Wien (rk) - Nach dem 2. Weltkrieg stellten allein in Wien mehr als 80.000 Personen einen
Antrag auf Hilfe und finanzielle Entschädigung als Opfer des NS-Regimes und des Holocaust. Die Grundlage dafür
bildet das Opferfürsorgegesetz, das 1947 verabschiedet wurde und Personen betrifft, die infolge ihres Kampfes
um ein freies demokratisches Österreich oder wegen politischer Verfolgung eine bleibende, schwere Gesundheitsschädigung
erlitten haben sowie deren Hinterbliebene. Die Unterlagen wurden bisher bei der zuständigen Magistratsabteilung
40 (MA 40) aufbewahrt. Nun hat das Wiener Stadt-und Landesarchiv die circa 300 Laufmeter an Akten von der MA 40
übernommen und stellt sie ab sofort der Forschung zur Verfügung.
"Die Erhaltung der Akten der Opferfürsorge ist ein wichtiger Beitrag Wiens zur Erinnerungskultur",
unterstrich Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny die Bedeutung dieser einzigartigen Zeitdokumente. "Sie
dokumentieren einerseits die Geschichte der Opfer des NS-Regimes und sind andererseits ein Beleg dafür, dass
die Republik die Betroffenen nach 1945 keineswegs ignorierte, sondern sich um jedes einzelne Schicksal annahm.
Der Stadt Wien ist es ein Anliegen, der Wissenschaft diese zeitgeschichtliche Quelle zur Verfügung zu stellen
und damit Forschung zu ermöglichen", unterstrich Mailath.
"Um sich zu erinnern, bedarf es des Wissens. Für die kollektive Erinnerung wiederum bedarf es der Gedächtnisspeicher,
die das Erinnern ermöglichen, Vergangenes erhalten und für Fragen, die immer wieder neu gestellt werden,
offen stehen. Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen heißt auch, der Gefahr von falschen Erinnerungen
vorzubeugen", betonte die Direktorin des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Brigitte Rigele.
Zum Inhalt der Akten
Die Akten beinhalten neben den Anträgen auch zahlreiche persönliche Dokumente der Opfer, wie etwa
Briefe aus dem KZ oder Ausweise. Handschriftliche Zeugenaussagen bieten einen authentischen Einblick in die Geschehnisse
während des NS-Regimes und fördern auch viele bisher unbekannte Begebenheiten aus der Nachkriegszeit
zu tage. Unter anderem sind anhand des Aktenmaterials die Geschichte des Opferfürsorgegesetzes, die sich wandelnden
Definitionen der Opfergruppen sowie der differenzierte Umgang mit den Opfern, die von der Stadt Entschädigungen
und Renten erhielten und erhalten, nachvollziehbar.
Eine umfangreiche und kritische Bearbeitung dieser Quellen fand bereits 2004 durch die Österreichische Historikerkommission
statt. Siehe dazu: Karin Berger, Nikolaus Dimmel, David Forster, Claudia Spring und Heinrich Berger: Vollzugspraxis
des "Opferfürsorgegesetzes". Analyse der praktischen Vollziehung des einschlägigen Sozialrechts
(Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 29/2, Wien-München 2004). Für
die Untersuchung wurde allerdings nur eine kleine Auswahl angesehen. Viele Aspekte und Schicksale bleiben noch
zu erforschen.
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