Innsbrucker Ionenphysiker enträtseln chemische Austauschreaktionen
Innsbruck (universität) - Wer die Kräfte hinter alltäglichen Prozessen der Organischen Chemie,
wie bei der Produktion von Kunststoffen und Medikamenten, aber auch bei der Entstehung von Ruß verstehen
will, stößt mitunter auf Unerwartetes. Seine jüngste Entdeckung bezeichnet der Innsbrucker Physiker
Prof. Roland Wester als „große Überraschung. Bei bestimmten, hochenergetischen, chemischen Austauschreaktionen
ziehen Moleküle quasi im Sturzflug die Bremse. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass chemische Reaktionen
zwischen geladenen Teilchen (Ionen) und Molekülen komplexer ablaufen, als bisher angenommen.“ Das renommierte
Journal of the American Chemical Society widmet dieser Entdeckung das Titelblatt seiner neuesten Ausgabe.
Bei chemischen Austauschreaktionen reagieren Ionen und Moleküle. Eine molekulare Gruppe wird dabei durch eine
andere ersetzt. Auf diesem Weg entstehen komplexe, organische Moleküle. Diese so genannten „nukleophilen Substitutionsreaktionen“
sind daher eine der wichtigsten Reaktionsklassen in der Organischen Chemie. Was auf der Ebene der einzelnen Teilchen
und Moleküle dabei wirklich im Detail passiert, ist zwar seit Langem Gegenstand intensiver Forschung, kann
aber erst seit wenigen Jahren im Detail beobachtet werden.
Die Arbeitsgruppe um Jochen Mikosch, nun am National Research Council in Ottawa, Kanada, und Roland Wester ließ
in einer eigens entwickelten Apparatur im Vakuum negativ geladene Fluor-Teilchen (F-) mit Jodmethan-Molekülen
(CH3I) kollidieren. Bei dieser Reaktion entstanden zwar – wie in vielen Chemie-Lehrbüchern als Paradebeispiel
angeführt – wegen des Austausches der Jod-Bindung durch eine Fluor-Bindung ein Fluormethan-Molekül und
ein negativ geladenes Jod-Teilchen. Entgegen der Lehrbuch-Vorstellung läuft diese Austauschreaktion allerdings
nicht wie eine einfache Stoßreaktion ab.
Forschung im Grenzgebiet zwischen Chemie und Physik
„Bei dieser Reaktion wird sehr viel Energie frei. Sie läuft aber trotzdem wie mit angezogener Handbremse
ab. Dass ein herabstürzendes Molekül, wie in diesem Fall das erzeugte Fluormethan nicht schneller wird,
hat uns daher aufs Erste sehr überrascht. Ein Grund dafür sind die Kräfteverhältnisse im Ausgangsmolekül.
Hier möchte das Fluor-Ion (F-) sich zunächst rasch an das nächstgelegene Wasserstoff-Atom anbinden,
bevor es das Produkt Fluormethan bildet. Dies versetzt das Produktmolekül so stark in Schwingung und Drehung,
dass die freiwerdende Energie zum Großteil steckenbleibt“, erklärt der Physiker.
Nach dem jüngsten Ergebnis des internationalen Forschungsteams wirkt bei chemischen Austauschreaktionen eine
vielfältige Dynamik. Die eigentliche Stoßreaktion zwischen Ion und Molekül ist dabei laut Wester
nur ein Faktor. Ausschlaggebend für das Reaktionsergebnis sind auch die Kräfteverhältnisse im Ausgangs-Komplex
und deren Anordnung. Parallel zu den Laborexperimenten wurde in Zusammenarbeit mit Forschern um William Hase aus
den USA diese chemische Austauschreaktion in aufwendigen Rechnungen im Computer simuliert. Dabei wurden nahezu
deckungsgleiche Ergebnisse gefunden. „Die eigens entwickelten Computerprogramme und die Laborexperimente ermöglichen
uns nun erstmals im Grenzgebiet zwischen Chemie und Physik auch kompliziertere Reaktionen in der Organischen Chemie
besser zu verstehen“, sagt Wester. Beispiele dafür sind Verbrennungsprozesse, die Katalyse von Molekülen
an Oberflächen oder von Biomolekülen in Lösung.
Gefördert wurden diese Forschungen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Europäischen Kommission.
Wester wurde für seine Arbeiten im Feld der Ionen-Molekül-Reaktionen 2009 mit dem Gustav-Hertz-Preis
ausgezeichnet. Der Physiker forscht und lehrt seit Oktober 2010 als Professor am Institut für Ionenphysik
und Angewandte Physik der Universität Innsbruck und ist seit dem Vorjahr Vorstand des Institutes.
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