Freitag, 25.1.2013, Holocaust-Gedenktag, Thema "NS-Euthanasie"
Wien (pk) - Neue Wege geht das Parlament beim Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
"Denn es wird der Zeitpunkt kommen, an dem Überlebende des Holocaust nicht mehr unter uns sein werden
und den nachfolgenden Generationen ihre furchtbaren Erlebnisse nicht mehr erzählen können", sagt
Nationalratspräsidentin Barbara Prammer zur bevorstehenden Uraufführung der Oper "Spiegelgrund"
am Freitag, dem 25.1.2013, um 17 Uhr, im historischen Sitzungssaal. Der Linzer Komponist Peter Androsch thematisiert
in seinem Werk den Mord an mindestens 790 kranken oder behinderten Kindern in der Kinderfachabteilung der Pflegeanstalt
am Wiener Spiegelgrund während des "Dritten Reiches". "Diese Oper berührt, macht betroffen
und ist ein Appell an uns alle, Verantwortung zu übernehmen und Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus
immer wieder entschieden zurückzuweisen", sagt Barbara Prammer. Die Uraufführung der Oper "Spiegelgrund"
dient dem Gedenken an die Opfer der NS-Euthanasie und ist der Beitrag des Hohen Hauses zum Internationalen Holocaust-Gedenktag
der Vereinten Nationen, der seit 2005 alljährlich an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau
am 27. Jänner 1945 erinnert.
Was geschah "Am Spiegelgrund"?
Nach dem "Anschluss" an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 erlangte die Ideologie der
"Rassenhygiene" auch in Österreich eine dominierende Rolle. Der Medizin wurde die Aufgabe zugewiesen,
"minderwertige Menschen aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft auszumerzen". Die Ermordung
geistig Behinderter, psychisch Kranker und Unangepasster war eine Vorstufe zur Vernichtungspolitik gegen JüdInnen,
Roma und Sinti.
Ein Zentrum der nationalsozialistischen Tötungsmedizin war die Wiener Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof.
Dort wurden tausende PatientInnen ermordet, darunter mindestens 790 behinderte Kinder und Jugendliche in der Kinderfachabteilung
Am Spiegelgrund; sie wurden mit Schlafmitteln vergiftet, mit Kaltwasserduschen und Speibinjektionen geschwächt
und erlagen infolgedessen tödlichen Infektionen. Diese Verbrechen blieben ungeahndet, weil erst in den 1990er
Jahren ein Strafprozess gegen den verantwortlichen Arzt, den prominenten Neuropathologen Heinrich Gross eingeleitet
wurde. Gross hatte noch nach dem Krieg seine "Forschungen" am Spiegelgrund publiziert und als Gerichtsgutachter
fungiert. Der Prozess gegen ihn konnte wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nicht zu Ende geführt
werden. Die sterblichen Überreste der Kinder vom Spiegelgrund, die noch lange als medizinische Präparate
verwendet wurden, fanden erst im 21. Jahrhundert in einem Ehrengrab der Stadt Wien ihre letzte Ruhe.
Die Oper "Spiegelgrund"
Der Komponist Peter Androsch beschreibt seine Oper als ein Tryptichon mit drei Tafeln und drei Sphären - Gesetz,
Kinderlied und Erinnerung. "Spiegelgrund" enthält Texte des Literaturwissenschaftlers und Kulturjournalisten
Bernhard Doppler, der Dramaturgin und Autorin Silke Dörner und des antiken Historikers und Biographen Plutarch.
Rezitative bringen historische Erklärungen. In der Auseinandersetzung mit der Ideologie des Nationalsozialismus
führt Androsch den Zuschauer bis in die Antike zurück. Mit gutem Grund: Hitler bewunderte den legendären
Gesetzgeber Lykurg und den Militärstaat der Spartaner, wo – laut Plutarch - alles Leben dem Krieg untergeordnet
war, wo man missgestaltete Kinder nach der Geburt aussetzte, wo grausame Erziehungsmethoden herrschten und Sklaven
regelmäßig getötet wurden. An dieser Stelle könnte der Gegensatz zwischen Hitlers archaischem
Sparta-Bild und dem Bühnenambiente der Uraufführung wahrnehmbar werden, dem heiteren Griechentum des
Architekten Theophil Hansen, der dem Reichsratssaal die Form eines Amphitheaters gab und ihn mit Bildern und Statuen
attischer Demokraten und römischer Republikaner schmückte, um die antiken Wurzeln der Demokratie deutlich
zu machen.
In Peter Androschs Oper macht das Kinderlied "Kommt ein Vogel geflogen" dagegen das Heimweh der gequälten
Kinder am Spiegelgrund spürbar, während in der Erinnerung aus Berichten Überlebender zitiert wird,
um langsam die Sprachlosigkeit zu überwinden und Worte für das Grauen zu finden: "Karren voll von
kleinen toten Kindern wie weggeworfene Puppen".
Für die Produktion der Oper "Spiegelgrund" von Peter Androsch sorgt die Anton Bruckner Privatuniversität
des Landes Oberösterreich, die sich der klassischen Musikausbildung und zugleich der Pflege der zeitgenössischen
Oper und der Aufarbeitung des Werkes verfolgter und verfemter KomponistInnen widmet.
An der Aufführung wirken mit: Thomas Kerbl (Dirigent), Katerina Beranova (Sopran), Robert Holzer (Bass), Alexandra
Diesterhöft (Stimme des Kindes), Karl M. Sibelius (Sprecher), Ensemble 09, Alexander Hauer (Regie) und Ingo
Kelp (Lichtregie).
ORF-Programmschwerpunkt "Opfer der NS-Euthanasie"
ORF III wird eine Live-Übertragung der Uraufführung am kommenden Freitag in seinen aktuellen Programmschwerpunkt
"NS-Euthanasie" einbetten (ORF III, 17.20). Im Anschluss an die Opernaufführung wird Moderatorin
Barbara Rett den Komponisten Peter Androsch interviewen. Zudem bringt ORF III unter dem Titel "Ein ganz normaler
Arzt" Reportagen über den Spiegelgrund-Stationsarzt Heinrich Gross (ORF III, 18.30 Uhr) sowie über
"Das Mordschloss" in Hartheim bei Linz, wo zur Zeit der NS-Herrschaft tausende Psychiatriepatienten,
Alte, Kranke, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter getötet wurden (ORF III, 10.15 Uhr).
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