Deutlich höhere Zahl an Betroffenen als bisher angenommen
Wien (pk) - Ein aktueller Bericht des Sozialministeriums beleuchtet erstmals umfassend die Situation von
Kindern und Jugendlichen, die sich regelmäßig um chronisch kranke Familienmitglieder kümmern. Ein
auch für die Autoren des Berichts überraschendes Ergebnis war, dass österreichweit von etwa 42.700
Betroffenen ausgegangen werden muss; eine deutliche höhere Zahl als bisherige Berechnungen vermuten ließen.
Pflegende Kinder sind ein globales Phänomen, deren Lage in Österreich bisher noch wenig Aufmerksamkeit
geschenkt wurde, heißt es einleitend in der dem Bericht zu Grunde liegenden Studie des Instituts für
Pflegewissenschaft der Universität Wien. Im ersten Teil wurde nicht nur die Anzahl gegenwärtig pflegender
Kinder und Jugendlicher – sogenannte "Young Carers" - erhoben, sondern auch die Art und der Umfang ihrer
Pflegetätigkeiten sowie die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen für sich selbst und für
die Familie. Für den zweiten – qualitativen - Studienteil wurden ehemalige pflegende Kinder interviewt, um
zu ergründen, welche Auswirkungen eine frühe als Kind oder Jugendlicher erlebte Pflegeerfahrung auf das
private und berufliche Leben hat. Außerdem wollten die Wissenschaftler in Erfahrung bringen, was ehemalige
pflegende Kinder in der damaligen Situation als Unterstützung gebraucht hätten.
Anteil an pflegenden Kindern und Jugendlichen bei 3,5 %
Der hochgerechnete Anteil an pflegenden Kindern im Alter von 5 bis 18 Jahren in Österreich beträgt 3,5
%, lautet das Resümee der Wissenschaftler. Es wird davon ausgegangen, dass der Anteil pflegender Kinder linear
mit dem Alter zunimmt, wobei es in der Gruppe der 10- bis 14-Jährigen einen stärkeren Anstieg gibt als
in den übrigen Altersstufen. Geht man davon aus, dass der Anteil an pflegenden Kindern nicht nur auf die beiden
in der Studie umfassten Bundesländer Wien und Niederösterreich, sondern auf alle Bundesländer zutrifft,
entspricht dies einer Zahl von etwa 42.700 pflegenden Kindern in Österreich. Damit ist die Anzahl pflegender
Kinder in Österreich deutlich höher als bisherige Berechnungen vermuten ließen. Dies liege aber
nicht an der speziellen Situation in Österreich, sondern an der gewählten Methode, die in dieser Form
noch nie angewendet wurde, erläutern die Autoren. Die Ergebnisse machen aber nochmals deutlich, dass international
ausgewiesene Zahlen über pflegende Kinder unterbewertet sind.
Zur Situation gegenwärtig pflegender Kinder und Jugendlicher
Wenn man sich die aktuelle Situation genauer anschaut, dann beträgt das durchschnittliche Alter der pflegenden
Kinder, die zu 69,8 % weiblich sind, ca. 12,5 Jahre. Sie haben im Schnitt etwas mehr Geschwister als nicht pflegende
Kinder. Die Anzahl der erwachsenen Personen im Haushalt zeigt keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die
Entstehung kindlicher Pflege. 11,3% der pflegenden Kinder leben mit einem Elternteil im Haushalt im Vergleich zu
12,5% der nicht pflegenden Kinder. Auch die Migration hat keinen signifikanten Einfluss auf kindliche Pflege, heißt
es in der Studie. Rund 30% der Eltern von pflegenden und nicht pflegenden Kindern sind im Ausland geboren. Was
den Faktor Wohlstand angeht, der anhand von vier Merkmalen (Urlaub, Auto, Taschengeld, eigenes Zimmer) ermittelt
wurde, so ist auch daraus kein signifikanter Einfluss auf die Entstehung kindlicher Pflege abzuleiten. Allerdings
schätzen sich pflegende Kinder selbst tendenziell etwas ärmer ein.
Pflegende Kinder leisten in den verschiedensten Lebensbereichen Unterstützungsarbeit. Je nachdem wo ihre Hilfe
gebraucht wird, helfen sie im Haushalt, den gesunden Geschwistern oder in der direkten Pflege für die erkrankte
Person. 23% der pflegenden Kinder helfen in allen drei genannten Bereichen überdurchschnittlich viel. 14%
der pflegenden Kinder geben an, fünf oder mehr Stunden pro Tag unterstützend tätig zu sein. Dies
macht deutlich, wie viel Verantwortung diese Kinder in ihrem Alltag übernehmen. 81% der Kinder geben an, der
Mutter "eher viel" bis "viel" zu helfen, wenn zu Hause jemand krank ist. 63% helfen den Geschwistern
und 60% helfen dem Vater. Hilfen von außen, zum Beispiel durch Freunde oder eine Pflegeperson, geben die
Kinder nur selten an.
Die meisten Betroffenen wachsen mit der Erkrankung eines Angehörigen vom Kleinkindalter an auf. Bei manchen
setzten die ersten Erinnerungen an das kranke Familienmitglied und die Beteiligung an dessen Pflege bereits ab
dem dritten Lebensjahr ein. Sie waren daher sehr lange in die Pflege involviert und beschrieben die Pflege als
Normalität. Andere kannten das Familienmitglied nur erkrankt und übernahmen pflegerische Aufgaben erst
zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Bedürftigkeit zunahm. Die Pflege des Angehörigen endete zumeist
nicht mit dem 18. Lebensjahr und ging auch sehr oft mit dem Zeitpunkt des Todes des kranken Familienmitglieds zu
Ende.
Wir wirkt sich (früh)kindliche Pflege im Erwachsenenalter aus?
Das Vorhandensein kindlicher Pflegeerfahrung lasse nicht den Schluss zu, dass alle Betroffenen schwer belastet
sind oder dieselben Auswirkungen erleben, heben die Autoren hervor. Diese stehen, wie bereits erwähnt, im
engen Zusammenhang mit den sehr unterschiedlich erlebten Pflegeerfahrungen in der Kindheit. Allerdings gibt es
kein ehemaliges pflegendes Kind, welches keine Auswirkungen auf das Erwachsenenalter beschreibt. Auswirkungen zeigen
sich in psychischer, körperlicher oder sozialer Hinsicht. Dies reiche von Schuldgefühlen, Verlustängsten,
übersteigertem Kontrollbewusstsein oder einem starken Bedürfnis nach Ordnung. Einige haben nie ein "normales"
kindliches Leben kennen gelernt oder hatten keine Idee davon, wie andere Familien ihr Leben gestalten. Betroffene
gehen im Erwachsenenalter auf unterschiedliche Arten mit der erlebten Pflegeerfahrung um. Womit aber alle zu kämpfen
haben, sind immer wiederkehrende "innere Bilder", mit denen besonders prägende Situationen von damals
stets neu aufleben. Darin sehen sich Betroffene in einer Situation, die sie damals sehr belastet hat. Die Bilder
sind vom Gefühl der damaligen Hilflosigkeit, der Angst oder der Überforderung geprägt.
Ein zentrales Merkmal von pflegenden Kindern ist aber auch, dass sie nicht über ihre Pflegeerfahrungen reden.
Dies ziehe sich bis ins Erwachsensein durch. Sie verdrängen offenbar ihre Erlebnisse aus Angst vor schlecht
kontrollierbaren negativen Gefühlen. Bei vielen ist die Belastung aus der damaligen Zeit beträchtlich
groß und ein Teil der ehemaligen pflegenden Kinder nimmt deshalb eine Form von Psychotherapie in Anspruch.
Viele Betroffene haben in der Kindheit auch gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse wenig zu beachten, weil alles
auf die Krankheit konzentriert war. Ein beträchtlicher Teil ehemaliger pflegender Kinder kehren oft über
berufliche Umwege wieder in die helfende Rolle (z.B. Pflegeberufe) zurück, weil sie es kennen, darin Sinn
finden oder manchmal etwas wieder gut machen wollen. Viele streben ein "ganz normales Leben" an, weil
sie in ihrer Kindheit oft keine Normalität erfahren haben.
Unterstützungsbedarf für pflegende Kinder aus der Sicht ehemaliger pflegender Kinder
Viele ehemalige pflegende Kinder konnten eine Reihe von Bereichen benennen, in denen sie sich als Kinder oder Jugendliche
Unterstützung gewünscht hätten: vor allem betrifft dies ein besseres Wissen über die Erkrankung
und deren Symptome, die praktische Unterstützung im pflegerischen Alltag, insbesondere bezogen auf körperlich
anstrengende und ekelerregende Tätigkeiten. Viele wünschten sich aus heutiger Sicht, ein Maß an
Beratung bezüglich der Organisation des Pflegealltags. Viele hätten auch eine Anlaufstelle für pflegerische
Notfälle benötigt und später auch einen Ort, an dem ihnen in besonderen Situationen wie Tod oder
Trauer geholfen wird. Jemanden von außerhalb in die Familie hinein zu lassen, um Hilfe zu erfahren, war für
viele undenkbar. Von der Möglichkeit, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu können, wussten die
meisten Betroffenen nicht.
Ziele und Empfehlungen zur Unterstützung pflegender Kinder und Jugendlicher
Am Schluss des 165 Seiten umfassenden Berichts wird noch ein Bündel an möglichen Maßnahmen vorgeschlagen,
die zur Unterstützung pflegender Kinder und Jugendlicher beitragen könnten. Angesichts der Forschungsergebnisse,
der Aufarbeitung relevanter Literatur und angesichts dessen, dass pflegende Kinder in Österreich eine bisher
noch kaum wahrgenommene Gruppe sind, wurden u.a. folgende Empfehlungen ausgesprochen: eine verstärkte Bewusstseinsbildung
der Bevölkerung, einschließlich der betroffenen Kinder und das Vermeiden von Stigmatisierung kindlicher
Pflegedurch mediale Aufklärungs- und Informationskampagnen; das Recht auf Identifizierung betroffener pflegender
Kinder in ihrer unmittelbaren Umgebung durch lebensweltnahe Kontaktpersonen an Schulen oder durch Gesundheitsprofessionen;
eine kindgerechte Aufklärung und Information über die Krankheit, um Ängste und Unsicherheit zu nehmen;
eine pflegerische Unterstützung im Alltag durch aufsuchende, niederschwellige Hilfsangebote (Case Management
oder Family Health Nurse) sowie durch eine Anlaufstelle für Notfälle; die Entwicklung und der Aufbau
von kinder- und familienorientierten Hilfsprogrammen, eine regelmäßige Berichterstattung zur Situation
pflegender Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener und begleitende Forschungen.
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