Bericht: 42.700 pflegende Kinder und Jugendliche 

 

erstellt am
30. 01. 13

Deutlich höhere Zahl an Betroffenen als bisher angenommen
Wien (pk) - Ein aktueller Bericht des Sozialministeriums beleuchtet erstmals umfassend die Situation von Kindern und Jugendlichen, die sich regelmäßig um chronisch kranke Familienmitglieder kümmern. Ein auch für die Autoren des Berichts überraschendes Ergebnis war, dass österreichweit von etwa 42.700 Betroffenen ausgegangen werden muss; eine deutliche höhere Zahl als bisherige Berechnungen vermuten ließen.

Pflegende Kinder sind ein globales Phänomen, deren Lage in Österreich bisher noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, heißt es einleitend in der dem Bericht zu Grunde liegenden Studie des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Wien. Im ersten Teil wurde nicht nur die Anzahl gegenwärtig pflegender Kinder und Jugendlicher – sogenannte "Young Carers" - erhoben, sondern auch die Art und der Umfang ihrer Pflegetätigkeiten sowie die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen für sich selbst und für die Familie. Für den zweiten – qualitativen - Studienteil wurden ehemalige pflegende Kinder interviewt, um zu ergründen, welche Auswirkungen eine frühe als Kind oder Jugendlicher erlebte Pflegeerfahrung auf das private und berufliche Leben hat. Außerdem wollten die Wissenschaftler in Erfahrung bringen, was ehemalige pflegende Kinder in der damaligen Situation als Unterstützung gebraucht hätten.

Anteil an pflegenden Kindern und Jugendlichen bei 3,5 %
Der hochgerechnete Anteil an pflegenden Kindern im Alter von 5 bis 18 Jahren in Österreich beträgt 3,5 %, lautet das Resümee der Wissenschaftler. Es wird davon ausgegangen, dass der Anteil pflegender Kinder linear mit dem Alter zunimmt, wobei es in der Gruppe der 10- bis 14-Jährigen einen stärkeren Anstieg gibt als in den übrigen Altersstufen. Geht man davon aus, dass der Anteil an pflegenden Kindern nicht nur auf die beiden in der Studie umfassten Bundesländer Wien und Niederösterreich, sondern auf alle Bundesländer zutrifft, entspricht dies einer Zahl von etwa 42.700 pflegenden Kindern in Österreich. Damit ist die Anzahl pflegender Kinder in Österreich deutlich höher als bisherige Berechnungen vermuten ließen. Dies liege aber nicht an der speziellen Situation in Österreich, sondern an der gewählten Methode, die in dieser Form noch nie angewendet wurde, erläutern die Autoren. Die Ergebnisse machen aber nochmals deutlich, dass international ausgewiesene Zahlen über pflegende Kinder unterbewertet sind.

Zur Situation gegenwärtig pflegender Kinder und Jugendlicher
Wenn man sich die aktuelle Situation genauer anschaut, dann beträgt das durchschnittliche Alter der pflegenden Kinder, die zu 69,8 % weiblich sind, ca. 12,5 Jahre. Sie haben im Schnitt etwas mehr Geschwister als nicht pflegende Kinder. Die Anzahl der erwachsenen Personen im Haushalt zeigt keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Entstehung kindlicher Pflege. 11,3% der pflegenden Kinder leben mit einem Elternteil im Haushalt im Vergleich zu 12,5% der nicht pflegenden Kinder. Auch die Migration hat keinen signifikanten Einfluss auf kindliche Pflege, heißt es in der Studie. Rund 30% der Eltern von pflegenden und nicht pflegenden Kindern sind im Ausland geboren. Was den Faktor Wohlstand angeht, der anhand von vier Merkmalen (Urlaub, Auto, Taschengeld, eigenes Zimmer) ermittelt wurde, so ist auch daraus kein signifikanter Einfluss auf die Entstehung kindlicher Pflege abzuleiten. Allerdings schätzen sich pflegende Kinder selbst tendenziell etwas ärmer ein.

Pflegende Kinder leisten in den verschiedensten Lebensbereichen Unterstützungsarbeit. Je nachdem wo ihre Hilfe gebraucht wird, helfen sie im Haushalt, den gesunden Geschwistern oder in der direkten Pflege für die erkrankte Person. 23% der pflegenden Kinder helfen in allen drei genannten Bereichen überdurchschnittlich viel. 14% der pflegenden Kinder geben an, fünf oder mehr Stunden pro Tag unterstützend tätig zu sein. Dies macht deutlich, wie viel Verantwortung diese Kinder in ihrem Alltag übernehmen. 81% der Kinder geben an, der Mutter "eher viel" bis "viel" zu helfen, wenn zu Hause jemand krank ist. 63% helfen den Geschwistern und 60% helfen dem Vater. Hilfen von außen, zum Beispiel durch Freunde oder eine Pflegeperson, geben die Kinder nur selten an.

Die meisten Betroffenen wachsen mit der Erkrankung eines Angehörigen vom Kleinkindalter an auf. Bei manchen setzten die ersten Erinnerungen an das kranke Familienmitglied und die Beteiligung an dessen Pflege bereits ab dem dritten Lebensjahr ein. Sie waren daher sehr lange in die Pflege involviert und beschrieben die Pflege als Normalität. Andere kannten das Familienmitglied nur erkrankt und übernahmen pflegerische Aufgaben erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Bedürftigkeit zunahm. Die Pflege des Angehörigen endete zumeist nicht mit dem 18. Lebensjahr und ging auch sehr oft mit dem Zeitpunkt des Todes des kranken Familienmitglieds zu Ende.

Wir wirkt sich (früh)kindliche Pflege im Erwachsenenalter aus?
Das Vorhandensein kindlicher Pflegeerfahrung lasse nicht den Schluss zu, dass alle Betroffenen schwer belastet sind oder dieselben Auswirkungen erleben, heben die Autoren hervor. Diese stehen, wie bereits erwähnt, im engen Zusammenhang mit den sehr unterschiedlich erlebten Pflegeerfahrungen in der Kindheit. Allerdings gibt es kein ehemaliges pflegendes Kind, welches keine Auswirkungen auf das Erwachsenenalter beschreibt. Auswirkungen zeigen sich in psychischer, körperlicher oder sozialer Hinsicht. Dies reiche von Schuldgefühlen, Verlustängsten, übersteigertem Kontrollbewusstsein oder einem starken Bedürfnis nach Ordnung. Einige haben nie ein "normales" kindliches Leben kennen gelernt oder hatten keine Idee davon, wie andere Familien ihr Leben gestalten. Betroffene gehen im Erwachsenenalter auf unterschiedliche Arten mit der erlebten Pflegeerfahrung um. Womit aber alle zu kämpfen haben, sind immer wiederkehrende "innere Bilder", mit denen besonders prägende Situationen von damals stets neu aufleben. Darin sehen sich Betroffene in einer Situation, die sie damals sehr belastet hat. Die Bilder sind vom Gefühl der damaligen Hilflosigkeit, der Angst oder der Überforderung geprägt.

Ein zentrales Merkmal von pflegenden Kindern ist aber auch, dass sie nicht über ihre Pflegeerfahrungen reden. Dies ziehe sich bis ins Erwachsensein durch. Sie verdrängen offenbar ihre Erlebnisse aus Angst vor schlecht kontrollierbaren negativen Gefühlen. Bei vielen ist die Belastung aus der damaligen Zeit beträchtlich groß und ein Teil der ehemaligen pflegenden Kinder nimmt deshalb eine Form von Psychotherapie in Anspruch. Viele Betroffene haben in der Kindheit auch gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse wenig zu beachten, weil alles auf die Krankheit konzentriert war. Ein beträchtlicher Teil ehemaliger pflegender Kinder kehren oft über berufliche Umwege wieder in die helfende Rolle (z.B. Pflegeberufe) zurück, weil sie es kennen, darin Sinn finden oder manchmal etwas wieder gut machen wollen. Viele streben ein "ganz normales Leben" an, weil sie in ihrer Kindheit oft keine Normalität erfahren haben.

Unterstützungsbedarf für pflegende Kinder aus der Sicht ehemaliger pflegender Kinder
Viele ehemalige pflegende Kinder konnten eine Reihe von Bereichen benennen, in denen sie sich als Kinder oder Jugendliche Unterstützung gewünscht hätten: vor allem betrifft dies ein besseres Wissen über die Erkrankung und deren Symptome, die praktische Unterstützung im pflegerischen Alltag, insbesondere bezogen auf körperlich anstrengende und ekelerregende Tätigkeiten. Viele wünschten sich aus heutiger Sicht, ein Maß an Beratung bezüglich der Organisation des Pflegealltags. Viele hätten auch eine Anlaufstelle für pflegerische Notfälle benötigt und später auch einen Ort, an dem ihnen in besonderen Situationen wie Tod oder Trauer geholfen wird. Jemanden von außerhalb in die Familie hinein zu lassen, um Hilfe zu erfahren, war für viele undenkbar. Von der Möglichkeit, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu können, wussten die meisten Betroffenen nicht.

Ziele und Empfehlungen zur Unterstützung pflegender Kinder und Jugendlicher
Am Schluss des 165 Seiten umfassenden Berichts wird noch ein Bündel an möglichen Maßnahmen vorgeschlagen, die zur Unterstützung pflegender Kinder und Jugendlicher beitragen könnten. Angesichts der Forschungsergebnisse, der Aufarbeitung relevanter Literatur und angesichts dessen, dass pflegende Kinder in Österreich eine bisher noch kaum wahrgenommene Gruppe sind, wurden u.a. folgende Empfehlungen ausgesprochen: eine verstärkte Bewusstseinsbildung der Bevölkerung, einschließlich der betroffenen Kinder und das Vermeiden von Stigmatisierung kindlicher Pflegedurch mediale Aufklärungs- und Informationskampagnen; das Recht auf Identifizierung betroffener pflegender Kinder in ihrer unmittelbaren Umgebung durch lebensweltnahe Kontaktpersonen an Schulen oder durch Gesundheitsprofessionen; eine kindgerechte Aufklärung und Information über die Krankheit, um Ängste und Unsicherheit zu nehmen; eine pflegerische Unterstützung im Alltag durch aufsuchende, niederschwellige Hilfsangebote (Case Management oder Family Health Nurse) sowie durch eine Anlaufstelle für Notfälle; die Entwicklung und der Aufbau von kinder- und familienorientierten Hilfsprogrammen, eine regelmäßige Berichterstattung zur Situation pflegender Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener und begleitende Forschungen.

 

 

 

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