.
Aus Glawischnigs Kritik an antisemitischen Äußerungen eines FPÖ-Politikers wurde etwa bei einer
Gruppe von Zusehenden ein reflexartiges "die ausländische Presse wartet ja nur darauf, uns wieder als
Nazi-Land diskreditieren zu können". Dazu Dr. Gotsbachner: "Mittels der von uns weiterentwickelten
sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse gelang es uns zu zeigen, wie die konservativ eingestellten Zusehenden eine
Leerstelle in Glawischnigs Deutungsrahmen nutzten, um ihn mit eigenen, sozial erlernten Wissensbeständen zu
füllen."
Insgesamt wurden im Rahmen des Frame Projects alle politischen Fernsehdiskussionen aus den ORF-Abendnachrichten
kurz nach der Ausstrahlung jeweils 4-5 Gruppen von TV-Konsumierenden vorgeführt. Bei der Auswahl dieser Gruppen
wurde besonders darauf geachtet, verschiedene ZuschauerInnenschichten mit unterschiedlichem sozialem und politischem
Hintergrund einzubeziehen. Deren Wahrnehmung und Bewertung der in den TV-Diskussionen getätigten Aussagen
wurde in 23 offenen Gruppengesprächen von 1 bis 2,5 Stunden erhoben, mithilfe der qualitativen Software Atlas-ti
in Bezugnahmerastern aufgearbeitet und in aufwendiger Feinarbeit analysiert. So konnte im Rahmen des FWF-Projekts
eine neue Methode zur Erforschung der politischen Wahrnehmung erfolgreich entwickelt und erprobt werden. Die gewonnenen
grundlegenden Erkenntnisse stellen eine wertvolle Basis für weitere Untersuchungen in vielen wissenschaftlichen
Disziplinen - von der Soziologie bis zu Kognitionswissenschaft und angewandter Linguistik - dar. |